“Die Sonnenallee macht alles einfacher”, sagt Faris, der über das Meer flüchten musste. Seine Reise brachte ihn über Umwege hierher, auf die “arabische Straße”. Immer öfter wird die Sonnenallee so genannt, denn die umliegenden Läden tragen meist die geschlängelten Schriftzüge der arabischen Sprache.
“Aus ganz Deutschland kommen meine Freunde hierher und freuen sich, dass etwas los ist. Manchmal kommen sie nur für einen Tag den ganzen Weg aus Hessen, um ein paar Stunden zu verbringen.” Für Faris und seine Freunde aus Syrien ist die Sonnenallee der Ort, an dem ihre Flucht ein Ende nahm. Sie kamen mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer und landeten hier mit nicht viel mehr als der Hoffnung, dem Krieg zu Hause zu entgehen.
Die Ankunft der Flüchtlinge hat die Sonnenallee im Stadtteil Neukölln zu einem Symbol gemacht. Wie kaum ein anderer Ort steht sie heute für die Zeit nach der großen Flucht 2015. In den Zeitungen ist sie als Frontlinie verschrien worden, und manche Politiker scheuen sich nicht, die Sonnenallee eine No-go-Area zu nennen. Hier fänden sich Judenhass und Frauenfeindlichkeit; Kriminalität und Bandenclans bestimmten den Alltag.
“Es ist so wichtig, auch mal andere Bilder zu zeigen.”
Faris Zakris
Doch hinter solchen Meinungen stehen weniger Fakten als das unbestimmte Gefühl einer Bedrohung. Würden mehr Menschen wagen, mit Faris zu reden anstatt über ihn, dann könnten sie ihn sagen hören: “Es ist so wichtig, auch mal andere Bilder zu zeigen.” Die Bilder der Ankunft, einer Allee voller Geschäftigkeit und der Gemeinschaft von aus der Ferne zusammengekommenen Menschen. Es sind Bilder, die mich an die früheren Häfen der Seefahrer erinnern.
Die Sonnenallee ist nicht über Nacht dieser Hafen geworden, sondern in mehreren Immigrationswellen in den letzten Jahrzehnten. Immer gab es Probleme. Immer entstanden daraus aber auch Lösungen. Menschen strandeten hier und fanden eine erste Heimat in der Fremde.
Dass Faris nach seiner Flucht aus Syrien hierher auf die Sonnenallee fand, war kein Zufall. Seit über 30 Jahren kommen Menschen nach der Flucht vom Mittelmeer in diesen Hafen. In den 1970ern kamen Menschen aus dem Bürgerkrieg im Libanon und schlugen in der damaligen Mauersiedlung Neukölln auf. Als die Flugzeuge hier 1980 noch donnernd zum Landeanflug auf Tempelhof ansetzten, kamen die Menschen aus der Türkei; sie waren auf der Flucht vor dem putschenden Militär. In den 90ern folgten Menschen aus Gaza nach der Intifada. Schließlich trieb der Krieg auf dem Balkan die Menschen auch nach Berlin.
Vom Hermannplatz zwischen Kreuzberg und Neukölln abgehend, ist die Sonnenallee eine der drei großen Straßen im immer beliebter werdenden Szeneviertel “Kreuzkölln”. Laut den Berliner Statistiken sind über die Hälfte der Menschen hier nicht in Deutschland geboren oder haben Eltern, die aus dem Ausland kamen.
Direkt an der Sonnenallee steigt diese Zahl gefühlt auf das Doppelte. Aber im Gegensatz zum Kottbusser Tor oder auch dem Görlitzer Park in Kreuzberg ist die Sonnenallee kein Kriminalitätsbrennpunkt. Selbst am Hermannplatz ist die Zahl der Gesetzesverstöße rückläufig. Von der Polizei geführt als ein “kriminalitätsbelaster Ort”, konnte das als gefährlich geltende Gebiet um den Hermannplatz “2017 aufgrund der positiven Fallzahlenentwicklung deutlich verkleinert werden”. Und noch ein entscheidender Unterschied zu Kreuzberger Brennpunkten lässt sich schnell ausmachen: An den Ladenzeilen der Sonnenallee finden sich arabische Schriftzüge. Neben den türkischen Zugezogenen wohnen hier immer mehr Geflüchtete aus arabischen Ländern.
Der Einwanderer-Hafen in Neukölln: Er wuchs aus der Not und mit den Krisen am Mittelmeer – ein Flickwerk aus unterschiedlichsten Menschen, Ideen und Konflikten einer ganzen Weltregion. Ferat Ali Kocak wohnt seit Jahren in Neukölln und beobachtet dieses Gemisch an Kulturen schon länger. “Früher war es der Nationalstolz, aber heute ist es Religion, welche die Jugendlichen zusammenbringt”, sagt Ferat. Als Enkel eines alevitischen Einwanderers kennt er die Geschichten der Immigrierten in Berlin gut.
“Das Gefühl, in Deutschland nicht dazuzugehören, führt die jungen Menschen in die Religion.”
Ferat Ali Kocak
Auf der Veranstaltung “Offenes Neukölln” spricht der 38-jährige Ferat über die Gründe für den Nationalismus von Türken und die Popularität des Islams. Letztlich seien beides auch Antworten auf die erfahrene Ausgrenzung der Jugendlichen hier. In den letzten Jahren hat er eine entscheidende Veränderung beobachtet: “Die jungen Menschen kennen vielleicht noch die alten politischen Konflikte aus ihren Familien, aber die sind nicht mehr so wichtig. Es ist eher das Gefühl, in Deutschland nicht dazuzugehören, das sie heute zur Religion führt. Sie wurden aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen und aus ihren Wohnungen verdrängt, das bringt ein bestimmtes Gefühl mit sich.”
So kommen von den 312.000 Menschen in Neukölln rund 20.000 aus Familien, die aus 23 verschiedenen arabischen Ländern stammen. Es ist nicht so sehr die eine Kultur oder die eine Geschichte, die sie verbindet, sondern das geteilte Schicksal der Flucht und der Immigration. Sie teilen tausendfach Geschichten von Problemen mit der deutschen Sprache und der fremden Umgebung; Geschichten von Heimweh und manchmal einem einsamen Leben ohne Familie. Die “arabische Straße” ist nicht einfach Import aus dem Orient; es ist eine Koproduktion von Einwanderung nach und Abweisung in Deutschland.
Im Januar lief der Lokalpolitiker Andreas Wild für die Fernsehkameras des RBB die Sonnenallee entlang. Auf seinem Weg durch das Nass des Wintertags spürte er vor allem eines um sich herum: Entfremdung. “Ich fühle mich hier nicht wie in Deutschland, weil es aussieht wie im Orient. Zumindest die Menschen sehen hier so aus”, sagte er. Er sprach von “Umvolkung” und “Rückveränderung”.
Vielleicht ist die Sonnenallee kein stolzer Hafen. Berlin ist nicht das historische Istanbul und auch nicht das Beirut goldener Tage. Über ein Viertel der Menschen hier beansprucht Sozialleistungen. Die jungen Männer sprechen oft sehr laut und lassen ihre Luxuswagen gerne noch lauter röhren. Sie gestikulieren wild untereinander und johlen auch mal den jungen Frauen hinterher. Wer nicht aufpasst, kann in einer der dunklen Ecken der Sonnenallee landen, wo Piraten schon auf ihre nächste Beute hoffen. Wie an jedem Drehkreuz Berlins liegt die Kriminalitätsrate leicht über dem Durchschnitt.
“Menschen lassen sich nicht auf eine Kultur reduzieren.”
Betül Bayrak
Als Tochter türkischer Eltern engagierte sich Betül Bayrak zuletzt im Bündnis Neukölln, das sich für ein vielfältiges und demokratisches Miteinander einsetzt. Sie passt so gar nicht in das Bild einer bildungsfernen, arbeitslosen und kriminellen Jugend Neuköllns. Fremd-orientalisch ist sie auch nicht. Betül ist Deutsche, in Neukölln geboren, und studiert Stadt- und Regionalplanung. Sie ist politisch aktiv und war unabhängige Kandidatin bei den Wahlen im letzten Jahr in Berlin. “Menschen lassen sich nicht auf eine Kultur reduzieren”, sagt sie und warnt vor der Politik eines Andreas Wild. Bayrak erhielt bei der Wahl 1,6 Prozent der Stimmen, AfD-Mann Wild rutschte über einen Listenplatz seiner Partei ins Abgeordnetenhaus. 13,9 Prozent erhielt die AfD in Neukölln.
“Islam und Demokratie: Die AfD erweckt mit Mitteln der Angst den Eindruck, dass das ein Widerspruch sei”, sagt Betül und fragt sich, was Wild ihren Freunden auf der Sonnenallee eigentlich vorwirft: “Die wohnen schon seit Jahren da.” Allein die Menschen nach dem Äußeren zu beurteilen, will Betül nicht gelten lassen. “Wenn es um Islam geht, geht es schnell um die muslimische Frau, die als unnahbar und fremd gilt”, sagt Betül. Sie will mit ihrem Aussehen in der Öffentlichkeit nicht provozieren und findet es schade, wenn Menschen glauben, sie trage Kopftuch nur aufgrund von Druck in der Familie oder der Religion. Es sei kein Zeichen der Rückständigkeit, im Gegenteil: “Was emanzipiert ist, das entscheidet nur die Frau selbst – auch die muslimische.”
Betül, Ferat und Faris – sie sprechen viele Sprachen und legen Religion unterschiedlich aus. Die Erfahrungen der Immigration und des Fremdseins eint sie aber, so sind sie Teil einer Gemeinschaft geworden, die sich hier gefunden hat. Die Sonnenallee ist das Werk von vielen unterschiedlichen Menschen. Wenn sie nicht selbst die Reise von fern hierher antreten mussten, dann waren es ihre Eltern oder Großeltern. Sie setzten türkische und arabische Lokale neben die deutschen Bierstuben und wandelten so die Allee allmählich in das, was sie heute ist.
Seit Jahren zieht es immer mehr Menschen in die Sonnenallee. Bis zu 73 Prozent ist der Mietpreis in den letzten zehn Jahren gestiegen, vor allem in Nord-Neukölln rund um die Sonnenallee. Viele Menschen können diese Preise nicht mehr bezahlen und wohnen darum jetzt weit weg vom urbanem Leben. “Mein Bruder, nach Rudow ziehen ist wie auf einem Dorf leben”, klagt einer der jungen Männer beim Barbier. Wobei er es mit dem Süden Neuköllns noch gut getroffen hat. In einem Shisha-Laden erzählt mir ein Tabakverkäufer, dass er über eine Stunde zu seiner Arbeit auf die Sonnenallee pendeln muss. Die Einwandererstraße, sie wird immer exklusiver.
Die Künstlerin Lore kommt aus London und fand vor ein paar Jahren mit ihrem Kollektiv eine verlassene Arztpraxis auf der Sonnenallee, die sie seitdem als Galerie nutzt. Gemeinsam setzten sie ihr Paralleluniversum mitten in die arabischen Ladenzeilen hinein und stellen hier seit ein paar Tagen Werke der US-Performancekünstlerin Orlan aus.
In den alten Behandlungszimmern sind Videos von Operationen an der Amerikanerin zu sehen, Fotos aus mehr als 40 Jahren dokumentieren die Verwandlungen ihres Körpers. Obwohl es auf der Straße schon Unmut über die zu freizügigen Bilder in den Schaufenstern gab, will die Kuratorin ihre Arbeit nicht als Provokation sehen. “Wir wollen ein Teil der Community sein”, sagt die Frau in ihren Vierzigern.
“Die Männer hier auf der Sonnenallee sind so eitel. Ständig sitzen sie beim Barbier.”
Lore
“Wir haben wöchentlich Frühstück organisiert, um mit der Nachbarschaft in Kontakt zu kommen”, erzählt Lore. “Leider wurde das nicht so gut besucht.” Sie versteht, dass abstrakte Kunst nicht viele der arabischen Besucher auf der Sonnenallee in die Galerie zieht. “Das liegt weniger an der Kultur als an der sozialen Klasse”, meint sie. Sie besteht darauf, dass es keine Probleme hier für sie gebe, keine Übergriffe und keine Entfremdung. Sie spricht ein wenig euphorisch über die Nachbarschaft, sie arbeitet gerne hier. Bei der Frage, ob es wirklich keine trennenden kulturellen Unterschiede hier gibt, stutzt sie aber doch und lächelt: “Die Männer hier auf der Sonnenallee sind so eitel. Ständig sitzen sie beim Barbier.”
Wer wissen will, was Einwandererkultur auf der Sonnenallee wirklich ist, geht also zu einem der vielen Barbiere. Hier trinkt man schwarzen Tee beim Warten und lässt sich den lokal bevorzugten Look schneiden – die Seiten kurz geschoren, oben pomadig. Dabei lässt die arabische Männerkultur tief blicken, denn hier trauen sie sich offen, über ihre Probleme zu reden. Einer der Stammkunden sitzt schon auf dem Barbierstuhl und will für seine nächste Schicht als Shisha-Kellner den Bart gestutzt haben: “Mohamed hat das beste Internet, dort kannst du locker fünf Shisha pro Stunde am Tisch verkaufen”, freut er sich. Im Hintergrund schmachtet Musik auf Arabisch mit Videos von gut frisierten Männern und sehr verliebten Frauen.
Im vielleicht arabischsten Laden der Sonnenallee fängt der junge Mann im Barbierstuhl an, über seine Arbeit als Shisha-Kellner zu philosophieren: “Ich mag es lieber, pro verkaufter Shisha bezahlt zu werden”, sagt er zum ewig scherenden Barbier. “Manche gehen hin und arbeiten den ganzen Tag für 50 Euro normal, ich mag das nicht.” Für einen Moment schrammelt wieder nur Musik aus dem Fernseher an der Wand, dann werden die Augen des Shisha-Kellners klein, es geht um Geld: “Ahmed schuldet mir noch 50 Shisha. Das werde ich arabisch regeln.” Zwei bis drei Köpfe im Barbierladen drehen sich zu ihm und wollen hören, was er damit meint. Diskutieren und dann… “Handschlag mit zwei Augenzeugen, mein Bruder.”
Es mag an meinen eigenen Erfahrungen und Reisen liegen, aber ich genieße die Einwandererstraße mit ihren Menschen und ihren Schätzen. Gemüsehändler stapeln hier jeden Morgen ferngereiste Kisten, und jeden Tag wird die Speisekarte meiner Nachbarschaft ein wenig länger. Hier bekommst du Mangos und Papayas für einen Euro, und den Rum aus Nicaragua verkaufen sie dir auch noch kurz vor Mitternacht. Links und rechts neben der feministischen Galerie sind arabische Friseurläden. Vor der syrischen Konditorei stehen die Menschen Schlange, um eine der süßen Rollen aus Crème mit nach Hause zu nehmen. Hier versinken bärtige Hipster nach einer Kneipentour in riesigen Portionen von Humus und Schawarma. Im Qualm der Shisha-Pfeifen formen Kinder spontane Prozessionen zum Ramadan. Die Sonnenallee ist Welthafen – und wahrscheinlich werden auch die Migranten der Zukunft hier anlegen.
Faris aus Syrien schaut dem schon sehnsüchtig entgegen. Auf dem Schlauchboot im Mittelmeer war er allein unter Männern, nun darf auch die Familie nachkommen. “Nach zwei Jahren habe ich letzten Monat endlich mein Asyl bekommen. Jetzt werde ich meine Frau und meinen Sohn nach Deutschland holen.” Sie werden die Geschichte des Hafens auf der Sonnenallee fortschreiben.
Christian Gesellmann hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat gegengelesen; Daniel Palm Cisne hat die Fotos gemacht; das Aufmacherfoto stammt von Christian von Stülpnagel.