Am 11.11. um 11.11 Uhr sitzt Abdul in einem grauen Zimmer des Sportzentrums Köln-Pulheim und kämpft mit dem deutschen Akkusativ, während zur selben Zeit eine Stadt kollektiv ausrastet. Es ist noch nicht einmal Mittag, doch rund um den Kölner Dom haben sich längst die ersten Stewardessen, Miezekatzen und Sheriffs eingefunden, um wie in jedem Jahr den Beginn der Karnevals-Session einzuläuten.
Abdul weiß nicht genau, was Karneval bedeutet, er kann das Wort nicht buchstabieren. Er weiß auch nicht, wieso die vielen Menschen sich an diesem Tag mit Bier getränktem Atem „Kölle Alaaf!“ zurufen; dort, wo er herkommt, gibt es keinen Karneval. In Afghanistan hat es vielmehr am Abend zuvor einen Anschlag der Taliban auf das deutsche Konsulat in Masar-i-Scharif gegeben. Wie viele Menschen dabei umgekommen sind, ist am Morgen danach noch unklar. Trotzdem wird Abdul am Abend ein Cowboy-Kostüm tragen, die Frauen werden interessiert zu dem drahtigen jungen Mann mit den dunklen Augen aufschauen. Abdul wird vor 1.200 Menschen auf einer Kölner Karnevalsbühne stehen. Weil der 26-Jährige dort, wo er herkommt, kein Flüchtling aus Afghanistan ist.
Sondern ein Fernseh-Star war.
Es ist dies die Geschichte über einen jungen Mann, der fliehen musste für das, was er liebt: seine Musik. Es ist aber auch eine Geschichte über das Ankommen, die damit verbundenen Absurditäten des mittlerweile so ramponierten Wortes „Integration“, darüber, wie gut gemeinte Hilfe ins Groteske rutschen kann.
Und über die Frage: Wie schafft man es, sich in der Fremde zurechtzufinden, wenn man wie Abdul in der Heimat ein Jemand war und hier ein Niemand ist? Wenn man im alten Leben einen Status genossen hat und Popularität, aber keine Sicherheit und Freiheit – und jetzt in der Fremde lebt, wo es zwar sicher ist, aber der Status „Flüchtling“ als einziges Attribut geblieben ist?
Dankbarkeit ist wichtig für einen „guten“ Flüchtling
„Gut, gut!“, antwortet Abdul und lächelt verlegen auf die Frage, wie es ihm denn nun gehe, hier in Deutschland, im Wohncontainer in Pulheim; bitte dort an die graue Türe klopfen, wo außen eine ebenfalls graue 9 eine Hausnummer symbolisieren soll, wo kein richtiges Haus steht und schon gar kein Zuhause ist. Abdul sagt oft „gut, gut!“. Erstens, weil er endlich in Sicherheit leben kann und natürlich dankbar dafür ist. Dankbarkeit zu zeigen ist wichtig für eine „guten“ Flüchtling, das weiß er mittlerweile. Zweitens, weil für ausschweifende Sätze sein Deutsch noch nicht reicht. Gerade hat er in seinem Sprachkurs Level A2 abgeschlossen und B1 begonnen, er macht schnell Fortschritte. Und schämt sich trotzdem. Weil die neue Sprache in seinem Mund so holpert. In Dari, seiner Muttersprache, ist alles einfacher. Das Sprechen, das Schreiben seiner Songs. Aber vor allem das Singen.
In Afghanistan kennen die Leute Abduls Gesicht aus dem Fernsehen. Die pechschwarzen, halblangen Haare, die Abdul trotz Gel ins Gesicht fallen, den ernsten, durchdringenden Blick, den er anknipsen kann, sobald er unter seinem Künstlernamen Yaldash Hameedi zu singen beginnt, und der verrät, dass die Zuschauer es hier nicht mit irgendeinem gutaussehenden jungen Mann zu tun haben, sondern mit einem stolzen, ehrgeizigen Künstler. Wer ihn in der alten Heimat ebenfalls kennt, sind die Taliban. Doch die finden es gar nicht gut, dass jemand wie er, der Sohn eines Offiziers, der selbst auch noch im Militär diente, bei „Afghan Star“ öffentlich auf einer Bühne sang. Für die Taliban sind Musik und Tanz unislamisch und damit unsittlich. Sie stören sich an der afghanischen Variante von „Deutschland sucht den Superstar“, die durch den erfolgreichsten Privatsender Afghanistans, Tolo TV, im ganzen Land übertragen wird.
Bis ins Finale der besten zwölf Nachwuchssänger schaffte es Abdul alias Yaldash Hameedi 2010. Am Ende gewann ein anderer, doch das kratzte Abdul wenig, der jahrelang eine Musikschule in Kabul besucht hatte, der das indische Harmonium, die Tabla-Drums, Schlagzeug, Gitarre und Keyboard spielen kann und der Celine Dion sowie Michael Jackson verehrt. „Das ist nicht gut, warum machst du das?“, urteilten und fragten die Menschen aus seiner Heimatstadt Lugar ihn und den Vater, der seinen Sohn immer unterstützt hatte. Doch Abdul wollte Sänger sein. Also machte er weiter und verdiente gutes Geld mit seiner Kunst. Auf Hochzeiten, Partys, Geburtstagen. Drinnen, im Halbschatten, wo die Taliban ihn weder sehen noch hören konnten.
Irgendwann aber wurden die Drohungen zu viele, die Probleme zu groß. So entschied Abdul sich gegen ein Leben als unfreier Künstler in der Heimat und für die Balkanroute in der Fremde. Er ließ seinen Vater zurück, die Mutter, zwei Schwestern und einen Bruder. Vier Wochen war er auf der Flucht, am 11. Oktober 2015 erreichte er München. Und landete, nachdem er von den deutschen Behörden achtmal von einer Turnhalle in die nächste verlegt worden war, in diesem Wohncontainer in Pulheim.
Dort sitzt er jetzt neben Sylke Blume, einer Fernsehjournalistin, Spezialgebiet: Kindersendungen. Blume hat einen Mann, der auch beim Fernsehen arbeitet, eine Tochter, die Jura studiert, eine zweite, die das Gymnasium besucht, die Familie lebt in einem „langweilen Reihenhaus hier im Dorf“, sagt Blume selbstironisch. Sie ist sehr groß, sehr schlank, sehr sympathisch, mit ihrem weichen Klang in der Stimme, der dem Kölschen Dialekt innewohnt. Und sehr engagiert.
Sylke und Abdul haben ein Ziel: Er soll bekannt werden
Weil sie empört sei über die Verhältnisse in Deutschland, sagt sie. Eigentlich wollte sie nur ein Stück fürs Kinderradio machen über eine Freundin, die in einer Notunterkunft ein Kunstprojekt für Flüchtlinge veranstaltete, damals, im vergangenen Winter. Doch als Blume zum ersten Mal die Turnhalle in Brauweiler betrat und die Lage der Flüchtlinge dort betrachtete, dachte sie: „Das kann doch hier alles nicht sein!“ Sie wollte helfen, wirklich mit anpacken statt nur berichten. Blume ist eine Macherin. Man nimmt ihr ihre Empörung sofort ab; sie lässt sich immer noch aus ihren Worten heraushören.
Also ging sie zu einem Helfertreffen. Und irgendwann, im vergangenen Frühjahr, stand Abdul vor ihr. Seitdem kümmert sich Sylke um den Star, den hierzulande kein Deutscher kennt. Fährt ihn zu Bandproben nach Köln und wieder zurück, auch nachts, wenn es spät wird, verschickt morgens um 7.30 Uhr Infos per WhatsApp an Pressekollegen, die an Abduls Geschichte interessiert sind. Blume glaubt an ihn. Bei den folgenden Gesprächsterminen wird sie nicht von Abduls Seite weichen. Sie ist Mutter, Betreuerin, Presseagentin und Fan in einem. Und manchmal zuviel. Dabei meint sie es nur gut.
Wenn er bei der Antwort auf eine Frage ins Stocken gerät und nicht weiter weiß, wandert sein Blick unsicher zu ihr hinüber, sie springt dann ein. Wenn er lange überlegen muss, legt sie das richtige Wort vor – auch, wenn Abdul das nicht immer möchte. „Moment Sylke, Moment, ich erkläre“, sagt Abdul dann, er will selbst antworten. Aber Sylke hat seinen Satz schon zu Ende gesprochen, um ihm gleich darauf noch zu sagen, er solle doch bitte die Teppichflusen auf seinem Pulli entfernen, rechts oben, da auf der Schulter.
Die beiden bilden ein ungleiches Team. Sie: sehr blond, sehr schnell im Reden, sehr bestimmt. Jemand, der direkt auf die Leute zugeht. Er: einen halben Kopf kleiner, fast 20 Jahre jünger, stolz auf der Bühne, aber fast schüchtern im normalen Leben.
Sylke und Abdul haben ein klares Ziel: Abdul soll als Yaldash Hameedi auch in Deutschland bekannt werden. Mit afghanischen Songs. Er will gehört werden. Mit eigenen Liedern auf Dari, das ist sein Traum.
An den Drums und am Harmonium ein Karnevals-Urgestein
Bis es soweit ist, singt Abdul mit anderen Flüchtlingen und Kölner Jugendlichen in dem Chor „Grenzenlos“ und in der Band „Buntes Herz“. Die ist aus einer Initiative des Kölner Dreikönigsgymnasiums in Zusammenarbeit mit Janus Fröhlich entstanden, 66-jähriger Profi-Karnevalist, Kölner Urgestein und Ex-Mitglied der Truppe „Höhner“. Deren Musik ist nicht wegzudenken aus der Stadt; der Kölner Karneval wäre ohne die Schlager wie der Dom mit nur einem Turm.
Neun junge Männer bilden die Boyband „Buntes Herz“, sie kommen aus Longerich, Engelskirchen, aber auch aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens. Janus Fröhlich ist auch dabei, an den Drums und am indischen Harmonium, das aussieht wie ein Koffer mit Tasten und sich anhört wie ein melancholisch verstimmtes Akkordeon. Die Band spielt Oriental Rock, also eine Mischung aus kurdischer und arabischer Folklore, gemischt mit westlichem Rock. Gesungen wird auf Arabisch, Dari, Deutsch oder zu bestimmten Gelegenheiten auch auf Kölsch, eigene Songs, aber auch Cover-Versionen. Am Abend wird „Buntes Herz“ bei der „Alternativen Sessions-Eröffnung“ in den Balloni-Hallen spielen, vor 1.200 Karnevalisten. Ausverkauftes Haus.
Am späten Nachmittag trifft sich die Band zur Probe im Dreikönigsgymnasium in Köln-Nippes. Sebastian, 38, eine Art Band-Papa und Lehrer an der Schule, ist schon da, auch Mahmoud, 23, und Baazam, 19 Jahre alt, der eine aus Syrien, der andere aus dem Irak, haben ihre Instrumente ausgepackt. Arabische und deutsche Sprachfetzen fliegen durch den Raum. Abdul ist der einzige aus Afghanistan, außer ihm spricht niemand in der Band Dari. Sylke ist natürlich auch da, sie hat rote Schaumstoffnasen und zwei Plastiktüten Kostüme für alle mitgebracht. Mahmoud und Bazzam tragen ihre Pinguin-Anzüge unterm Arm.
Sebastian will während der Probe einmal alle Lieder durchspielen, die am Abend auf dem Programm stehen, doch die Jungs reißen eine Zote nach der anderen und überlegen, was „Kölle Alaaf!“ bedeuten könnte. „Alles ab“, sagt Mahmoud, hat er im Deutschkurs gelernt. „Nä, dat stimmt so nisch“, sagt Bassist Manuel in breitem Kölsch, der sich als Biene verkleidet hat. Die Stimmung ist aufgekratzt – nur Abdul sitzt etwas abseits an seinem Harmonium, verzieht keine Miene und blickt ernst in den Raum, die Augenbrauen gekräuselt.
Es ist der Moment, in dem er sich verweigert.
Abdul möchte nicht auf Deutsch singen, wie es für eines der Lieder vorgesehen ist, erst, wenn er die Sprache perfekt beherrscht. Er wird ungehalten, „ich singe ein, zwei Lieder, immer dieselbe“, sagt er wütend, er will andere Lieder spielen, eigene, auf Dari. „Ich schicke dir fünf oder sechs Lieder, machen wir eins davon, ja?“ sagt er zu Sebastian. „Ja, das machen wir“, sagt der, „beim nächsten Mal gern.“ „Aber jetzt müssen wir erstmal die Lieder für heute Abend üben“, klinkt Manuel sich ein und wird langsam auch ungehalten. „Es geht doch jetzt nicht um dich, sondern um die Band“, schiebt er hinterher. Sylke schaltet sich ein, „ich glaube, ihr redet aneinander vorbei“, sagt sie wiederholt, es soll beschwichtigend wirken. „Nä, dat glaub ich nisch“, meint Manuel genervt, während Abdul sichtlich damit kämpft, sich zusammenzureißen.
In der Warteschleife – als Flüchtling und Profimusiker
Warten, immer soll er warten. Darauf, dass er ein Jahr nach seiner Ankunft in Deutschland bei der Ausländerbehörde endlich jenen Termin bekommt, der über seinen Aufenthaltsstatus entscheiden wird. Darauf, dass sein Deutsch besser wird. Darauf, dass er endlich seine eigenen Lieder singen darf.
Abdul hängt in einer ewigen Warteschleife. Und soll dabei auch noch lächeln. Wie man das von einem Profimusiker und guten Flüchtling erwartet.
Zumindest jetzt hat das Warten ein Ende. Die Sessions-Eröffnung in den Balloni-Hallen hat begonnen. Bunte Riesenballons baumeln unter der Decke, Musik schallt aus den Boxen, kunstvoll verkleidete Jecken verteilen sich im Schummerlicht über den ganzen Saal. Einige Minuten nach Plan, um 20.41 Uhr, sagt die Moderatorin „Buntes Herz“ an. Die beiden Pinguine Machmud und Bazzam betreten die Bühne, Bassist Manuel in seinem schwarz-gelben Overall und den Kunststoff-Fühlern, einer nach dem anderen. Die ausverkaufte Halle klatscht. Bloß Abdul wartet noch, er wird separat zum zweiten Song als Yaldash Hameedi die Bühne betreten. Mittlerweile steckt er in seinem Cowboy-Kostüm: Sonnenbrille, schwarze ärmellose Weste, breiter Hut; das Mikro hat er dorthin gesteckt, wo im Halfter normalerweise die Pistole ruht.
Schon nach dem ersten Lied hat die Band das Publikum auf ihrer Seite, Janus Fröhlich, der hier allen ein Begriff ist, macht den Einheizer. „Der Mahmoud singt jetzt Kölsch, der Mahmoud singt jetzt Kölsch!“, ruft er ins Mikrofon. Mahmoud konzentriert sich kurz und spricht durchs Mikrofon zum Publikum den Satz, den sie als Scherz geprobt hatten: „Warum lachet und furzet ihr nicht? Hat euch die Musik nicht geschmacket?“ Kölsch verfehlt, aber egal; ein Flüchtling, der solch einen deutschen Satz sagen kann, ist fast genauso kurios.
Crescendo aus Klatschen und begeisterten Pfiffen
Dann wird Yaldash Hameedi angesagt. Abdul betritt die Bühne. Er geht erhobenen Hauptes zum Mikrofon-Ständer, blickt entschlossen ins Publikum, spannt den sehnigen Körper zu seiner ganzen Größe auf, hebt die linke Hand weit und ausladend wie zum Gruß. Keine Spur mehr von der Scham oder der Unsicherheit am Tag zuvor. Yaldash Hameedi ist da. Er holt tief Luft – und setzt an. Sein Gesang, von Bazzams zögernden Gitarrenklängen untermalt, erfüllt den Saal. Das Schlagzeug setzt wenig später ein, Sebastian am Bass, Janus Fröhlich am Harmonium, das Tempo wird flotter. „Degar Ashkam Marez“ heißt der Song, eine Coverversion des bekannten afghanischen Sängers Ahmad Zahir, Yaldash singt sie auf Dari. Immer schneller wird der Takt, „und jetzt alle zusammen!“, befeuert Yaldash das Publikum. Die Menge klatscht und beginnt zu tanzen, die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, der Song endet in einem Crescendo aus Klatschen und begeisterten Pfiffen aus dem Publikum.
Nach dem Auftritt im Backstage-Raum: Großes Gewusel zwischen jenen, die noch auf ihren Auftritt warten, und denen, die gerade von der Bühne kommen. Glühende Gesichter bei Abduls Band-Kollegen, Sylke ist happy, „war doch super!“, ruft sie begeistert. Ex-„Höhner“ Janus Fröhlich ist auch zufrieden, „das war musikalisch unser bester Auftritt bis jetzt, da hat alles gepasst“, sagt er fachmännisch. Abdul aber wirkt zittrig. Ein Mann läuft auf ihn zu, packt seine rechte Hand, will sie schütteln, „geil, dat war richtig geil!“, sagt er überschwänglich. Doch Abdul steht daneben und versteht ihn nicht. „Gut, gut!“, sagt er gequält, einfach, um eine Antwort zu geben, obwohl er den Mann nicht kennt.
Dann trinkt er erst einmal ein Kölsch. Und danach noch eins. Er hält das schmale Glas, als wolle er sich daran festhalten. Suchend blickt er im Raum umher, über all die Karnevalsperücken, Frikadellenbrötchen und betrunkenen Gesichter hinweg. Yaldash Hameedi ist in diesem Moment nicht mehr Yaldash Hameedi. Sondern einfach nur ein junger Mann aus Afghanistan, Abdul, der aussieht, als wisse er nicht mehr, wieso er ein Cowboy-Kostüm trägt und wie er an diesen Ort geraten ist.
In seiner Heimat wird heute, am 11.11., die zweite Folge der neuen Staffel „Afghan Star“ ausgestrahlt.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Produktion: Susan Mücke; Fotos: Esther Göbel.