Irgendwo hier sollen sie sein. Irgendwo in diesem gezüchteten Wirrwarr mitten in Berlin, zwischen Bäumen, Sträuchern, Wiesen, bemoosten Statuen, angerosteten Denkmälern und verschlungenen Wegen. Auf drei Kilometern Länge und einem Kilometer Breite quetscht sich der Tiergarten zwischen Regierungsviertel und Potsdamer Platz, Brandenburger Tor und Bahnhof Zoo, in der Mitte ragt die Siegessäule in die Höhe, als wollte sie den Himmel aufspießen. Und mittendrin: wir. Zwei frierende Reporter auf der Suche nach jenen minderjährigen Flüchtlingen, die Deutschland abhanden gekommen sind, noch bevor sie überhaupt richtig angekommen waren.
Wie können Tausende jugendliche Flüchtlinge einfach so „verschwinden“?
Und wo sind sie geblieben? Mit diesen beiden Fragen hatte es angefangen. Wir konnten sie nicht beantworten und wollten doch Antworten wissen. Also beschlossen Martin und ich, selbst loszustiefeln.
Wir zogen mit gemischten Gefühlen los. Weil wir nicht wussten, was uns erwarten würde. Wir waren auf das Schlimmste vorbereitet: Jugendliche Flüchtlinge, die sich weit weg von zu Hause in der Prostitution oder der Drogenszene bewegten. Die einsamer waren als sich zwei gut versorgte Europäer wie wir überhaupt jemals vorstellen konnten.
An diesem Dienstagmorgen um kurz nach 10 Uhr liegt der Tiergarten aber erst einmal vor uns wie ein riesiges Idyll. Er wirkt so harmlos wie das Lächeln von Angela Merkel. Die Sonne scheint, die Luft ist klar, der Himmel blau; in der vergangenen Nacht hat es zum ersten Mal in diesem Winter gefroren. Eine dünne Eisschicht zieht sich an einigen Stellen über die Gewässer im Park und funkelt im Sonnenlicht – schönstes Spazierwetter. Doch trotz der Sonne: Es ist bitterkalt. Schon nach einer halben Stunde fühlen meine Zehen sich an, als würden sie langsam taub werden - wie bitte sollen hier Kinder und Jugendliche überleben, völlig auf sich allein gestellt, frage ich mich.
Was ist da hinten im Dickicht? Die Flüchtlinge, die wir suchen?
Wir kommen vom Bahnhof Zoo, also aus Richtung Westen. Eine Kollegin hatte uns geraten, unsere Suche an diesem Punkt zu starten. Wir laufen Richtung Straße des 17. Juni, die den Tiergarten längs zerteilt wie eine mit dem Lineal gezogene breite Linie. Plötzlich bleibt Martin stehen. Ich kriege einen kurzen Schreck, bremse ebenfalls ab. Abrupt zückt Martin seine Kamera und hält sie Richtung Wegesrand, ohne einen Ton zu sagen. Ich verstehe nicht, was er will, also beuge ich mich so, dass mein Blickfeld seinem gleichkommt. Und dann sehe ich es auch: Zwischen mannshohen Fichten und Gestrüpp, gut versteckt, stehen zwei olivgrüne Campingzelte. Eine kleine Lichtung, mitten im Stadtwald. Nur wer ganz genau hinsieht, bemerkt die beiden Zelte überhaupt, die sich ins Dickicht drängen wie zwei niedrige, windschiefe Hütten, einige Meter vom Weg entfernt.
Martin geht ein paar Schritte ins Gebüsch, ich hinterher, langsam, auf die Zelte zu. Keiner von uns spricht ein Wort. Direkt neben einem Zelt steht im weichen Eichenlaub ein kleiner Plastiktisch, auf und unter dem sich Alltagsutensilien stapeln: ein blaues Handtuch, eine Ikea-Tasche, eine halbvolle Plastikflasche Orangensaft, eine Trinkpackung „Durstlöscher“, eine lilafarbene Damensteppweste. Ein Stillleben der Armut. Aus den Zelten hören wir keinen Mucks, nichts bewegt sich.
„Hallo?“, ruft Martin, noch etwas zögerlich. Stille.
Dann ruft er noch einmal „Hallo!“, diesmal klingt es entschiedener.
Noch immer rührt sich nichts.
Aber, keine Frage: Hier lebt jemand.
Können das die minderjährigen Flüchtlinge sein? Wir zögern. Mein Blick scannt den kleinen Platz nach einem Kinderturnschuh, einer kleinen Jacke oder irgendeinem anderen Indiz dafür, dass hier Kinder oder Jugendliche hausen. Nichts. Sollen wir warten? Oder weitergehen? Falls da jemand im Zelt schläft, müssen sie irgendwann aufstehen. Falls sie schon gegangen sind, irgendwann zurückkommen. Die Uhr auf meinem Handy zeigt 10.42 Uhr.
Wir warten einige Minuten, überlegen. Die Kollegin, die uns geraten hatte, am Bahnhof Zoo zu starten, hatte uns auch gleich noch gesagt, wir sollten in Richtung Altonaer Straße gehen – Richtung Schwulenstrich. Die Ecke liegt mehrere hundert Meter von den Zelten entfernt, und hier regt sich auch nach einer Viertelstunde Warten noch immer nichts. Wir beschließen, später noch einmal vorbeizukommen, und gehen weiter.
Das mulmige Gefühl in meinem Bauch wächst.
Auf dem Weg zur Altonaer Straße passieren wir die Straße des 17. Juni, wo eine Unterführung die Touristen, die im Sommer auf dem Weg zur Siegessäule in Scharen hier auflaufen, sicher auf die andere Seite bringen soll. Von unten dringt leise Akkordeonmusik zu uns nach oben, wir gehen den Klängen nach, die Treppe runter.
Wir sollen weitergehen Richtung Schwulenstrich, rät Costa
Dort sitzt in der Mitte des Ganges ein junger Mann auf einem Klappschemel am Instrument. Schmal, vielleicht Anfang oder Mitte zwanzig. Er trägt Jeans, Turnschuhe, Dreitagebart. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, als lächerlicher Versuch, die knochendurchdringende Kälte abzuhalten. Vielleicht weiß er was, denken wir, vielleicht kennt er sich gut aus im Park.
„Hallo, wie heißt du?“, fragen wir.
„Costa.“
„Costa? Dürfen wir dir ein paar Fragen stellen?“
„Ja, ja.“
„Wo kommst du her?“
„Aus Rumänien.“
„Spielst du hier jeden Tag?“
„Ja, jeden Tag“, sagt Costa in mehr als brüchigem Deutsch, über den traurigen Klang seines Akkordeons hinweg. Er weiß nicht, wie das Lied heißt, das er spielt. Noten lesen kann er keine; er spielt alles auswendig, erklärt er uns, nur mithilfe seines Gehörs. Costa spricht Rumänisch und Spanisch, und ein bisschen Deutsch – seine Eltern seien in Spanien, sagt er, er selbst sei aber seit acht Monaten in Deutschland. Mit seiner Frau, die sei 17 Jahre alt. Und mit seinem Kind, das ein Jahr und zwei Monate alt sei. Er selbst: 24.
Alle zusammen lebten sie in einem Zimmer am Gesundbrunnen, das 500 Euro im Monat koste, erzählt Costa. Unsere Augen werden weit. 500 Euro? So viel? Costa zuckt mit den Schultern und versucht ein Lächeln. „Akkordeon“, sagt er noch. Wir verstehen: Damit verdient er die Miete.
„Wenn du jeden Tag hier bist, weißt du dann vielleicht, ob hier im Park Flüchtlinge leben, die noch jünger sind als du?“, fragen wir. „Ja, viele, Altonaer Straße, Afghanistan, Drogen“, antwortet Costa und rudert dabei mit dem linken Arm Richtung Treppe. Wir sind offenbar auf dem richtigen Weg. Martin wirft mir einen stillen Blick zu, der auch ohne Worte sagt: „Na bitte, da haben wir es! Damn it!“
Bei jeder anderen Recherche würde uns das freuen. Doch bei dieser Recherche hätten wir uns gewünscht, sie würde im Nichts enden, statt in einer konkreten Geschichte. Ein bisschen hatten wir es sogar gehofft. Denn, wenn wir hier keine minderjährigen Flüchtlinge finden würden, bedeutete das vielleicht, dass sie für den Winter woanders untergekommen waren. An einem besseren Ort. Wo es hoffentlich warm war, oder wenigstens trocken und sicher, wo es etwas zu essen gab.
Aktuell werden in Deutschland 8.829 minderjährige Flüchtlinge vermisst. 915 davon sind laut Bundesinnenministerium jünger als 13 Jahre alt, 7.914 zwischen 14 bis 17 Jahren. So viele – wie kann das sein?
Nicht alle vermissten minderjährigen Flüchtlinge sind wirklich verschwunden
„Wenn ein unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling in Deutschland ankommt, wird er direkt in die Obhut eines Jugendamtes gestellt. Minderjährige Flüchtlinge haben aber keine Residenzpflicht, so wie Erwachsene“, wird mir eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums einen Tag nach unserer Recherche vor Ort am Telefon erklären. „Das heißt, viele reisen einfach weiter in andere Städte, beispielsweise, weil dort Verwandte wohnen.“ Diese Kinder und Jugendliche müssen sofort als vermisst gemeldet werden, so will es die Vorschrift – wenn sie aber an anderer Stelle wieder auftauchen, wird die Vermisstenanzeige nicht zurückgezogen.Beziehungsweise: Wenn der Name, unter dem sich ein minderjähriger, allein reisender Flüchtling am Zweitort registrieren lässt, von jenem bei der Erstregistrierung abweicht, können Mehrfachzählungen entstehen.
„Wir gehen davon aus, dass viele von denen, die als vermisst gelten, gar nicht wirklich verschwunden sind“, sagt die Sprecherin. Wie viele genau von den Verschwundenen mittlerweile wieder aufgetaucht sind, kann sie aber auch nicht sagen. Ebenso wenig, wie viele Kinder und jugendliche Flüchtlinge in irgendeiner Art in kriminelle Kreise abgerutscht sind, ins Drogenmilieu etwa oder in die Zwangsprostitution. „Wir wissen wenig über die Verschwundenen“, gibt die Sprecherin zu.
Im Tiergarten verabschieden wir uns jetzt von Costa, steigen die Treppe der Unterführung zur anderen Seite wieder hinauf und laufen weiter zur Altonaer Straße, Richtung U-Bahnhaltestelle Hansaplatz. Mittlerweile ist es kurz nach 12 Uhr, Essenzeit. Martin hat Hunger, ich muss aufs Klo. Es sind jetzt mehr Leute unterwegs, wir sehen ein paar Spaziergänger, die die Mittagspause offenbar nutzen, den Hund auszuführen. Plötzlich hören wir von hinten eine Stimme:
„Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas?“
Ein Dackel saust an uns vorbei; es ist sein Besitzer, der uns in freundlichem Ton von hinten angesprochen hatte. Ein Mann Mitte 40 etwa, unauffällig in seiner ganzen Erscheinung: angegrautes kurzes Haar, graues Standardbrillenmodell, schwarze Jacke. Er lebt im Hansaviertel, das an den Tiergarten angrenzt. Der Weg durch den Park ist seine übliche Runde mit dem Hund.
„Wir haben gehört, hier im Park sollen minderjährige Flüchtlinge leben?“
„Ach ja, da sind Sie richtig“, sagt der Mann – so, als sei seine Antwort das Normalste von der Welt. Er wirkt überhaupt nicht überrascht oder betroffen. „Schauen Sie, gleich da hinten“, und weist uns die Richtung. „Da leben ein paar Afghanen. Hier ist ja auch der Schwulenstrich.“ Er spricht den Satz in einem vollkommen sachlichen Ton – so, als hätten wir ihn gefragt, wo man hier einen Kaffee trinken kann oder wo die nächste Toilette ist.
Ich schaue dem Arm des Mannes hinterher und sehe: niemanden. Nur ein paar Mülltüten in der Ferne, die achtlos im Laub liegen gelassen wurden. Kurz ist da ein bisschen Hoffnung in mir, dass die Antwort des Mannes vielleicht einfach falsch sein könnte.
Aber offenbar sind wir jetzt genau an dem Ort, den wir gesucht hatten. Dass es so einfach werden würde, hatten wir nicht erwartet. Der Mann erzählt uns noch, die Flüchtlingswelle des vergangenen Jahres habe auch die minderjährigen Geflohenen in den Park gespült. Im Sommer seien es mehr gewesen als jetzt, aber „ein paar Jungs sind immer noch da. Ja, die schlafen auch hier“.
Wir gehen ein paar Schritte gemeinsam mit ihm, dann biegt er ab und verabschiedet sich. Wir laufen weiter.
Und dann, tatsächlich, sehen wir von unserem Weg aus in gut 50 Metern Entfernung einen jungen Mann sitzen. Schmale Matratzen liegen um ihn herum verstreut, gebrauchte Taschentücher, Müll. Er trägt Jeans, eine dicke schwarze Winterjacke mit breiter Kapuze daran, sein Haar ist pechschwarz. Mehr kann ich aus der Ferne nicht erkennen. Er sitzt an eine Mauer gelehnt, neben ihm steht ein blauer, prall gefüllter Müllsack. Einige Meter von ihm entfernt kauert ein roter Schlafsack, dessen Form einen darunter begrabenen Menschen vermuten lässt. Da schläft einer, tippen wir – die beiden müssen zu jener Jungstruppe gehören, von denen der Spaziergänger mit dem Dackel sprach.
Ich zögere einen Moment, atme einmal tief durch.
Dann gehe ich los.
Querfeldein, über die Wiese, auf den jungen Mann zu. Er sieht mich, steht auf. Nicht hastig, aber zügig. Er hantiert mit einer blauen Hülle, die vielleicht zu einem Zelt oder zu einem Schlafsack gehört. Zieht sich seine Kapuze tief ins Gesicht. Renne ich jetzt? Mein Kopf sondiert, rasend schnell. Ich will den Kapuzenjungen erwischen. Geh langsam, diktiert mir mein Kopf. Wenn du jetzt rennst, ist der Junge schneller weg als du laufen kannst.
„Hello!“, rufe ich. Keine Reaktion.
Er packt unbeirrt weiter. Dann erhebt er sich, schaut kurz zu mir hinüber, schnappt sich den dicken Müllsack, geht los. Er bewegt sich schnell. Seine Schritte zielen einige Meter an mir vorbei. Er will weg.
„Hello!?“, rufe ich wieder, „hello! Can I ask you a question?
Mein Schritt wird schneller.
Seiner auch.
Hier geht es zum zweiten Teil der Serie:
Die neuen Kinder vom Bahnhof Zoo (Teil II)
Fotos: Martin Gommel; Redaktion: Theresa Bäuerlein; Produktion: Dominik Wurnig; Audioversion: Christian Melchert