Das klingt vielleicht nach einer banalen Frage, aber wie verständigt man sich am allerersten Schultag, wenn ein Dutzend Kinder vor einem sitzt – und keines von ihnen versteht ein Wort?
Über Mimik und Gestik, über Wiederholungen. Das erste, was ich gesagt habe, war: „Ich bin Frau Seifert“, dabei habe ich meine Hand genommen und auf meine Brust gelegt. Dann habe ich nach und nach auf jedes der Kinder gezeigt und gefragt: „Und wer bist du?“ Das hatten die schnell verstanden. So haben wir dann immer weitergemacht. Über Bildkarten, anhand des eigenen Klassenraums. Welche Dinge sehen wir dort? Einen Tisch, einen Stuhl, aha, hier eine Tafel. Wie heißen unsere Körperteile? Mein Kopf, mein Arm, mein Bein. Was spielt sich draußen vor dem Fenster ab? Ein Vogel fliegt, die Sonne scheint, es regnet. Und wenn gar nichts mehr hilft, gibt es für den Notfall ja noch GoogleTranslate.
Mit wie vielen Kindern sind Sie gestartet?
Am Anfang waren zwölf Schüler in meiner Klasse, im Durchschnitt waren es später aber 13 bis 14. Im ersten Halbjahr hatte ich auch noch alle Altersklassen, von sieben bis zwölf Jahren also. Im Februar dieses Jahres ist dann eine Kollegin hinzugekommen und wir haben eine weitere Willkommensklasse eröffnet. Die Kinder der Startklasse kamen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, wobei ja immer wieder welche die Klasse verlassen haben oder neue hinzugekommen sind, alle zwei Monate etwa. Zum Beispiel stieß im Mai ein zwölfjähriges Mädchen aus Irland hinzu oder eine Schülerin aus Bulgarien, die aber überraschenderweise nur Türkisch sprach.
Ich stelle mir Ihre Arbeit wahnsinnig schwierig vor; wie schafft man den Spagat, beispielsweise ein 12-jähriges Mädchen aus Irland, das bereits sechs Jahre Schule hinter sich hat, und einen 7-jährigen Jungen aus Syrien, der noch nie eine Schule von innen gesehen hat, gleichermaßen gut zu unterrichten?
Das ist natürlich sehr schwierig, man kann es nur versuchen. Indem man jedem Kind den Lernstoff zur Verfügung stellt, der für die jeweiligen Bedürfnisse wirklich notwendig ist. Ich hatte außerdem viermal in der Woche Unterstützung durch eine Erzieherin, so dass ich die Klasse besser aufteilen konnte in einzelne Gruppen. Jedes Kind in der Willkommensklasse hat zudem eine reguläre Patenklasse, die ungefähr vom Alter her passt und in der es einige Stunden pro Woche verbringt. Das Mädchen aus Irland beispielsweise hat in ihrer Patenklasse immer den Englisch- und Sportunterricht besucht.
Wie sieht ein typischer Unterrichtstag bei Ihnen aus?
Es gibt keine offiziellen Vorgaben, wie ein Tag in einer Willkommensklasse abzulaufen hat; jede Schule entscheidet das individuell. Bei uns sind für die Flüchtlingskinder jeden Tag fünf Schulstunden vorgesehen und eine Förderstunde wöchentlich, in der ich mit einer kleinen Gruppe oder einzelnen Schülern Themen behandle, die ihnen besonders große Schwierigkeiten bereiten. Morgens um acht geht’s los. Wir besprechen das Tagesthema. Im Mittelpunkt steht natürlich der Deutschunterricht. Andere Fächer wie Mathe oder Sachunterricht werden aber auch berücksichtigt, weil viele Kinder in diesen Fächern große Defizite haben. Die erste Lernphase geht bis etwa 09.15 Uhr, dann frühstücken wir alle zusammen. Anschließend haben die Kinder eine Hofpause. In der dritten Stunde geht es je nach Verfassung mit dem Unterricht weiter oder wir spielen. Durch das gemeinsame Spielen lernen sich die Kinder besser kennen und trainieren ihr Sozialverhalten. Um elf Uhr gehen wir zusammen in die Schulkantine, danach läutet es zur zweiten großen Pause. In der fünften Stunde sind die Kinder oft ziemlich knülle und können sich nicht mehr gut konzentrieren. Da gehen wir meistens raus, spielen Fußball oder basteln im Klassenraum.
Sie haben die allererste Willkommensklasse an Ihrer Schule übernommen, morgen geht für Sie das neue Schuljahr los. Welche ist die wichtigste Erkenntnis nach einem Jahr Arbeit mit den Flüchtlingskindern?
Die überraschendste Erkenntnis war für mich eigentlich: Die Kinder in meiner Klasse sind ganz normal.
Wie meinen Sie das?
Ich hatte erwartet, dass sie von Flucht und Krieg stark traumatisiert sein würden, was sich in dem Maße aber nicht bewahrheitet hat. Zumindest hat sich das im Unterricht nicht gezeigt. Ich bin zwar keine Trauma-Psychologin, kann also keine Diagnose stellen. Aber ich hatte den Eindruck, dass die Schule den Kindern so gutgetan hat, dass sie manche schlimmen Dinge, die sie auf der Flucht oder noch in ihren Heimatländern durchleben mussten, zumindest für einen bestimmten Zeitraum vergessen konnten. Meine Schüler haben sich eigentlich ähnlich verhalten wie die Kinder in den Regelklassen; manchmal hatten sie Lust auf den Unterricht, manchmal nicht. Manchmal waren sie bockig und haben rebelliert, manchmal nicht. Die Normalität der Kinder in ihrer Fremdheit war erstaunlich.
Bekommen die Flüchtlinge an Ihrer Schule eine psychologische Betreuung?
Leider nein. Das lässt sich häufig auch gar nicht realisieren, weil die personellen Kapazitäten nicht vorhanden sind. Und so viele ausgebildete Therapeuten, die die jeweilige Muttersprache sprechen, also beispielsweise Farsi oder Arabisch, gibt es in Berlin auch gar nicht.
Was dachten Sie, als Sie im vergangenen Oktober am allerersten Tag vor Ihrer Klasse standen? „Das schaffen wir!“ oder „Das schaffen wir nie im Leben!“?
Ich habe immer gedacht: „Ja, wir schaffen das!“ Von Anfang an und ohne Zweifel. Eine wirkliche Krise oder konkrete Sorge, dass ich die Arbeit in der Klasse nicht schaffen könnte oder mit den Schülern scheitern würde, hatte ich nie.
Woher kam diese Zuversicht, wo doch ganz Deutschland trotz der anfänglichen Welle der Euphorie diskutierte, ob die Ankunft so vieler Menschen gut zu bewältigen sei oder nicht?
Ich war hoch motiviert. Diese Arbeit mit den Kindern hatte ich mir ja gewünscht, sie war mir ein dringendes Bedürfnis. Ich wollte diesen Austausch und hatte mich gezielt auf die Stelle beworben. Und ich hatte auch das Gefühl, dass ich diese Herausforderung schaffen kann. Obwohl natürlich von Anfang an klar war, dass ich in einer Willkommensklasse nicht nur eine Deutschlehrerin sein würde, sondern auch Erzieherin, Ersatz-Mutti, Sozialpädagogin und Ansprechpartnerin für die Eltern. Und zwar in einem viel stärkeren Maße, als das in jeder Regelklasse schon der Fall ist.
Was war das größte Problem im vergangenen Jahr?
Die große Heterogenität der Gruppe insgesamt. Angefangen von der Altersdifferenz über die unterschiedlichen Arten der Erziehung bis hin zu den schulischen Voraussetzungen. Es gibt Kinder, die in ihren Herkunftsländern, also beispielsweise in Syrien oder Afghanistan, noch nie in ihrem Leben eine Schule besucht haben. Die kennen das System Schule gar nicht. Manche können selbst in ihrer Herkunftssprache nicht lesen und schreiben. Das liegt oft auch daran, dass diese Kinder mit ihren Eltern teilweise sehr lange auf der Flucht waren, manchmal jahrelang. Wenn zum Beispiel ein Kind aus dem Iran geflohen ist, auf seinem Weg nach Deutschland zwei oder drei Jahre im Libanon Zwischenstation gemacht hat und dann nochmal für ein paar Monate in der Türkei war, bevor die Reise weiterging nach Deutschland, dann fühlt sich dieser Weg für das betroffene Kind nicht zwingend an wie eine sehr lange Fluchtgeschichte – es ist aber trotzdem eine. Denn die Eltern sind in einer permanenten Wartehaltung. Schule wird dabei zur Nebensache. Weil es ums Überleben und Weiterkommen geht.
Sie haben es selbst schon angesprochen: die unterschiedlichen Schulerfahrungen der Kinder, die ihre Arbeit nicht leichter gemacht haben dürften.
Das ist in der Tat eine riesige Herausforderung. Selbst wenn die Flüchtlinge in ihren Ländern eine Schule besucht haben, hat die oftmals sehr anders funktioniert als bei uns. Das ist gerade für die Kinder aus den arabischen Ländern eine riesige Umstellung – viele von ihnen kennen die Prügelstrafe noch. Die Kinder haben ein ausgeprägtes Autoritätsverständnis, sind es nicht gewohnt, eigenständig zu arbeiten, ohne Anleitung des Lehrers. Sie sind es gewohnt, in Wiederholungen zu denken, zu funktionieren. Was an der Tafel oder im Buch steht: abschreiben. Was die Lehrerin sagt: nachsprechen. Aber selbst den Kopf anzuschalten, fällt diesen Kindern schwer.
Wie ist es mit den Eltern?
Die Eltern haben sehr viel Respekt vor mir als Lehrerperson, sowohl die Väter als auch die Mütter. Was ich sage, gilt. Ich bin aber oft auch Ratgeber für die Eltern. Manche kommen mit ihren Papieren zu mir oder wenn sie ein anderes Problem haben. Oft muss man auch Grundsätzliches erklären. Dass es für die Kinder gut wäre, wenn sie am Abend nicht erst um zehn, elf Uhr ins Bett gehen, wenn am anderen Tag Schule ist. Dass eine Tüte Chips oder ein Schokoriegel kein idealer Pausensnack ist oder dass bei uns an der Schule Prügeln und Schlagen nicht erlaubt sind. Von daher erziehen wir die Eltern gleich mit (lacht). Was ich sehr schade finde: Viele Eltern der Flüchtlingskinder, die in meine Klasse gehen, schicken sie an den Nachmittagen nicht in unseren Hort an der Schule. Dabei wäre das extrem hilfreich für die Kinder. Nur zwei aus meiner Klasse haben den Hort besucht im vergangenen Schuljahr.
Woran liegt das?
Vielen Eltern ist der Hort zu teuer. Es gibt für Flüchtlinge zwar den Berlin-Pass für bedürftige Familien, egal woher diese kommen, aber trotzdem müssen die Eltern noch einen geringen Eigenanteil tragen. Viele wollten das nicht und haben die Notwendigkeit eines Horts nicht verstanden.
Es wurde viel über das System Willkommensklasse diskutiert; manche Kritiker sind der Ansicht, die Flüchtlingskinder sollten schneller in das reguläre Schulsystem eingeschleust werden. Ihre Meinung?
Ich fände das nicht gut. Ich bin für ein behutsames Ankommen. Die Kinder sollen nach einem, maximal zwei Jahren von der Willkommens- in eine Regelklasse wechseln; selbst das ist kein besonders langer Zeitraum. Sie sind in Deutschland mit wahnsinnig vielen verschiedenen Eindrücken konfrontiert, die ständig auf sie einprasseln. Nicht nur die neue Sprache, die sie lernen müssen. Da sind auch noch eine völlig fremde Umgebung, eine neue Kultur, viele fremde Gesichter, andere soziale Regeln. Mit all dem müssen die Kinder fertigwerden – wie sollen sie das, wenn sie sofort in eine Regelklasse kommen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass den Kindern die Willkommensklasse als Rückzugsort sehr gut tut. Hier treffen sie andere Kinder, die in einer ähnlichen Situation stecken wie sie selbst und können sich ganz auf das Erlernen der neuen Sprache konzentrieren. Im Übrigen hilft die Institution Willkommensklasse auch den Lehrern einer Regelklasse. Denn die könnten sich neben dem normalen Unterricht nur sehr schwer adäquat um die Neuankömmlinge kümmern; wie soll ein Lehrer das inhaltlich bewältigen? In einer ganz normalen Mathe- oder Biologiestunde?
Wie ist die Stimmung an der Schule insgesamt?
Im vergangenen Herbst gab es eine unglaubliche Hilfsbereitschaft unter den Eltern. Hier stapelten sich gebrauchte Ranzen, Schulmäppchen und Anziehsachen. Immer, wenn etwas gebraucht wurde, war sofort jemand da und hat geholfen. Auch die deutschen Kinder aus den Patenklassen waren im Gros sehr engagiert. Die Euphorie in der Form hat sich mittlerweile gelegt, aber die Hilfsbereitschaft ist immer noch da.
Wenn Sie eine Sache verbessern könnten für die Institution Willkommensklasse, was wäre das?
Ich würde mir mehr pädagogisches Personal wünschen; es ist schon sehr anstrengend, eine Willkommensklasse die meiste Zeit allein zu unterrichten. Mit zusätzlichem Personal wäre es leichter, der Heterogenität in den Klassen gerecht zu werden. Dazu wäre auch eine einheitlichere Linie unter den Schulen schön.
Aus Sicht der Flüchtlingskinder: Gibt es für sie ihrer Meinung nach die reelle Möglichkeit, sich gut zu integrieren?
Ich denke schon. Die Kinder saugen Neues auf wie kleine Schwämmchen. Je jünger sie sind, desto schneller lernen sie. Rational können die Kinder das vielleicht noch gar nicht reflektieren, aber ich glaube, sie wissen die Schule insgesamt, auch die Willkommensklasse, extrem zu schätzen.
Aufmacher-Foto und Produktion: Rico Grimm; Redaktion: Susan Mücke.