Als er die Fischhalle betritt, bemerkt Rogelio Otero Rey den intensiven, salzigen Geruch. Plastikkisten, mit Eis gefüllt, stapeln sich in den Auslagen und auf dem Boden. Darin Krebse, Tintenfische, Doraden, Makrelen, Gambas und anderes Getier aus dem Atlantik vor Galicien. Einige der braun-weiß gescheckten Kraken sind noch nicht tot und saugen sich fest, sobald man sie berührt. Erst seit kurzem fällt Rogelio ihr Geruch wieder auf, seit er wieder in Spanien ist. Vorher hat er 45 Jahre lang in Cuxhaven an der Nordsee als Gastarbeiter geschuftet. Der Fisch war sein Leben, der Geruch so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen.
Zu jedem Meerestier in der Fischhalle kann Rogelio heute in seinem gebrochenen Deutsch eine Geschichte erzählen. Kraken seien schwer zu töten, nach ihrem Tod müsse man sie auf Stein schlagen, damit sie für die Zubereitung zart bleiben, erklärt er. Für den Spanier, der als 13-Jähriger anfing, auf dem Fischkutter seines Vaters zu arbeiten, ist das ganz normal. Neben den Tintenfischen stehen große weiße Kisten, randvoll mit braunen Krebsen. Früher kamen die auf den Kompost, sagt er, heute gibt es Kunden dafür. Große, kleine, lange, helle und dunkle Muscheln reihen sich an Tintenfische, Gambas, See-Aale, Doraden und Makrelen.
Rogelio ging Anfang der 70er Jahre nach Deutschland, als die Fischindustrie im Norden ein Hoch erlebte und alle Unternehmen händeringend nach Arbeitern suchten. Sie brauchten Menschen, die bereit waren, wochenlang auf Fischtrawlern zu schuften oder sechs Tage in der Woche bis zu 15 Stunden am Tag Fisch zu häuten, zu filetieren oder Krabben zu pulen. Für 3,28 Mark pro Stunde. Ein Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Spanien im Jahr 1960 zog innerhalb von zwei Jahrzehnten 800.000 Spanier nach Deutschland, viele Fischerfamilien gingen an die norddeutsche Küste. Darunter auch Rogelio und seine Frau Carmen.
Vor knapp zwei Jahren kehrte das Paar wieder zurück nach Cambados. Alles war anders und doch gleich wieder vertraut: das Meer, der Fisch, die Stimmung – und eben der Geruch.
Rogelio liebt Cambados im Nordwesten Spaniens, aber Cuxhaven vermisst er auch. Wenn man zwei Drittel seines Lebens an einem anderen Ort verbringt, wird eben auch dieser zur Heimat. Die Kinder und Enkelkinder sind in Deutschland geblieben, Rogelio und Carmen sehen sie nur noch wenige Male im Jahr. An manchen Tagen fühlen sie sich zwischen den Welten zerrissen. Was macht es mit Familien, wenn die Mitglieder sich in ferne Länder verteilen, um in der globalisierten Welt Arbeit zu finden?
Der Weg von der Fischhalle zu Carmen und Rogelios Haus, gebaut vom Geld aus Deutschland, geht am nahen Ort Vilanova de Arousa vorbei, der Partnerstadt Cuxhavens. Auf der Rückbank seines schwarzen Audis liegt eine schwarze Fleece-Decke mit deutscher Bierwerbung. Das Display im Armaturenbrett zeigt 150.000 Kilometer an. Von 1971 bis 2015 war Sommerurlaub immer auch Heimaturlaub. Mit Ehefrau und meistens den Kindern ging es dann die 2.500 Kilometer in den Süden. Das Auto war brechend voll.
Wenn man heute in Cambados oder Vilanova de Arousa Deutsch spricht, schalten sich immer wieder Spanier erfreut ins Gespräch ein. Viele haben wie Rogelio jahrelang in Deutschland gelebt. Der Ort Cambados ist mit seinen 14.000 Einwohnern überschaubar, aber überraschend lebendig. Restaurants auf der einen und eine Kirche und ein Kloster aus dem 16. Jahrhundert zur anderen Seite umringen die Praza de Fefiñáns, den alten Marktplatz. In den Restaurants und Bars sitzen Familien, essen Tapas und probieren später im Wein-Geschäft im alten Kloster Albariño den Wein der Region. Langsam tuckert die burgunderrote Stadtbahn für Touristen vorbei. In Cuxhaven fährt ein ähnliches Gefährt herum, nur steigen dort keine jungen, schönen Menschen aus, sondern grummelige Alte und Familien, deren Gesichter man unter der Sonnencreme kaum noch erkennen kann.
Die Jugend in Spanien prägt die Willkür von „El Caudillo”
In Rogelios Jugend in den 50er und 60er Jahren stand hinter der Kirche von Cambados das Hauptquartier der Guardia Civil, der paramilitärischen Prügel-Einheit General Francos, der Spanien vier Jahrzehnte lang als Diktator beherrschte. Die Guardia sollte Präsenz und Stärke in ländlichen Gebieten zeigen. „Sie haben dir, wenn man dort vorbeiging, einfach auf die Fresse gehauen, deswegen ist die Guardia heute auch nicht beliebt”, erzählt Rogelio. Willkürliche Gewalt, wenig Arbeit und Hunger überschatten seine Erinnerungen an diese Zeit. Trotzdem wird „El Caudillo”, der „Führer”, immer noch von vielen Spaniern verehrt. Rogelio macht das wütend.
Es ist 21.30 Uhr, Rogelios Frau Carmen hat zu Hause Gambas, Tortilla und kleine gebratene Paprika vorbereitet. Früher isst man hier nicht zu Abend. Der deutsche Alltag, Abendbrot um 19 Uhr, ist vorbei.
Das Haus ist groß und grau. Groß, weil es für eine ganze Familie gedacht war, als es gebaut wurde. Jetzt ist es blitzsauber. Grau ist es, weil die Region bekannt für echten Granit ist und Rogelio gerade daran arbeitet, die Kunststoff-Verkleidungen gegen echte Granitplatten auszutauschen, die früher zu teuer waren.
In der Küche blitzen helle saubere Fliesen von den Wänden. Am Türrahmen zum Wohnzimmer sind mit Kreppband die Größen der Enkelkinder festgehalten. Alle sind auf den Juli und August der letzten zwei Jahre datiert. Im Wohnzimmer steht ein Modell der Kugelbake, dem Wahrzeichen Cuxhavens. Im Norden Deutschlands markiert das hölzerne, 30 Meter hohe Seezeichen das Ende der Elbe und den Anfang der Nordsee. In Rogelios und Carmens Wohnzimmer ist es von unzähligen Bilder der Kinder und Geburtsurkunden der Enkelkinder umgeben.
Zum Schuften in der Fischindustrie nach Deutschland
Auch aus Carmens Familie brachen viele Ende der 60er zu den Küsten Westeuropas auf, um für ein paar Jahre in der Fischindustrie zu schuften. Geld verdienen, ein Haus in Spanien bauen, Verwandte mitversorgen und zurückkommen: Das war der Plan. Eine Tante, die schon in Cuxhaven lebte, besorgte Carmen und zwei Freundinnen Arbeitsverträge. Im November 1969, nach bestandenem Gesundheits-Check, denn nur Gesunde durften als Gastarbeiter nach Deutschland, fuhren die Frauen in einer großen Gruppe vier Tage lang mit dem Zug in den Norden. „Wir waren alle zusammen in einem Waggon, standen am Fenster und haben angefangen zu singen“, erzählt Carmen heute, während sie ihre Küche aufräumt. Dann beginnt sie das Lied „El Emigrante” von Juanito Valderrama zu trällern.
Mach’s gut mein geliebtes Spanien
tief in meiner Seele
trage ich dich eingeschlossen.
Auch wenn ich Emigrant bin -
niemals in meinem Leben
könnte ich dich vergessen.
Das Lied fängt für sie genau das Gefühl der ersten Monate in Cuxhaven ein. Sie hatte Heimweh und kam mit der Arbeit nicht zurecht. „Ich hatte noch nie filetiert, am Anfang war es schwer”, sagt Carmen. Rogelio wirft ihr einen liebevollen Blick zu und stellt klar, niemand könne heute besser Schollen filetieren als sie.
Die beiden lernten sich schon in ihrer späten Jugend kennen, als die Jungs aus Cambados abends die Bucht überquerten, um in Carmens Heimatort O Grove auszugehen. Während Carmen in Deutschland Fische schnitt, absolvierte Rogelio seinen 18-monatigen Marinedienst in Spanien. Ein halbes Jahr später, im Sommer 1970, trafen sich Carmen und Rogelio, beide Anfang 20, in Cambados wieder. Und die Freude war groß. So groß sogar, dass im Mai des nächsten Jahres ihr erster Sohn zur Welt kam. Frisch verheiratet, begann auch Rogelio in Cuxhaven zu arbeiten.
Im Januar ’77 habe ich 389,5 Stunden gearbeitet
Rogelio
Das Kind ließen sie schweren Herzens in Galicien bei den Großeltern. 15 Stunden am Tag Fisch häuten, filetieren und Krabben pulen, sechs Tage die Woche – bei so viel Arbeit blieb keine Zeit für den Jungen. „Es war so schwer”, sagt Carmen heute, „aber wir wollten ja bald zurück.”
Das Haus in Cambados war in drei Jahren gebaut. Carmen bekam in Deutschland noch zwei Kinder, zwei Mädchen, die in den ersten Jahren unter der Woche in einer Pflegefamilie in der Nähe Cuxhavens lebten. Da sie es nicht anders kannten, beschwerten sie sich nie. Das Leben einer Gastarbeiter-Familie: der Sohn weit weg in Galicien und die Töchter nah dran, aber doch nicht da.
Wie nach all dieser Zeit legal Geld in Spanien verdienen?
Sein erstes Wort in Deutschland sei „Schaufel” gewesen, sagt Rogelio. Den Fischereihafen in Cuxhaven verließen die Gastarbeiter nur selten. Sie waren zum Arbeiten gekommen, nicht zum Leben. Mit ihren Familien wohnten sie in der ersten Etage der Halle IV im Fischereihafen, genau da also, wo sie tagsüber auch die Fische zerlegten. Abends in die Kneipe, tanzen oder an schönen Tagen an den Strand gehen, waren bei den Arbeitszeiten kaum drin.
Wenn sie es doch schafften, an Weihnachten, Ostern, Karneval, gingen sie in die spanischen und portugiesischen Kulturzentren im Hafen. Die Wochenenden und Feiertage verbrachten sie unter ihresgleichen. Carmen bereitete Essen zu, Empanadas, Fisch und Tortilla. Rogelio baute Spiele für die Kinder im Zentrum. Er ist stolz auf den Pokal für die besten Karnevalskulpturen, der jetzt das Regal seines Werkstatt-Containers ziert.
Mitte der 70er Jahre wuchs die spanische Wirtschaft schnell, Franco hatte sie liberalisiert. Als er starb, endete auch die Diktatur. Dreiviertel der emigrierten Spanier zog es bis Anfang der 80er Jahre zurück in die Heimat. In Deutschland arbeiten konnten sie danach nicht mehr, denn als dort die Arbeitslosigkeit anstieg, stoppten die Deutschen die Anwerbung. Neue Arbeitskräfte aus Spanien, Portugal, Italien oder der Türkei waren nicht mehr erwünscht.
Auch Carmen und Rogelio wollten eigentlich zurück in ihre Heimat. Aber wie sollten sie dort Geld verdienen? Es war klar, dass sie in Galicien verarmen würden, illegale Fischerei und Zigaretten-Schmuggel wären ihre einzigen Möglichkeiten gewesen, die Familie zu ernähren. Rogelio versuchte sich in den Sommerferien 1980 kurz am illegalen Fischfang.
„Der Schwertmuschel-Fang war zwar verboten, aber man konnte viel Geld damit verdienen. In einer Nacht waren wir also zum Muschelfang draußen, an der Backbordseite war Felsen und von Steuerbord kam ein Marineboot. Und was machten wir? Mit dem Beil haben wir die Seile abgeschnitten, sie durften die Netze nicht sehen. Auf einmal ‚Peng!‘ Ein Schuss. Der Besitzer des Boots sagte mir: Keine Angst, nur Warnschüsse. Aber wir lagen am Boden auf Deck. Wir sind dann volle Kraft voraus, und über uns flogen die Kugeln der Marine. Irgendwann sind sie abgedreht. Ich holte eine Zigarette aus der Kabine und ich sah Löcher im Blech. Sie haben den Kapitän um 70 Zentimeter verfehlt.”
Das war zu gefährlich, entschied das Ehepaar. Schweren Herzens beschloss die Familie, in Deutschland zu bleiben. Also holten sie ihren ältesten Sohn nach Cuxhaven und ihre zwei Töchter aus der Pflegefamilie. Rogelio arbeitete früh, Carmen spät. Das war im Jahr 1980. Bald bezogen sie eine eigene Wohnung, in der sie bis 2015 wohnen sollten.
„Die Kinder brauchten eine Heimat, also haben wir nicht mehr über eine Rückkehr gesprochen.”
Carmen
Für den Jungen war Cambados die Heimat und seine Großmutter die wichtigste Bezugsperson gewesen. Der radikale Wechsel fiel ihm schwer, erzählt seine Schwester Maria Dolores heute. Damit er schnell Deutsch lernte, beschlossen Rogelio und Carmen, die sonst sehr darauf achteten, in den eigenen vier Wänden Spanisch zu sprechen, ein Jahr lang nur Deutsch zu reden. Als der Junge es gelernt hatte, wechselten sie zurück ins Spanische.
Den Eltern gefiel es, dass die Kinder in Deutschland freier aufwachsen konnten als in der Heimat. Nicht alle Gastarbeiter waren darüber so glücklich: Andere, sagt Carmen, hätten versucht, ihre Kinder in engen Grenzen großzuziehen, mit dem katholischen Glauben und spanischer Tradition. In diesen Familien gab es oft Streit zwischen den Generationen, weil die Eltern strikte Ausgeh- und Beziehungsverbote erteilten und selbstverständlich erwarteten, dass die Kinder irgendwann mit ihnen zurück nach Spanien ziehen werden.
Rogelios und Carmens Kinder leben bis heute in Deutschland. Per Whatsapp, Facebook und Skype bleiben sie mit den Eltern in Kontakt. Der sei sogar enger geworden, seitdem die Eltern zurückgezogen sind, meint Maria Dolores. „Eine spanische Mutti bleibt eben eine spanische Mutti. Auch wenn ich 60 bin, werde ich noch ihr Kind sein.”
„Wir waren Gastarbeiter. Wir sind Spanier, aber unsere Kinder sind Deutsche.”
Carmen
Für Rogelio und Carmen stand immer fest, dass sie irgendwann zurück nach Spanien wollten, um endlich ihr hart verdientes Haus zu beziehen und die Rente zu genießen. Sie haben den Wechsel erstaunlich gut verkraftet. „Eigentlich sagt man, die ersten zwei Jahre sind schwer, aber nicht für uns. Rogelio ist viel unterwegs und ich liebe es, im Haus und im Garten zu sein. Viel besser als eine kleine Wohnung”, erzählt Carmen.
Rogelio trifft sich jeden Sonntag um 13 Uhr mit drei Freunden im Estadio 90, einer kleinen Bar am Ortsausgang von Cambados. Dann schimpfen die vier Spanier bei Oliven, Schinken und Weißwein über die Agenda 2010, die „ewige Kanzlerin” und das deutsche Fernsehprogramm. Ihre Lieblingssendungen sind „Wer wird Millionär” und „Terra X”.
Was sonst nach 45 Jahren Deutschland bleibt? „Deutschland ist unsere zweite Heimat. Und das Land unserer Kinder und unserer Ärzte”, sagt Rogelio. Das Paar hat nämlich weiterhin seine deutsche Krankenversicherung. In einigen Wochen fliegen sie wieder hin. „Kinder besuchen und Zahnarzttermin.”
Esther Göbel hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Theresa Bäuerlein hat gegengelesen; die Bilder hat Philipp Wohltmann gemacht.