Ich hatte Angst, er könnte entwischen, noch bevor wir ein Wort mit ihm wechseln würden. Jener schwarzhaarige Kapuzenjunge, den wir im Tiergarten gefunden hatten auf unserer Suche nach einigen der unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen, die in Deutschland als vermisst gelten.
9.000 sollen es sein, so geistert es durch die Medienlandschaft. Dabei stimmt diese Zahl nur bedingt: Sie beziffert zwar alle aktuell als vermisst gemeldeten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland; wie viele von diesen aber wirklich „verloren“ gegangen sind, versehentlich mehrfach als vermisst gemeldet wurden oder mittlerweile an einem anderen Ort als dem der Erstregistrierung wieder aufgetaucht sind: Niemand weiß es.
„Hello, my name is Esther, can I ask you a few questions?“, frage ich, während ich auf den Kapuzenjungen zugehe und er schnellen Schrittes daran arbeitet, sich auf und davon zu machen. Schließlich bleibt er doch stehen, schaut mich aus einigen Meter Entfernung misstrauisch an. „Ich spreche kein Englisch”, sagt er zu meiner Verwunderung auf Deutsch. Ich frage also noch einmal nach seinem Namen, diesmal auf Deutsch. Ob er hier lebe und wo er herkomme, schiebe ich noch schnell hinterher. Er heiße Fahrim*, antwortet der Kapuzenjunge, sei gerade 18 Jahre alt geworden und komme aus Afghanistan. Ob er hier im Park schlafe, frage ich. „Ja“, sagt Fahrim, „seit 25 Tagen.“
Er stellt den dicken, blauen Müllsack ab, den er bei sich trägt. Fahrim ist ein Stückchen größer als ich, geschätzt um die 1,80 Meter und von schmaler Statur. Er trägt blaue Jeans, darüber eine schwarze Winterjacke mit eben jener großen Kapuze, unter der fast sein gesamtes Gesicht verschwinden kann. Große, dunkle Augen, lange Wimpern, volle Lippen und kantige Wangenknochen. Kein Allerweltsgesicht.
Fahrim wirkt wach und gepflegt, nur an seinen gelblichen Fingerkuppen kleben Spuren schwarzen Drecks, er scheint in Eile zu sein, so, als müsse er dringend irgendwohin. Wir wechseln noch ein paar Sätze, Fahrim spricht kein fehlerfreies Deutsch, aber so, dass wir uns gut unterhalten können. Er erzählt uns schon in diesem ersten Gespräch, dass er Heroin nehme - so wie auch die anderen Jungen, die neben ihm in den Büschen im Tiergarten hausen. Dann packt Fahrim wieder seinen blauen Müllsack, er will weiter, in Richtung Park, „spazieren“, wie er sagt. Also verabreden wir uns für den nächsten Morgen, 10 Uhr, selber Ort. Handschlag, weg ist er.
Martin und ich laufen noch eine Weile das Parkareal in der Nähe des Hansaviertels ab, durch das sich Wege und Trampelpfade schlängeln, vorbei an einem größeren, verlassenen Spielplatz zwischen den Bäumen und einem versifften Toilettenhäuschen. Die dürren Äste ohne Blätter, die Kälte, die in jede Körperpore zieht, dazu der mittlerweile neblige Winterhimmel, der so tief hängt, als liege er einem wie eine meterdicke, graue Decke direkt auf den Schultern; die ganze Szenerie wirkt auf uns extrem bedrückend. Zwei, drei Männer mittleren Alters schlendern an uns vorbei, so, als wären sie nur zufällig hier, dabei verläuft genau in diesem Abschnitt des Parks der Schwulenstrich. Wir werden ihnen noch öfter begegnen.
Im nächsten Moment biegen zwei Jungs um die Ecke. Von Haut- und Haarfarbe sowie dem Kleidungsstil ähneln sie Fahrim, aber sie wirken jünger. Wir schätzen die beiden Jungs auf 14, vielleicht 15 Jahre, finden kein Zeichen von Männlichkeit in ihren Gesichtern. Ich drehe mich nach ihnen um, als sie an uns vorbeilaufen - und sehe, wie einer der beiden Männer ihnen zuzwinkert.
Als wir am nächsten Montag wie verabredet um 10 Uhr im Park ankommen, finden wir dort, wo wir Fahrim getroffen haben, sechs kauernde Häufchen in blau und rot, die eng aneinander gedrängt auf dünnen Matten in einem Kreis zusammensitzen; sechs Gestalten, die Schlafsäcke über sich geworfen haben, um die Kälte abzuwehren. Sie bilden eine Höhle, die jeden Blick von außen abwehrt. Was machen die da? Die erste Tagesdosis Heroin nehmen?
Weil wir Fahrim nicht finden können, beschließen wir, uns weiter umzusehen. Wir laufen eine Viertelstunde quer durch Park, am anderen Ende finde wir eine Kirche. Wir gehen hinein. Ich will wissen, ob einer der Zuständigen hier etwas weiß über die Jungsgruppe, die sich ihr eigenes Asyl der anderen Art geschaffen hat, draußen in den Büschen nur wenige hundert Meter entfernt, in der Düsternis dieses Ortes.
Drinnen: komplette Stille. In einem durch Glas abgetrennten Büro im Foyer sitzt eine kleine, grau gekleidete Dame im Halbdunkel. Den Rücken gebeugt blickt sie auf einen leuchtenden PC-Bildschirm, eine brennende Kerze steht daneben. Wohlige Geborgenheit scheint durch die Glaswand zu mir hinüber. Ich klopfe, ein faltiges Gesicht mit dickem Brillengestell und weißer Pagenfrisur blickt auf und winkt mich freundlich herein.
Ja, ja, die Flüchtlinge, sagt die alte Dame, die in der Kirche ehrenamtlich ihren Dienst tut, die seien schon länger im Park. Sie steht auf, nimmt einen Schlüssel, schiebt uns beide heraus aus dem Büro, schließt ab („Wir wurden hier auch schon von Obdachlosen beklaut„) und zeigt uns einen Weg, der durch das Kirchenschiff und einen Hinterraum führt, eine Treppe hinunter bis zu einer Tür, die genau dort endet, wo Fahrim und seine Kollegenauch schon einmal geschlafen haben. „Hier unten in den Räumen sitzen ja auch die Frostschutzengel“, erklärt uns die alte Dame, „so eine Organisation, die sich um Obdachlose kümmert. Is´ wohl grade keiner da. Aber das ist ja für die Mitarbeiter auch nicht so schön, wenn hier die Flüchtlinge vor der Tür liegen.”
Ich frage, ob die afghanischen Jungs aus dem Park denn manchmal auch in die Kirche kämen. Vielleicht, um sich aufzuwärmen oder um nach Essen zu fragen? Nein, sagt die alte Dame. Und gehen sie und ihre Kollegen denn manchmal hinaus, um zum Beispiel etwas zu essen anzubieten, will ich wissen? Wieder ein Nein.
„Ich weiß nicht, wo soll ich hingehen?”
Martin und ich verabschieden uns und gehen zurück zum Schlaflager der Jungs in den Park. Zu unserer Überraschung steht Fahrim plötzlich vor uns; er kämmt sich gerade die Haare. Wir begrüßen uns und beschließen, zum Gespräch ein paar Schritte in eine kleine Bäckerei zu gehen. Es ist bitterkalt an diesem Morgen, und Fahrim hat Hunger. Er sieht müde aus.
Esther: Fahrim, seit wann bist Du in Deutschland?
Fahrim: Seit 20 Monaten. Ich bin allein hergekommen, weil meine Tante mich an die Taliban verkaufen wollte. Da hat der Bruder meiner Mutter mich in der Nacht auf den Weg geschickt.
Von wo genau aus Afghanistan kommst Du denn?
Aus Kabul.
Wie viel hat die Reise gekostet?
Ich weiß nicht. Hat mein Onkel bezahlt.
Wieso schläfst Du hier im Park?
Ich bin hier seit 25 Tagen. Am 31. Oktober bin ich 18 geworden. Als ich in Berlin angekommen bin, war ich 16. Da habe ich drei Monate in einem Flüchtlingswohnheim an der Möckernbrücke gewohnt, danach habe ich Jugendhilfe bekommen und habe in einer WG mit vier anderen Leuten am Hermannplatz gelebt. Da hab ich jeden Monat Geld gekriegt. Später war ich in einem Wohnheim in der Osloer Straße, da habe ich Essen gekriegt und jede Woche 20 Euro. Und dann noch einen Monat in Friedenau. Aber als ich 18 geworden bin, haben die zu mir gesagt ‚Okay, du kannst gehen.‘ Ich war auch beim BAMF , ich habe eine Nacht am LaGeSo geschlafen, danach hatte ich einen Termin, die haben meine Fingerabdrücke genommen und mir eine Adresse zum Schlafen gegeben für eine Nacht. Ich bin da aber nicht hingegangen, weil ich nicht richtig verstanden habe, was die mir gesagt habe_n und wo ich hingehen sollte. Am Tag danach wurde ich von der Polizei kontrolliert, die haben gefragt ‚Wieso warst du da nicht bei der Adresse gestern Nacht?‘ Da hab ich Angst gekriegt und bin hierher gegangen.
Der komplizierte Weg durchs Behördenlabyrinth
Martin und ich lernen im Zuge unserer Recherche, wie kompliziert die Ankunft für die Kinder und die jugendlichen Geflüchteten ist: Kommen sie allein in Deutschland an, ist ihr Weg noch lange nicht zu Ende. Mit der Ankunft und der offiziellen Registrierung beginnt das Behördenlabyrinth: Alle unbegleiteten Kinder und Jugendlichen werden zunächst in temporären Einrichtungen untergebracht und später in die Obhut des jeweiligen Jugendamtes gegeben. In der Ankunftszeit erfolgt das sogenannte Clearingverfahren, zu dem ein Erstgespräch, die Klärung der Fluchtursache, eine Altersbestimmung, eine medizinische Untersuchung und eine Suche nach möglichen Verwandten in Deutschland und Europa gehört.
Eigentlich soll dieses Verfahren eine Woche nach Ankunft starten. Weil die zuständigen Behörden die Zahl der Neuankömmlinge zur Hochzeit der Flüchtlingswelle aber nicht bewältigen konnten, mussten viele Kinder und jugendliche Geflüchtete in den vergangenen Monaten oft lange warten, bis die Clearingphase überhaupt anfing. Die Behörden wissen, dass diese Wartezeit kritisch ist; weil die Jugendlichen in dieser Phase tatenlos in einer Warteschleife hängen. Mache unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gehen in dieser Zeit „verloren“, weil sie selbstständig weiterreisen.
In einem Papier des AWO-Bundesverbandes aus dem September heißt es beispielsweise: „Während der vorläufigen Inobhutnahme fehlt es häufig an bedarfsgerechten Angeboten (in der Unterbringung, Versorgung, Betreuung und Unterstützung). Die umF (unbegleitete, minderjährigen Flüchtlinge) sind häufig in Einrichtungen untergebracht, die den Standards der Kinder- und Jugendhilfe nicht genügen, und das über die vorhergesehene Zeit hinaus.„ Das Deutsche Institut für Menschenrechte bemängelt in seinem ersten Bericht an den Deutschen Bundestag vom Dezember beispielsweise, dass es bundesweit keine verbindlichen Mindeststandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden gibt. „Weder in den Asylpaketen I und II noch im Integrationsgesetz gibt es verpflichtende Vorgaben bezüglich der Identifizierung Schutzbedürftiger, deren Unterbringung oder Versorgung“, konstatiert der Bericht. Eine Schulpflicht etwa für geflüchtete Kinder, die sich noch in der Erstaufnahme befinden, existiere es nur in Berlin, Bremen, Hamburg, dem Saarland und Schleswig-Holstein.
Zudem gilt das Clearingverfahren als umstritten – bundesweit gibt es noch immer kein einheitliches Verfahren. Eine Sprecherin der Organisation Moabit-Hilft! sagt: „Dadurch, dass es übermäßig viele Fehleinschätzungen des Alters der Geflüchteten gab, hatte dies einige Kausalfälle von Minderjährigen zur Konsequenz, denen keinerlei pädagogische Maßnahme zuteil wurden. Leider sind diese Minderjährigen ein gefundenes Fressen für Radikale und andere Kriminelle, weil ihnen das ein Gefühl der Geborgenheit gibt.”
In Berlin beträgt die Dauer der Erstaufnahme und des Clearingverfahrens momentan ungefähr drei Monate, aber immerhin: „Die Wartezeit bei den Erstgesprächen ist praktisch abgebaut“, teilte uns die Berliner Senatsverwaltung auf Anfrage mit, die Lage habe sich entspannt. Jedem minderjährigen Geflüchteten ohne Eltern in Deutschland wird auch ein gesetzlicher Vormund zur Seite gestellt - doch bis dieser von den zuständigen Familiengerichten bestimmt ist, können Wochen oder manchmal auch Monate vergehen. Manche Personen führen zudem mehrere Vormundschaften, was es schwierig macht, sich um jeden einzelnen Schützling individuell zu kümmern.
Ein weiterer kritischer Punkt ist nach der Ankunftssituation für die unbegleiteten Minderjährigen der Übergang zur Volljährigkeit. Weil dann die Jugendhilfe nicht mehr verantwortlich ist, sondern die Zuständigkeit wechselt. „Hier kann vieles falsch gemacht werden„, schrieb uns ein Sprecher des Bundesfachverbandes für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) per E-Mail. „Aktuell ist zu beobachten, dass Anträge auf Hilfeverlängerungen über das 18. Lebensjahr hinaus bundesweit häufiger abgelehnt werden“, heißt es in einem Papier des Fachverbands, „die aktuell vielerorts herausfordernde Situation darf Standards der Jugendhilfe nicht zu Lasten der Jugendlichen senken.”
So scheint es aber in Fahrims Fall gewesen zu sein, der mit seinem 18. Geburtstag plötzlich überfordert war und nicht wusste, welche Behörde genau in wieweit für ihn zuständig ist. „Eines müssen wir immer wieder betonen„, sagte uns die Sprecherin von Moabit-Hilft, „vom Krieg traumatisierte Jugendliche reagieren ganz anders auf den Umgang der Ämter mit ihnen als Jugendliche, die nicht vor Krieg geflohen sind.“
Fahrim, hast du einen Asylantrag gestellt?
Ja.
Wie ist Dein Status im Moment?
Weiß ich nicht.
Du sprichst ziemlich gut Deutsch, wie kommt das?
Ich war fünf Monate in der Sprachschule.
Es ist sehr kalt hier im Park, willst du nicht zurück ins Wohnheim?
Aber ich nehme Drogen, das ist mein Problem. Heroin. Als ich in Berlin angekommen bin, habe ich mit Drogen angefangen. Vor 17 Monaten, ich glaube. Die anderen hier nehmen auch Heroin. Ich kriege kein Geld, habe keinen Platz zum Schlafen. Aber ich brauche ja ein bisschen Geld, für Essen, für Trinken. Ist bisschen schwer. Wo soll ich hingehen? Ich weiß nicht.
Die anderen Jungs, die wie du hier im Park schlafen, kommen die auch aus Afghanistan?
Ja. Aber so gut kenn ich die nicht.
Wie alt sind die anderen Jungs? So alt wie du?
Ich weiß nicht.
Wieso nimmst du Drogen?
Weil ich bin dann ruhiger. Und ich kann dann besser schlafen.
Fahrims Blick sucht den Raum ab. Selten während des Gesprächs schaut er mir direkt in die Augen. Zum Frühstück bestellt er einen Latte macchiato – „Habe ich noch nie getrunken, das hier” – und eine Laugenbrezel, die er herunter schlingt – „Wollen Sie auch ein Stück?“
Wie nimmst du das denn?
Rauchen. Manche spritzen auch, aber ich rauche das.
Wie bezahlst Du die Drogen?
(Er druckst rum). Die anderen geben mir welche.
Wie teuer sind die denn?
(Druckst wieder rum). Weiß ich nicht. Ich kauf nur Drogen, wenn ich Geld habe. Wenn ich nix habe, ich nehm auch nix. Weil ich geh nicht klauen und ich habe keine Arbeit. Aber wenn ich keine nehme, geht es mir nicht gut. Dann ich habe Kopfschmerzen. Und Körperschmerzen.
Bevor wir Fahrim an diesem Tag wiedertreffen wollten, hatten wir uns gefragt, ob die zuständigen Behörden oder Hilfsorganisationen in der Stadt uns mehr sagen könnten über die drogenabhängigen, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Ob sie vielleicht schon von Fahrim und seinen Bekannten aus dem Tiergarten gehört hatten. Wir fragten bei der Organisation Fixpunkt nach, die sich für Drogenabhängige in Berlin engagiert, und bei dem Verein Karuna e.V., der sich speziell um drogenabhängige Kinder und Jugendliche auf der Straße kümmert. Fixpunkt wollte auf Anfrage keine konkrete Stellungnahme zum Thema minderjährige Flüchtlinge geben. Der Geschäftsführer von Karuna, Jörg Richert, sagte uns: „Leider ist uns diese Gruppe geflüchteter Minderjähriger nicht bekannt.” Auch bei der Bahnhofsmission vom Bahnhof Zoo, die nur einige Minuten Fußweg vom Schwulenstrich entfernt liegt und wo Obdachlose regelmäßig mit warmem Essen versorgt werden, hatte man weder von den jungen afghanischen Flüchtlingen im Tiergarten gehört noch sie gesehen.
Wir fragten weiter, kontaktierten die Berliner Polizei, die uns per E-Mail mitteilte, zurzeit lägen 22 offene Fahndungen zu vermissten Geflüchteten unter 18 Jahren in der Hauptstadt vor. Des weiteren findet sich in dem Schreiben jener eigenartige Satz: „Die Ursachen für das Vermisstsein bei umF unterscheiden sich nicht von anderen Vermisstenfällen bei Kindern und Jugendlichen und lauten Abenteuerlust, Neugier und Langeweile.„ Gleichzeitig räumt die Polizei aber ein: „In Einzelfällen liegen auch Vernachlässigung und unzureichende Fürsorge der für die Vermissten Verantwortlichen vor.“ Ob allerdings und wenn ja, wie viele der unbegleiteten Minderjährigen in der Drogenszene oder der Zwangsprostitution landen, darüber könne man keine Auskunft geben, weil keine Informationen zu der Thematik vorlägen. Die Bundesregierung kann dazu ebenfalls keine konkrete Aussage machen; auch hier mangelt es an Informationen, wie es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen vom April dieses Jahres heißt. Uns erscheint es so, als mangele es nicht nur an aussagekräftigen Daten - sondern auch an Problembewusstsein.
Was machst du den ganzen Tag, Fahrim?
Spazieren gehen, ich laufe überall. Im Park, in Berlin.
Kennst du die Männer, die hier in der Ecke im Park auch spazieren gehen und einem Geld geben, wenn man was Bestimmtes für die macht?
Nee, ich weiß nicht. Viele machen Sex mit den schwulen Männern, aber ich will das nicht. Ich will sowas nicht machen. Viele haben Krankheit.
Und die anderen aus eurer Gruppe? Machen die das?
Weiß ich nicht. Kann ich nicht sagen.
Wo gehst Du hin, wenn du dich mal waschen musst? Oder duschen?
Hier auf der anderen Seite ist eine Toilette. Manchmal ich gehe mit jemandem mit. Gestern war ich mit einem Mann. Da habe ich geduscht. Den habe ich im Park kennengelernt. Alter Mann. Der hat mir auch Essen gekauft.
Hast du auch da geschlafen? Bei dem Mann?
Nee, nur geduscht.
Hast du noch andere Sachen mit dem gemacht?
(Guckt teilnahmslos zur Seite). Nee, nur geduscht.
Und würdest du nochmal mit dem nach Hause gehen?
Nee.
Je länger das Gespräch dauert, desto resignierter klingt Fahrim. Weder er noch einer der anderen drei jungen Afghanen, mit denen wir im Tiergarten sprachen, hat uns gegenüber offen zugegeben, dass er sich prostituiert. Auch machte einer der Jungen aus Fahrims Gruppe, Abdul – den wir auf dem Schwulenstrich trafen, auf etwa 14 bis 15 Jahre schätzen und der während unseres Gesprächs so vollgepumpt mit Drogen war, dass er kaum die Augen offenhalten konnte – unterschiedliche Angaben: Einmal sagte er, „ich mache kein Sex, meine Freundin aber“, dann sagte er, „manchmal Sex“. Der Verdacht, dass die Jugendlichen aus dem Berliner Tiergarten sich prostituieren, liegt nach dem, was Fahrim und Abdul uns erzählt haben, allerdings nahe; wir haben die Jungen zudem immer wieder auf dem Schwulenstrich umher „spazieren“ sehen, ebenso wie die Freier.
Dass jugendliche Flüchtlinge sich prostituieren, weiß man auch aus Athen, wie CNN jüngst berichtete. In wieweit minderjährige, vermisste Geflüchtete Opfer von Menschenhandel werden, lässt sich nur schwer sagen, weil die Datenlage zum Thema Menschenhandel in Deutschland generell dünn ist. Der BumF will jedoch nicht ausschließen, „dass ein Teil der Minderjährigen Opfer von Menschenhandel wird und in Ausbeutungssituationen gelandet ist. So gibt es Hinweise darauf, dass auch unbegleitete Minderjährige zu Prostitution oder Diebstahl gezwungen werden, weil sie zum Beispiel noch Schulden an Schlepper zurückzahlen müssen”, heißt es in einer Stellungnahme. Eine im November veröffentlichte Studie des EU-Projekts „Reinforcing Assistance to Child Victims of Trafficking“ weist zudem daraufhin, dass aufgrund der hohen Anzahl an unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen im vergangenen Jahr und Aufgrund einer Überlastung der Jugendämter die Gefahr besteht, viele minderjährig Geflüchtete, die möglicherweise Opfer von Menschenhandel wurden, übersehen zu haben.
Fahrim, was ist mit deiner Familie in Afghanistan? Sprichst du manchmal mit denen?
Nein, ich habe keine Familie. Mein Vater ist schon seit 19 Jahren tot, und meine Mutter ist gestorben, zwei Monate, nachdem ich nach Deutschland gekommen bin.
Willst du hier in Berlin bleiben oder woanders hin?
Nee, ich bleibe hier.
Gehst du denn manchmal noch zu einer Behörde? Zum Beispiel wegen Deines Asylantrags?
Nee, wo soll ich denn hingehen? (Seine Stimme wird brüchig und wackelt. Ich denke in diesem Moment, dass ich noch nie einem Menschen begegnet bin, der so einsam war wie Fahrim es sein muss). Ich weiß nicht.
Also willst du jetzt hier im Park bleiben? Den ganzen Winter?
Weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung. Was soll ich machen? Ich weiß nicht.
Fotos: Martin Gommel; Redaktion: Theresa Bäuerlein; Produktion: Vera Fröhlich.
Namen von der Redaktion geändert.