Der Bahnhof von Fontan-Saorge ist von Bergen umgeben. Am frühen Abend, die Dunkelheit bricht gerade herein, nur ein Zug ist noch auf der Anzeige angeschlagen, ist es hier vollkommen menschenleer. Die Bergrücken wölben sich zu allen Seiten, in der Ferne hört man ein paar Hunde bellen. Da tauchen auf einmal am Rande des Bahnsteigs vier Gestalten auf. Sie gehen auf und ab, betrachten lange die Anschlagtafel, scheinen etwas desorientiert. Einer trägt eine rote Steppjacke und hat einen Schal wie einen Turban um den Kopf gewickelt, die anderen tragen Trainingshosen und dünne Windjacken. Wo geht es nach Paris, fragt der mit dem Turban, die Silhouette der Berge in seinem Rücken.
Diese Szene ist keine Seltenheit dieser Tage im Roya-Tal, im äußersten Südosten der französischen Alpen, benannt nach dem Fluss, den man hier überall dumpf rauschen hört. Tesfu und seine Freunde, alle zwischen 20 und 27 Jahre alt, haben eine lange Wanderung hinter sich: Am Vorabend haben sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht, aus Ventimiglia, dem italienischen Grenzort am Mittelmeer. Die vier Eritreer gehören zu den tausend bis zweitausend Migranten, überwiegend aus den ostafrikanischen Ländern, die auf ihrem Weg nach Frankreich in Ventimiglia stranden. Die französische Grenze in Menton ist seit 15 Monaten geschlossen, infolge des Attentats von Nizza wurden die Kontrollen an der Küste seit dem Sommer noch verschärft. Aber die, die dort in den Lagern oder auf Bänken am Straßenrand ausharren, sind trotzdem fest entschlossen, diese Grenze zu passieren. Da an der Küste alle Wege blockiert sind, beschließen viele, es zu Fuß über die Berge zu versuchen.
Seit dem Frühjahr schwillt der Strom an, täglich tauchen im Tal neue Migranten auf. Meistens folgen sie den Bahngeleisen, die von Ventimiglia aus in das französische Tal hinaufführen. Ihre Spuren findet man in den Tunneln, wo sie sich vor dem Regen unterstellen, hinter den Bahnhofshäuschen und in Lagerhallen: leere Konservendosen, Schuhe mit abgelösten Sohlen, die zum Teil mit Kordeln zusammengebunden sind, Kleidung feucht bis auf die Unterwäsche. Aber die Migranten entledigen sich in diesen Tunneln nicht nur ihrer durchnässten Kleider, sondern auch, soweit möglich, ihrer Identität – man findet Karten der Caritas von Ventimiglia, Ausweisungen aus dem italienischen Staat, Zugtickets von Trenitalia. Italien wollen sie in diesen Tunneln hinter sich lassen.
Alle, die schwarz sind, werden nach ihrem Pass gefragt. Auch Tesfu und seine Freunde tragen durchnässte Kleidung. Was sie gemacht haben, während der langen Regenfälle der vorigen Nacht? Tesfu, der ein bisschen Englisch spricht, hebt die Hände hoch über seinen Kopf. Der Regen ist draufgefallen, sagt er. Auf einer Bank zieht er seine durchnässten Chucks aus, auch die Socken, und wackelt mit den Zehen.
Den Zug zu nehmen, wäre für die vier keine gute Idee. An der übernächsten Station, in Sospel, gehen Gendarmen mit federnden Füßen durch die Waggons, Soldaten mit Gewehren marschieren auf dem Bahnsteig auf und ab. Alle, die verdächtig aussehen – also schwarz sind – werden nach ihren Papieren gefragt. Im Tal erzählt man sich die Anekdote, wie kürzlich ein schwarzer Mann aufgefordert wurde, seine Papiere zu zeigen. „Jetzt hören Sie mal, ich bin der neue Pfarrer von Tende!“, habe der Kongolese erwidert, der in der Tat gerade sein Amt angetreten hatte. Die Migranten bekommen keine gute Behandlung. Sie werden wieder nach Italien zurückgeschickt.
Das gehört zu den Maßnahmen des „Kampf gegen den Terrorismus“, die seit der Verabschiedung der Notstandsgesetze im November 2015 in Kraft sind und infolge des Attentats von Nizza im Juli nochmals ausgeweitet wurden. Sie sehen explizit eine schärfere Überwachung der Grenzen vor. Dafür ist in Sospel eine Brigade der “Opération Sentinelle” stationiert. Tatsächlich beschäftigt sie sich aber weniger mit Terrorismus als mit dem Aufspüren illegaler Migranten. Tesfu und seine Freunde sind zwar faktisch auf französischem Boden, aber in diesem Tal, in dem sich historisch mehrmals die Grenzen verschoben haben, sind sie es auch heute nicht ganz klar. Die vier wollen Paris erreichen, aber mit dem Zug stehen ihre Chancen schlecht.
George (Name von der Redaktion geändert), sonnengegerbtes Gesicht und rote Wollmütze, die über dem Kopf absteht, fährt gerade von der Arbeit, als Maurer in dem pittoresken Bergdorf Saorge, nach Hause. Als er die vier vermummten Gestalten am Straßenrand sieht, die Kapuzen über die Köpfe gezogen, bremst er ab und kurbelt sein Fenster herunter. Als klar ist, dass es Migranten sind, fängt er an, hinter dem Steuer Anrufe zu machen. „Jaja, versteh schon, du bist ausgebucht.“, „Ach so, ja, du bist nicht zu Hause“, „Ich kann auch nicht, wenn ich die mitbringe, steht mir die Scheidung bevor“. Endlich, beim vierten Anruf, hellt sich seine Miene auf. „Ah, bei dir oben ist Platz. Gut, dann nehm’ ich sie mit.“
Dank Tesfu, der für seine Freunde in die eritreische Sprache Tigrinja übersetzt, gelingt es ihm, den vieren zu erklären, dass sie sich auf die Rückbank setzen und sich während der Fahrt durch die Dörfer ducken sollen. Der Geländewagen fährt das Tal hinauf nach Norden, durch mehrere nächtlich beleuchtete Bergdörfer hindurch. Am Ende bleibt von der Straße nur ein Schotterweg übrig. Unterm Auto knistert und rasselt es, während es den mäandernden Weg nach oben klettert. Nur ab und zu sieht man es irgendwo wie Irrlichter leuchten – nur eine Handvoll Familien leben verstreut hier oben über Tende.
Schließlich hält das Auto. Ein weiter Sternenhimmel öffnet sich dem Blick, dezent heben sich die dunklen Silhouetten der Berge von der Nacht ab. Das Ziel ist erreicht: eine einfache Hütte auf 1.100 Meter Höhe, in der ein befreundeter Schreiner sein Atelier eingerichtet hat. In diesen Tagen wird die Schreinerei allerdings zweckentfremdet. In der kleinen Galerie über dem Atelier, die wohnlich eingerichtet ist, liegen bereits Matratzen bereit, Schlafsäcke, ein Karton mit Lebensmitteln.
Tesfu und seine Freunde sind nicht die ersten Migranten, die hier auf ihrem Weg durch die Berge Zuflucht finden. „Wir können aber die Maschinen nicht bedienen”, sagt Tesfu, der glaubt, in der Schreinerei arbeiten zu müssen. Doch George und sein Freund sind keine Ausbeuter. Sie sind Teil eines informellen Netzwerks von Helfern, die im Royatal mangels anderer Lösungen den Migranten mit improvisierter Solidarität begegnen. Zwischen 150 und 200 Migranten werden in diesen Tagen von den Talbewohnern beherbergt – schätzungsweise, viele der Helfer bleiben anonym.
Den Helfern drohen bis zu fünf Jahre Haft
Ihre Solidarität ist nämlich für sie nicht ohne Risiko. In einem Nachbardorf ist ein Helfer derzeit gerichtlich angeklagt, wegen „Beihilfe zum Eintritt, zur Fortbewegung und zum Aufenthalt von Ausländern ohne legalen Aufenthaltsstatus“. Diese Klage droht all jenen, die sich hier im Tal zu stark mit den Migranten solidarisieren. Der Angeklagte, Cédric Herrou, ein 39 Jahre alter Bio-Farmer, der ein paar Kilometer außerhalb von Breil-sur-Roya in einer kleinen Hütte umgeben von Hügeln wohnt, hat oft über fünfzig Personen pro Tag bei sich Unterschlupf gewährt. In seinem experimentellen Garten, in dem Gemüse Streben hinaufklettert, Hühner gackernd umherstaksen, hat er dafür einen regelrechten Campingplatz angelegt.
Herrou nimmt aber nicht nur Migranten auf, die zu ihm finden. Er holt sie auch selbst zu sich, nicht selten aus Ventimiglia selbst. Im Oktober, als der Andrang bei ihm überhandnahm, hat er außerdem mit anderen Aktivisten von Roya Citoyenne, einer Bürgervereinigung in den fünf Kommunen des Tals, ein leerstehendes Bahnhofsgebäude besetzt. Vor allem deshalb verklagt man ihn nun, der Prozess soll Anfang Januar stattfinden.
Ihm drohen bis zu 30.000 Euro Strafe und fünf Jahre Haft. Aber das bringt ihn nicht von seiner Überzeugung ab: „Wenn man junge Frauen am Straßenrand stehen sieht, oder Jungs von 15, 16, die zu Fuß auf die Autobahn gehen, dann denkt man nicht weiter nach“, sagt er. „Man nimmt sie mit.“ Wenn er sie nicht hierher brächte, würden es Schlepper tun, die sich, so weiß er, dafür bezahlen lassen. Wer wie George und sein Freund nur Migranten beherbergt, lebt zwar nicht so riskant wie Herrou es tut. Aber auch die Unterbringung ist streng genommen illegal.
Gendarmen können sie nicht aufhalten
Am nächsten Abend sind Tesfu und seine Freunde sichtlich ausgeruht und guter Laune. George hat bei Jean-Noel Fessy, dem Schatzmeister von Roya Citoyenne, dessen Haus sich in den letzten Monaten in eine Art Basar verwandelt hat, zwei Taschen Kleiderspenden für die neuen Gäste abgeholt. Fröhlich probieren sie Pudelmützen und Handschuhe an, halten lachend übergroße Unterhosen in die Luft.
Tesfu ist der Wortführer der vier, da er von allen am besten Englisch spricht. Wenn er zuhört, ziehen sich seine Augenbrauen zusammen, er versucht konzentriert, alles zu verstehen. Melake ist nachdenklich, hat aber ein strahlendes Lächeln. Mahari, der jüngste, gerade 20 Jahre alt, hat lässig die Beine übereinander geschlagen. Awet ist etwas stiller, der melancholische Typ. Unter seinen langen Wimpern scheinen seine großen Augen wie Gewässer, in denen etwas versunken ist. Manchmal stützt er sein Gesicht in die Hände.
Die vier kommen alle aus demselben Dorf, in der Region Gash Barka, die an Äthiopien grenzt und in der es daher immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen gibt. Alle vier mussten seit dem Alter von 16 in der eritreischen Armee als Soldaten dienen. „In unserem Land gibt es keine Demokratie“, erklärt Tesfu. Daher haben die jungen Männer beschlossen, ihr Land zu verlassen. Zusammen waren sie fast ein Jahr lang unterwegs, durch den Sudan, Libyen und das Mittelmeer, dann durch Italien. Dann strandeten sie in Ventimiglia. Zweimal haben sie bereits versucht, im Zug die Grenze zu überqueren, jedes Mal wurden sie aufgegriffen und wieder nach Italien ausgewiesen.
Aber ein paar französische Gendarmen können die vier nach all dem, was sie erlebt haben, nicht mehr einschüchtern. Jetzt sind sie eben zu Fuß in die Berge gekommen. Sie wollen nach Paris, wo Freunde leben, die sie aus einem Lager in Rom kennen. Tesfu hat in Eritrea eine Frau und zwei Kinder. In Paris will er arbeiten, „um meine Familie zu ernähren”.
Früh am nächsten Morgen fährt George wieder hinab ins Tal, zur Arbeit in Saorge. Die Dörfer im Tal ähneln sich, überall bunt glasierte, barocke Zwiebeltürmchen; überall auch der Fluss, der seine Schaumkronen zwischen den verschlafenen Häusern hindurch schüttelt. An diesem Morgen hängt silberner Tau an den Dächern. Bald wird es Schnee sein; an den Gipfeln kann man ihn schon funkeln sehen. Zwischen den Dörfern in einer kilometerlangen Schlucht, wo die Granitfelsen düster in die Dämmerung ragen, taucht am Straßenrand wieder ein Grüppchen Fußgänger auf.
Sieben Gestalten in bunten Jacken und Mützen und mit fast noch kindlichen Gesichtern. George kurbelt wieder sein Fenster herunter. Wo geht es nach Paris, fragt diesmal Milio,16, ebenfalls aus Eritrea. Unbegleitete minderjährige Ausländer haben nach dem französischen Gesetz zwar eigentlich Anspruch auf Schutz, von den Gendarmen wird diese Auflage aber nicht immer befolgt. George telefoniert wieder, verständigt Bekannte, aber er selbst muss zur Arbeit, er ist spät dran. „Es ist hart, ihnen zu sagen, kommt selbst zurecht“, sagt er.
Ein Bett für die Nacht – aber dann?
Auch diese sieben werden versorgt werden, jemand wird kommen und sie von der Straße auflesen. Aber es ist nicht leicht für die solidarischen Helfer im Tal, mit dem Strom der Neuankömmlinge fertig zu werden. Seit die Polizei die Besetzer aus dem leeren Bahnhofsgebäude vertrieben hat, gibt es keinen Platz für all die neuen Migranten. Und das gerade jetzt, wo der Winter bevorsteht. Tesfu und seine Freunde kamen mit schlotternden Beinen davon, aber bald wird es in der Nacht frieren. „Wenn das so weitergeht, wird es in diesem Winter Tote geben”, fürchtet George. Zum anderen sind nicht alle Talbewohner den ungebetenen Gästen wohlgesonnen. „Vor allem die von auswärts kommenden Bewohner engagieren sich hier für die Migranten”, erklärt George, selbst in Marseille geboren, wie sein Akzent verrät.
Die Alteingesessenen dagegen halten sich zurück. Das Tal ist politisch gespalten, „die beiden Parteien, die in den letzten Regionalwahlen am besten abgeschnitten haben, waren die beiden Fronts – der Front de gauche und der Front National”, erklärt Jean-Noel Fessy. Unter den feindlich gesinnten Talbewohnern gibt es sogar Denunzianten, die ihre Nachbarn, die Migranten beherbergen oder transportieren, bei der erstbesten Gelegenheit der Polizei melden. Aktuell sind die Aktivisten im Gespräch mit der Kirche, die Raum zur Verfügung stellen und gleichzeitig eine Brücke zu der Bevölkerung schlagen könnte.
Ein noch größeres Problem ist aber, dass das Problem der Migranten nicht damit gelöst ist, dass sie ein Dach über dem Kopf bekommen. „Wir können dafür sorgen, dass sie heute essen und im Warmen schlafen. Aber morgen?“, bringt es Jean-Noel Fessy auf den Punkt. Um sie nicht den Gendarmen auszuliefern, gehen nicht wenige Talbewohner das Risiko ein, die Migranten in ihren eigenen Autos aus dem Département zu bringen. „Exfiltrieren”, wird das hier genannt. Nur das Gebiet nahe der Grenze ist polizeilich und militärisch überwacht, im benachbarten Département sieht es schon viel entspannter aus. Es geht also darum, die Migranten an einen sicheren Ort zu bringen, von dem aus sie ihre Reise fortsetzen können. Legal ist dieses unentgeltliche Schleusen nicht.
So stand am 23. November ein Ingenieur aus Nizza vor Gericht, weil er nach einer Schwitzhüttensitzung im Royatal drei Eritreerinnen in sein Auto geladen hatte. Er wurde an der Autobahnauffahrt aufgegriffen. Die Helfer wissen jetzt, dass sie Autobahnen meiden müssen. Aber die Gebirgspässe sind noch relativ sicher.
Über alle Berge
Vier Tage später, der große Tag ist gekommen. Tesfu und seine Freunde sind zum Aufbruch bereit. Sie tragen jetzt gute Schuhe, bessere Jacken. Mahari sieht in schwarzer Lederjacke und rotem Schal richtig schick aus. „Seit wir gestern gehört haben, dass wir weiterreisen dürfen, haben wir viel Hoffnung”, erklärt Tesfu. Auf einem Papierstreifen hat er die Orte notiert, die sie bis nach Paris durchqueren müssen – mit den Fingernägeln trennt er Tende nun ab. Ihre kleinen Beutel wieder über die Schulter gehängt, gehen die vier auf den Transportwagen zu, der sie außer Reichweite der Grenzkontrollen bringen soll.
Im Hof des Landhauses, von dem aus der heutige Konvoi aufbrechen soll, hat sich bereits eine kleine Menschenschar versammelt. Kleine Grüppchen von Eritreern, Sudanesen und Somalier stehen auf dem Vorplatz, zwischen ihren Beinen laufen Kinder herum. Hier taucht auch Milio mit seinen Freunden wieder auf. Er trägt neue rote Chucks, auf dem Gesicht ein breites Grinsen. Seine Freunde haben die Kapuzen in die Stirn gezogen, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, Teenager eben.
Etwas abseits im Garten stehen die Fahrer in einem kleinen Kreis, hier findet die letzte Lagebesprechung statt. Ein Auto ohne Migranten wird die Vorhut machen, dann soll ein Puffer kommen, mit nur Minderjährigen darin, weil das im Falle einer Polizeikontrolle weniger riskant ist. Man kann sich auf ihren Anspruch auf Schutz berufen. Dahinter sollen dann in Abständen die drei restlichen Autos folgen. Karten werden skizziert, Telefonnummern ausgetauscht. „Schreibt euch auch die Telefonnummer der Anwältin auf, falls was sein sollte”, sagt der, der heute koordiniert. „Aber hey, Jungs, ein Risiko bleibt, das ist klar.” Wenn die Polizei sie erwischt, droht ihnen wie dem Ingenieur aus Nizza der Prozess.
Die Sonne scheint frontal auf die südliche Mauer des Landhauses, es ist Mittag. In Kürze soll es losgehen. Die großen somalischen Jungs stehen lässig vor den Silhouetten der Berge, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie kann nichts mehr aus der Ruhe bringen; aber man fragt sich leise, ob sie am Ziel ihrer Reise wohl so eine so heile Welt erwartet, wie in diesem Garten. Ein letzter Snack, Plastiktüten werden verteilt, falls auf den Serpentinen jemand übel wird. Tesfu und seine Freunde legen sich wie Sardinen in den Kofferraum, die Hände auf der Brust gefaltet. Dann geht es los.
Auf dem Parkplatz stehen fünf bullige Geländewagen in den Startlöchern und warten auf das Signal zur Abfahrt. Da kommen auf dem Weg über dem Haus zwei Spaziergänger vorbei. Sie bleiben stehen, stecken die Köpfe zusammen, machen Fotos. „Kann man Ihnen behilflich sein?“, ruft einer der Schmuggler ihnen zu. „Danke, wir haben unseren Weg schon wiedergefunden“, sagt der Herr gedehnt, und die beiden schlendern den Weg entlang davon. Unter den Schleusern macht sich eine gewisse Unruhe breit. „Jetzt haben wir schon alles organisiert“, sagt einer, „wir müssen jetzt einfach schnell weg von hier.“
Auf den Spuren der Wölfe
Das erste Auto setzt sich in Bewegung. Etwa fünfzehn Minuten später schert das zweite aus. Kurz darauf ein Anruf. Das Ehepaar laure den Autos weiter vorne auf und fotografiere die Autokennzeichen ab. Die Fahrer fluchen; in aller Eile werden Nummernschilder provisorisch mit Taschentüchern verklebt. Dann folgt die Entwarnung. Das Ehepaar sei verschwunden, „der Himmel ist klar”. Im Fünf-Minuten-Abstand rollen die übrigen Fahrzeuge los. Nicht hinab ins Dorf, sondern nach oben, den Berg hinauf. Auf direktem Weg würde es bis zum Ziel anderthalb Stunden dauern, über den Pass steht eine Fahrt von vier, fünf Stunden bevor. Fast unmittelbar ist es nur noch ein Schotterweg, das ganze Fahrzeug bebt. Aber von Tesfu und seinen Freunden aus dem Kofferraum hört man keinen Laut der Klage.
Der Weg windet sich durch den Eichenwald, der hier am Südhang noch bunte Blätter trägt. Bald sieht man die Dächer des Dorfes von oben. Warum er diese Zeit aufwende, dieses Risiko auf sich nehme? „Weil ich weiß, dass ich das Gleiche machen würde, wenn ich in ihrer Lage wäre”, sagt der Fahrer. Das Auto klettert jetzt immer weiter hinauf, an Kiefern vorbei, deren Schatten über den sonnenbeschienenen Weg fallen. Kaum jemand benutzt diesen Pass, außer Förstern und Hirten. Gebaut wurde er aber aus militärischen Gründen: Seit den Revolutionskriegen war dieser strategische Punkt Schauplatz von Schlachten, noch Ende des Zweiten Weltkriegs standen hier die französischen Truppen der deutschen Wehrmacht gegenüber.
Inzwischen sieht man fast gar keine Bäume mehr, nur flaumige Bergkuppen säumen den Weg. Eine ganze Weile führt der Pass direkt auf dem Bergkamm entlang. Meditativ windet er sich um die Kuppen, einmal links herum, einmal rechts. Ein weiter Himmel breitet sich in alle Richtungen aus Die Sessel eines Skilifts baumeln im Leeren. Hier in der freien Natur auf über 2.000 Meter Höhe, wo die Welt nur der Sonne und dem Wind zu gehören scheint, kann man sich kaum vorstellen, verfolgt zu werden.
Die Migranten sind nicht die ersten, die diese Höhen suchen, um unbehelligt zu bleiben. Während des Zweiten Weltkriegs schlugen sich in diesem Gebirge die italienischen Partisanen durchs Unterholz. Heute sind es vor allem die Wölfe, die, ähnlich unerwünscht wie die Migranten, über die Bergkämme wieder aus Italien nach Frankreich einwandern.
Eine Etappe weiter
Ein Anruf erinnert wieder daran, dass sich das Auto nicht nur geologisch auf einem schmalen Grat bewegt. „Vor der Hütte des Nationalparks sind Leute, seid unauffällig.” Ein Tourist steht vor seinem Auto, schaut er skeptisch? Dann wieder nichts als Berge weit und breit. Ein paar weiße Schäfchenwolken schweben am Horizont. Auf einmal liegt links vom Auto Schnee. „Schaut mal!” Drei Köpfe huschen zum Fenster hinauf, Melake pfeift laut auf. Noch nie haben die Eritreer Schnee aus der Nähe gesehen. In zwei Wochen wird der ganze Pass vereist und dann nicht mehr befahrbar sein.
Hinter dem Pass warten Freunde aus dem Nachbartal, sie sollen die bisherigen Fahrer ablösen. Acht Autos parken auf einem kleinen Plateau. „Ich kann fünf nehmen”, sagt eine sanft lächelnde Dame. „Wann fährt noch mal der Zug ab?”, fragt ein bebrillter Herr. Die Migranten können sich kurz die Füße vertreten. „Versteckt euch!”, heißt es dann plötzlich, ein Auto naht. Tesfu und die anderen kauern sich hinter den Geländewagen zusammen, während das Auto am Parkplatz vorbei um die Kurve fährt. Dann setzt sich der Konvoi erneut in Bewegung.
Ganz allmählich geht der Weg wieder bergab. An in den Fels gebauten Bergdörfern führt er vorbei, in eine langgezogene Schlucht. Dann, allmählich, wird das Land wieder flacher, der Verkehr fließt stärker, Hochhäuser tauchen auf.
Als sich das Auto auf dem Bahnhofsvorplatz in die Parklücke schiebt, bricht bereits die Dämmerung herein. Wieder stehen vier Gestalten vor einem Bahnhof, hinter ihnen hat der Horizont einen hauchzarten purpurnen Streifen. Der Fahrer verabschiedet sich kurz. Keine großen Szenen. Man hat ihnen praktisch geholfen, sie eine Etappe weitergebracht. Der Zug wird sie heute Abend bis nach Marseille fahren, morgen früh nimmt sie, wenn alles gut geht, ein anderer nach Paris mit. Was am Ziel der Reise auf die Migranten wartet, ist eine andere Frage.
Redaktion und Produktion: Theresa Bäuerlein; Aufmacherbild: Luisa Maria Schulz.