Ich war zufällig in Zwickau, Anfang November 2011, ein paar Tage, nachdem die beiden Uwes sich in Eisenach in einem Wohnmobil erschossen hatten und Beate Zschäpe daraufhin die gemeinsame Wohnung in Brand steckte, die wohl eher aus Versehen explodierte. Eine Verpuffung ließ die Inneneinrichtung des Hauses, Fetzen von Teppichboden, angeschmolzene Waffen, Ziegelsteine, Klamotten, Rechner auf die Straße, die schöne Frühlingsstraße regnen. Der „Nationalsozialistische Untergrund”. Zehn Morde, drei Bombenanschläge, 15 Banküberfälle. Terroristen lebten in meiner Heimatstadt. Gleich gegenüber von meinem Lieblingsbäcker.
Ich fuhr an einem verregneten Sonntagabend auf dem Weg zu meinen Eltern einen kleinen Umweg, um mir das Haus, oder die Reste davon, anzuschauen, so, wie man sich die Schäden eines Erdbebens anschaut. Etwas Großes und Schreckliches war in dieser Stadt passiert, die mir ein wenig fremd geworden war. Nach dem Abitur bin ich weggezogen. Nach Jena. Ich zog in das Plattenbaugebiet Winzerla. Dort, wo das spätere NSU-Trio in den 90er-Jahren „Zecken” jagte. Danach lebte ich in Chemnitz. Nicht weit von der ersten Wohnung, in der sich das nun bald „Nationalsozialistischer Untergrund” nennende Trio vor der Polizei versteckte.
In Zwickau war ich eine Weile lang praktisch Nachbar der rechtsextremen Terroristen gewesen, sie lebten in der Parallelstraße. Mein Hinterhof sah genauso aus wie der, in dem Beate Zschäpe die Wäsche aufhängte. Wir kauften an der gleichen Aral-Tankstelle Kippen. Wie seltsam. Das alles wusste ich noch nicht, als ich Anfang November 2011 in die Frühlingsstraße fuhr, um mir die Trümmer des letzten Unterschlupfs des NSU anzuschauen. Ein paar Polizisten bewachten die Ruine. Ein paar Tage vorher hatte jemand eine Kerze dort hinterlassen, berichteten Anwohner. Jemand gedachte der Täter und nahm das Risiko in Kauf, dabei gesehen zu werden – die Kerze, die ich nie gesehen hatte, machte auf mich einen größeren Eindruck als die Ruine vor meinen Augen.
Ich sah durch die mit Regentropfen gepunktete Windschutzscheibe auf die Trümmer, aus denen noch Rauch aufzusteigen schien, in dünnen Säulen. Nur die Äste einer beinah kahlköpfigen Kastanie griffen theatralisch in den Stein-und-potenzielle-Beweise-Haufen, wieder und wieder. Dort hatten die beiden Uwes vor Kurzem noch Kastanien gesammelt. Ihre eigene Überwachungskamera hatte sie dabei gefilmt, wie Chip und Chap hüpften sie über die Wiese. Auch das wusste ich damals noch nicht. Aber eins war klar. Die Zwickauer Terrorzelle war in allen Medien. Die ersten Bücher über sie bereits beauftragt. Es gab weitere Festnahmen. Diese Stadt würde nie wieder dieselbe sein, dachte ich damals. Nichts würde mehr so sein wie vorher.
Viele Mitwisser und Mittäter sind noch immer unter uns
Das ist natürlich ein dummer Spruch. Nie ist irgendetwas wie vorher. Wir leben ja permanent im Danach. Und acht Jahre, nachdem sich die „Zwickauer Terrorzelle” selbst enttarnt hat, leben wir im Danach-Danach. So fühlt sich das an für mich, wenn ich heute in Zwickau bin. Die Beweise sind geborgen. Die Trümmer sind weg. Aber die Verbrechen sind noch immer nicht aufgeklärt. Viele Mitwisser und Mittäter noch immer unter uns. Noch immer erinnert nichts an die Opfer. Und, darum geht es in diesem Text, die rechtsextreme Szene in Zwickau und Sachsen ist seit 2011 größer geworden.
Im Jahr 2011 schätzte das Landesamt für Verfassungsschutz, dass etwa 2.600 Rechtsextreme in Sachsen leben. Die jüngste Schätzung des Amtes geht von 2.700 Rechtsextremen aus. Das sind 100 mehr als zum Zeitpunkt der Enttarnung des NSU. Aber die Zahlen allein sagen nicht viel aus. Sind das viele oder wenige? Manches Viertligaspiel hat mehr Zuschauer.
Die Szene ist aber nicht nur größer geworden, sondern auch besser organisiert und gesellschaftlich dominanter. Das lässt sich vielleicht am besten am Beispiel André Eminger erzählen. Der 38 Jahre alte arbeitslose Maurer gilt als der engste Unterstützer des NSU. Nachdem Beate Zschäpe das Haus in der Frühlingsstraße in Brand gesteckt hatte, rief sie zuerst ihn an.
Bereits 1998 lernte er das Trio kennen, mietete ihnen eine Wohnung in Chemnitz und später in Zwickau. Er mietete auch Wohnmobile für sie an, mit denen sie zu Banküberfällen fuhren und zu einem Bombenattentat nach Köln, er besorgt ihnen Bahncards und Ausweise, seine Ehefrau ist die beste Freundin von Zschäpe, sie gingen zusammen aus und shoppen und die Kinder waren auch oft dabei.
Gleichzeitig war Eminger spätestens 1999 das erste Mal auf dem Schirm der deutschen Nachrichtendienste, wie auch später immer wieder, unter anderem, weil er die Weiße Bruderschaft Erzgebirge gründete, eine Gruppe von militanten Rassisten. André Eminger wird Beihilfe zum versuchten Mord, zur gefährlichen Körperverletzung, zum Raub und zum Herbeiführen einer schweren Sprengstoffexplosion vorgeworfen sowie Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Seit dem Jahr 2013 ist er deshalb vor dem Oberlandesgericht in München angeklagt, gemeinsam mit Beate Zschäpe. Seitdem ist er praktisch hauptberuflich Neonazi. Er bekommt Arbeitslosengeld und nutzt die Zeit zum Netzwerken sowie die Aufmerksamkeit, die er durch den Prozess bekommt, für Symbolpolitik.
Im November 2011 dachte ich, es würde schwerer werden für die Neonazis in Zwickau. Und wahrscheinlich dachten die erstmal das gleiche. Die NPD verschwand vollends von der Bildfläche. Die Freien Nationalisten zogen sich teilweise bis nach Bayern zurück. „Die Szene hält die Füße still”, erklärte mir damals ein Mitarbeiter des Staatsschutzes.
Hundert Neonazis, ein Gegendemonstrant
Heute sieht es ganz anders aus. Im September 2017 marschierten rund 100 Teilnehmer bei einer Demonstration der Neonazi-Partei III. Weg durch das Plattenbaugebiet Zwickau-Neuplanitz. Die „Platten” hier sind ein bisschen älter als die in Jena-Winzerla. Ansonsten sieht fast alles gleich aus. Sie skandierten „Unsere Heimat, unser Land, Nationaler Widerstand” und „Asylflut stoppen”.
Ein einziger Gegendemonstrant stand am Straßenrand. Das war Martin Böttger. Er ist Rentner, Bürgerrechtler schon seit DDR-Zeiten, und bei jeder Aktion gegen Nazis dabei. „So etwas Martialisches habe ich noch nicht gesehen”, sagt er. Die Demonstranten trugen teilweise einheitliche dunkelgrüne Kleidung, marschierten im Gleichschritt zum Marsch der Trommeln. Mittendrin: André Eminger.
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Der III. Weg hat sich im September 2013 gegründet und ist Sammelbecken einer relativ kleinen, aber sehr aktiven Gruppe von radikalen völkischen Nationalisten. Ihre Mitglieder verstehen sich als „bewusste neonazistische Elite, die nicht auf Wachstum aus ist“, beschreibt der Verfassungsschutz Brandenburg, der die Mehrheit der Mitglieder zudem als „höchst gewaltbereit einstuft”. André Emingers Zwillingsbruder ist Führungskader der Neonazi-Partei in Brandenburg.
André Eminger hat sich auch mehrfach mit Karl-Heinz Statzberger, einem der führenden Köpfe des III. Weges in München getroffen, am Rande des NSU-Prozesses und bei einer Demo des Münchner Pegida-Ablegers. Statzberger ist ein verurteilter Rechtsterrorist, er saß vier Jahre im Gefängnis, weil er einen Bombenanschlag auf die Synagoge in München geplant hatte.
Eminger inszeniert sich als Märtyrer
Es könnte natürlich sein, dass er Statzberger nur getroffen hat, um unter Kameraden ein paar Tipps auszutauschen, wie man die Zeit im Gefängnis am besten rumkriegt. Eminger engagiert sich, wie sein Zwillingsbruder Maik und wie auch die beiden Uwes früher, in der rechtsextremen „Gefangenenhilfe”, eine Art Seelsorge für inhaftierte Neonazis, die nicht vom Glauben abfallen sollen.
Für die Gefangenenhilfe hat Eminger öffentlichkeitswirksam Werbung gemacht, beim NSU-Prozess in München grinste er in die Kamera, während er ein Hemd mit der Aufschrift „Brüder schweigen – bis in den Tod“ trug. Auch bei einem der größten Rechtsrockkonzerte der vergangenen Jahrzehnte, im Juli im thüringischen Themar, trug er ein Shirt der „Gefangenenhilfe.” Während der Veranstaltung wurden auch Spenden gesammelt für die Angeklagten im NSU-Prozess.
Das alles ist nicht illegal. Das alles ist aber auch kein Zufall. Es hat Methode. Am deutlichsten wird das vielleicht dadurch, dass Eminger neben dem NSU-Prozess noch ein weiteres Strafverfahren gegen sich laufen hat und regelrecht darum bettelte, auch in Zwickau vor Gericht zu stehen.
Im Jahr 2016 verprügelte Eminger an einem hübschen Maiabend hinter einem Parkhaus in Zwickau einen 18-Jährigen und drohte, ihn umzubringen. Der junge Mann hatte Emingers damals 14 Jahre alten Sohn geschubst. Ein Streit unter Teenagern. Papa rückte an, lockte den 18-Jährigen unter einem Vorwand hinters Parkhaus und drosch dann solange auf ihn ein, bis sein Sohn ihn bat, „es gut sein zu lassen”. Das Interessante daran ist, dass nie jemand davon erfahren hätte, wenn Eminger es nicht gewollt hätte.
Er bekam einen Strafbefehl. Per Post. Hätte rund 400 Euro überweisen müssen, und die Presse hätte nie etwas erfahren. Aber Eminger zahlte nicht. Deshalb kommt es ein Jahr später zur öffentlichen Gerichtsverhandlung vor dem Amtsgericht Zwickau. Da ist dann natürlich mehr Presse da, als der Saal Stühle hat (waren aber auch nur zwölf Stühle). Und André Eminger kommt zu seinem Prozess 40 Minuten zu früh. Er stellt sicher, dass auch wirklich jeder Journalist sein Bild bekommt: Eminger, grinsend, bei Spiegel Online et al.
Nicht mal die Oberbürgermeisterin kann auf Hilfe der Polizei hoffen
Beim Prozess selbst sagt er dann keinen Ton. Er hat keinen Anwalt dabei, bestreitet die Vorwürfe nicht. Am Ende bekommt er eine Geldstrafe, etwa 200 Euro mehr als ursprünglich im Strafbefehl. Was zu erwarten war. Was es Eminger offenbar wert war.
Was der Arbeitslose mit drei Kindern offenbar finanziell mühelos verschmerzen kann. Gegen das Urteil legt er Berufung ein. Wenn im NSU-Prozess voraussichtlich Anfang nächsten Jahres das Urteil gegen André Eminger gesprochen wird, wird das Gericht dann eines strafmildernd berücksichtigen müssen: Dieser Mann, der seit 20 Jahren einer der radikalsten Rassisten im Land ist, ist dann noch nicht rechtskräftig verurteilt. Er ist nicht vorbestraft. Weiße Weste.
Das alles erinnert mich an einen anderen Prozess gegen Rechtsextreme, der wenig später an gleicher Stelle startete. Angeklagt waren drei Männer, die seit gut zwei Jahren Lokalpolitiker und andere zivilgesellschaftlich engagierte Menschen der Stadt Zwickau terrorisieren, indem sie sie mit Kameras verfolgen, demütigen, verleumden, bedrohen und die Aufnahmen per Facebook und Youtube verbreiteten.
Nicht mal die Oberbürgermeisterin kann sich davor schützen. Im Moment läuft ein Prozess, weil die selbsternannten Journalisten ihre Enkelin filmten. Genau wie die Bürgermeister umliegender Städte musste die OB erfahren, was Linke schon lange wissen: Die Polizei hilft nicht. Die Chefs in den Rathäusern konnten noch nicht mal ihr Hausrecht durchsetzen.
Die Männer sind bis heute aktiv, sie gehören zu einem Netzwerk, das sich Kara Ben Nemsi TV nennt. Sie freuten sich über ihren Prozess, genauso wie kurz zuvor Eminger. Sie machten sogar Werbung damit bei Facebook:
Der von Funk und Fernsehen mit viel Interesse verfolgte Prozess gegen drei alternative Medienmacher, die behauptet haben sollen, Frau Genossin Pia Findeiß („Oberbürgermeisterin in Zwickau“) beherberge IS-Terroristen in ihrem Hause (wir berichteten) geht morgen in die zweite Runde. Mit Sicherheit werden auch morgen wieder hochinteressante Zeugendarsteller für ein buntes Unterhaltungsprogramm und tiefe Einblicke in die trübe Suppe hiesiger Kommunalpolitik bieten. An dieser Stelle auch ein Gruß an alle interessierten Zeitgenossen, die sich bereits Teil 1 der großen Show am vergangenen Mittwoch nicht nehmen ließen.
Wir wünschen auch diesmal viel Vergnügen!
Ort: Amtsgericht Zwickau, Sitzungssaal 2 (EG)
Zeit: 12.7.2017, 9.00 Uhr
Eintritt: frei
Auch das könnte Zufall sein. Auch das muss nicht direkt mit dem NSU zu tun haben. Aber es ist unwahrscheinlich. Einer der drei Angeklagten arbeitete in den 90er-Jahren in dem Zwickauer Neonazi-Laden, in dem auch Beate Zschäpe gejobbt haben soll. Und er kennt André Eminger selbst immerhin so gut, dass der dessen Handynummer gespeichert hat.
Ein weiterer Angeklagter marschierte mit André Eminger und dem III. Weg im September durch Zwickau-Neuplanitz, wie auch mindestens zwei weitere Unterstützer von Kara Ben Nemsi TV aus der Reichsbürgerszene, die außerdem wie Eminger beim Rechtsrockkonzert in Themar waren. Beim Prozess saßen sie im Publikum. Jeder kennt jeden hier. Gut für die Neonazis. Schlecht für die anderen. Zeugen zum Beispiel, die im Gerichtssaal eingeschüchtert wurden.
Und Eminger pflegt auch weiterhin Kontakte zu einem anderen prominenten Zwickauer Neonazi: zu Tony Gerber, der mittlerweile der führende Kopf der Identitären Bewegung Sachsens ist.
Aus klandestinen Kameradschaften ist eine straff organisierte Partei geworden
Seit 2013 sitzt Eminger in München auf der Anklagebank. Seitdem hat sich eine neue Neonazipartei gegründet, die auch in Zwickau aktiv ist. Was früher „Freie Kräfte” waren, so eine Art freiberufliche Neonazis, die sich in klandestinen Kameradschaften organisierten und häufig untereinander verstritten, marschiert heute als bundesweit vernetzte Partei mit einheitlichem Merchandise und Aktionstagen und Suppenküchen durch die Wohngebiete. Hinter der Parteigründung scheint vor allem ein Gedanke zu stecken: Wie die NPD-Prozesse gezeigt haben, ist eine Partei viel schwerer zu verbieten als eine Kameradschaft. Flohen vor sechs Jahren die Neonazis noch nach Bayern, geht die Wanderung heute in die andere Richtung: Spitzenkader des III. Wegs in Sachsen ist Tony Gentsch, ein Neonazi aus Bayern.
Während André Eminiger in München angeklagt ist, hat sich mit der Identitären Bewegung zudem eine neue Hipster-Neonazi-Gruppe etabliert, die sich medial perfekt inszeniert und ebenfalls europäisch vernetzt ist. Die Reichsbürgerszene ist größer geworden. Mit der AfD hat sich eine rechtspopulistische Partei in den Stadträten und Landtagen und nun auch im Bundestag etabliert, die munter im Austausch steht mit Rechtsextremen. Seit der Flüchtlingskrise haben sich zudem „asylkritische” Bewegungen wie Pegida überall in Deutschland gegründet, die von Rechtsextremen unterwandert sind, und dank der sozialen Medien sind sie so kampagnenfähig wie nie zuvor.
Seit dem 13. September 2017 sitzt André Eminger in Untersuchungshaft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er damit nicht gerechnet hat. Aber das spielt auch keine Rolle. Er hat seine Zeit bis dahin gut genutzt. Er hat sich selbst als Märtyrer inszeniert. Er ist der Typ, der sich „Die Jew Die” (Stirb, Jude, stirb) quer über den Bauch tätowiert hat, im bedeutendsten Prozess der Bundesrepublik angeklagt ist, sich trotzdem offen mit Antisemiten trifft und Teenager mitten in der Stadt verprügelt. Er macht der rechtsextremen Szene zwei Dinge klar: Dieser Staat kann uns gar nichts. Und unser Kampf geht weiter. Da das Ganze auf offener Bühne geschah und geschieht, ist der Adressat dieser beiden Botschaften aber nicht nur die rechtsextreme Szene. Sie kommt auch bei all denen an, die sich gegen Rassismus und Faschismus engagieren.
Der NSU musste in Zwickau nicht im Untergrund leben
Eine Vereinigung von Nebenklagevertretern des NSU-Prozesses und Opfern der Hinterbliebenen beschreibt die Atmosphäre in Zwickau so:
In Zwickau mordete der NSU nicht, hier war er zu Hause. Zwischen seinen Nachbarinnen bewegten sich das NSU-Kerntrio und dessen enge Freundinnen und Unterstützerinnen wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Die Stadt steht wie kaum ein anderer Ort in Deutschland für die fortdauernde Existenz nationalsozialistischer Lebenswelten und damit als Gegenentwurf zu der „Gesellschaft der Vielen”, die der NSU wegmorden und -bomben wollte. Die sächsische Stadt war und ist für die Naziszene eine umfassende Erlebniswelt alltäglicher Hegemonie, die von Demonstrationen, Veranstaltungen und Nazikonzerten über rechte Kampfsportevents und Bekleidungsgeschäfte bis zum lokalen Fußballverein reicht. Hier zeigten die Mitglieder des Kerntrios bedenkenlos ihre Gesinnung. Ihr vermeintliches Leben im Untergrund entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als gut integrierter Alltag in die Nachbarschaft.
Durch die Flüchtlingskrise hat der Rassismus der Neonazis eine gesellschaftliche Dimension und Aufgabe erhalten. Sie haben den Schulterschluss mit Partei und Massendemonstrationen geschafft.
Das zeigt sich unter anderem darin, dass Tony Gerber, der Freund von André Eminger und Aktivist der Identitären Bewegung, 2015 von der Zwickauer Oberbürgermeisterin im Rathaus empfangen wurde, gemeinsam mit dem Reichsbürger Lars H. Es sollte ein Dialog mit „besorgten Bürgern” sein, die gegen die Unterbringung von Asylbewerbern in der Stadt demonstrierten. Die Lokalzeitung verewigte das Treffen mit Foto auf der Titelseite. Gerber ist ebenfalls seit den 90er-Jahren als Neonazi bekannt, ist Kampfsportler, Türsteher und kandidierte bei Stadtratswahlen für die NPD. Ein Wissen, das die Rathausspitze und die Lokalpresse mitten im Pegida-Wahn fahrlässig ignorierte.
Bis heute, sagte Zwickaus OB Pia Findeiß kürzlich im Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtages, habe sie keinen Kontakt zum Landesamt für Verfassungsschutz. Auch von Gerber wisse sie weiter nichts. Zwickau habe „Probleme mit rechtsradikalen Erscheinungen wie jede andere Stadt in Sachsen, Ostdeutschland, Deutschland“ gehabt und habe diese immer noch. „Das nehmen wir ernst“, so Findeiß, aber hier hätten „alle noch viel zu tun“.
Die AfD fungiert als Bindeglied zwischen Fremdenhass der Massen und Rassismus der Neonazis
Es zeigt sich auch darin, dass die Zwickauer AfD mit Benjamin Przybylla nicht nur einen rechtsextremen Direktkandidaten für die Bundestagswahl aufgestellt hat, der ein aktives Mitglied von Kara Ben Nemsi TV ist, sondern mit Alexander Schwarz und Paul Morgenstern prominente ehemalige Neonazi-Musiker aus der rassistischen Blood&Honour-Szene als Mitglieder aufgenommen hat.
Ihre Bands hießen „White Resistance” und „Blitzkrieg” und spielten eine wichtige Rolle bei der Finanzierung der Szene sowie für die Rekrutierung von Mitgliedern. Schwarz ist bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2017 sogar Mitglied im Kreisvorstand der AfD Zwickau gewesen.
Es zeigt sich auch darin, dass Ralf „Manole” Marschner, eine zentrale Figur der Neonaziszene in Zwickau, der für den Bundesverfassungsschutz zehn Jahre lang als V-Mann aktiv war und in dieser Zeit sowohl Beate Zschäpe in seinem Klamottenladen als auch die beiden Uwes in seiner Baufirma beschäftigt haben soll, aber nach wie vor nicht vor Gericht oder in einem der Untersuchungsausschüsse aussagen muss. Marschner lebt weiter in der Schweiz, das Land Sachsen hat es noch nicht mal für nötig gehalten, einen Haftbefehl gegen Marschner zu vollstrecken, obwohl die Schweiz signalisierte, ihn ausliefern zu wollen.
Es zeigt sich auch darin, dass die antifaschistische Szene Zwickaus seit 2013 deutlich kleiner geworden ist. Bis heute gibt es kein Alternatives Jugendzentrum in Zwickau. Die Stadt weigert sich, ein Gebäude dafür bereitzustellen, auch aus Angst vor Angriffen durch Neonazis. Nun trifft sich der Teil der Szene, der noch nicht nach Leipzig oder Berlin abgewandert ist, in einem Gewerbegebiet abseits des Stadtzentrums. Es sind die Linken, die sich verstecken müssen, und ich meine damit noch nicht mal Punks.
CDU-Politiker: Zwickau hat kein Problem mit Neonazis
Es zeigt sich auch darin, dass CDU-Politiker bis heute Initiativen blockieren, die politische Bildung betreiben oder über die Taten des NSU und das aktive Wirken ihrer Unterstützer in Sachsen berichten wollen. Der Zwickauer CDU-Landtagsabgeordnete Gerald Otto zum Beispiel hat Fördermittelanträge solcher Initiativen nicht nur im Stadtrat abgelehnt, weil sie schlecht für den Ruf der Stadt wären.
Er selbst behindert auch aktiv die so wichtige Aufklärungsarbeit: Seit 2015 ist er Mitglied des NSU-Untersuchungsausschusses im sächsischen Landtag. Öffentlich hat er aber bisher noch kein einziges Mal über diese Arbeit berichtet. Anfragen, an Podiumsdiskussionen dazu teilzunehmen, lehnte er ab. Bis heute behauptet Gerald Otto, Zwickau habe kein Problem mit Neonazis. Und so hässlich das ist, in gewisser Weise hat er damit offenbar leider recht.
Angela Merkel hat den Opfern des NSU versprochen, dass die Taten und ihre Hintergründe restlos aufgeklärt werden. Aber nichts ist bis heute passiert in dieser Richtung. Politische Konsequenzen sind ausgeblieben. Auf das strukturelle Versagen von Polizei und Geheimdiensten wurde nicht reagiert, obwohl es von mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen festgestellt wurde. Zwickau bekam 2014 einen neuen Polizei-Chef, von dem ein sächsischer CDU-Bundestagsabgeordneter mir vertraulich sagte: „Der hat auf mich den Eindruck gemacht, als könnte er selbst bei Pegida mitlaufen.”
In André Emingers Wohnung in Zwickau steht eine Kohlezeichnung, die die beiden toten Uwes zeigt. Darüber steht in Sütterlin: „Unvergessen.” Dass er nicht nur Freund, sondern auch Unterstützer des NSU war, daran kann niemand ernsthaft zweifeln. Beweise, dass er von den Mordtaten wusste, ergaben sich in viereinhalb Jahren Prozess allerdings nicht. Prozessbeteiligte rechnen deshalb damit, dass Eminger mit sechs bis sieben Jahren Haft davonkommen könnte.
Fährt man heute durch die Frühlingsstraße in Zwickau, deutet nichts mehr daraufhin, dass der NSU hier gelebt hat. Wo das Haus der Terroristen stand, ist nun ein Park. Es ist buchstäblich Gras über die Sache gewachsen. „Ist es wirklich so schlimm?”, hat mich vor Kurzem eine Studentin gefragt. Ich hatte an der Humboldt-Uni in Berlin darüber berichtet, wie sich die rechtsextreme Szene in Sachsen verändert hat in den letzten sechs Jahren.
Immer, wenn mich das jemand fragt, mit großen Augen, manchmal auch ein bisschen ungläubig, wächst in mir das Bedürfnis, etwas Beruhigendes zu antworten. Zu sagen, na komm, soooo schlimm ist es nicht. Aber es ist so schlimm. Und ich beneide jeden darum, der sich diese Frage erlauben kann.
Beim Erarbeiten des Textes hat Theresa Bäuerlein geholfen; Vera Fröhlich hat gegengelesen; das Aufmacherbild hat Ralph Köhler gemacht. Es zeigt den Angeklagten André Eminger während des NSU-Prozesses in München. Die Bildauswahl hat Martin Gommel getroffen.