Stellen wir uns vor, ein Türke schreibt ein Musical über die Gründung Deutschlands 1848 in Frankfurt und textet Gangsta-Rap darüber. Er klaut aus deutschen Heimatfilmen der 1950er genauso wie bei ausschweifenden Berliner Partys zu Zeiten der Weimarer Republik. Dann engagiert er Schwarze, Syrer und einige wenige Deutsche für sein Stück. Und die Hauptrolle spielt er selbst. Schon vor den öffentlichen Proben beginnt der größte Hype, den der deutsche Kulturbetrieb in den letzten Jahrzehnten gesehen hat: Merkel kommt, Gabriel, sowieso alle Schauspieler, Autoren, Chefredakteure – selbst die AfD findet das Stück unfassbar gut.
Das Ausländer-Ensemble tritt mehrfach im Kanzleramt auf, Merkel hält dem türkischen Rapper dabei Stichwort-Karten hin, die er zu einem Live-Rap verarbeitet. Der neue Star wiederum nutzt die Aufmerksamkeit dafür, Reformen und Hilfen für seine Heimat voranzutreiben. Und er verschafft endlich all denen Anerkennung, die seit Jahrzehnten hier leben, aber in Politik und Kultur immer noch viel zu wenig Teil der Gesellschaft sind.
Klingt abgedreht?
Man könnte die Geschichte auch so einleiten: 12. Mai 2009, Weißes Haus, Washington. Barack Obama ist seit vier Monaten Präsident und hat zu einem Gala-Abend mit Live-Auftritten in den East Room eingeladen, Thema: „The American Experience.“ Zum Schluss des Abends soll der 29 Jahre alte Sohn eines Puerto Ricaners auftreten, der seit einem Jahr am Broadway die Hauptrolle im Migranten-Musical „In the Heights“ spielt. Obamas Organisatoren hatten ausgerichtet: Lin-Manuel Miranda solle bitte einen Song aus dem Stück vortragen, schließlich habe er es selbst komponiert, betextet und dafür vier Tonys gewonnen – die wichtigste Auszeichnung der US-Musicalwelt. Doch Miranda hatte anderes im Sinn. Ob er auch einen Rap über Alexander Hamilton, den ersten Finanzminister der USA, singen könne? Die Organisatoren stimmten zu.
Was dann passiert, haben seitdem Millionen Menschen im Netz angeschaut. Miranda tappt linkisch auf die Bühne. Er ist aufgeregt: Er wird ein Lied singen, das er noch nie vorgetragen hat – vor einem Publikum, bei dem wohl jeder nervös werden würde. Barack und Michelle Obama sitzen in der ersten Reihe, George Washington schaut als Porträt auf ihn herunter. Miranda sagt, dass er an einem Hip-Hop-Musical über Alexander Hamilton arbeite. Alle lachen. Er fängt an zu rappen. Alle lachen noch mehr. Doch Miranda kommt in Fahrt. Und aus dem Lachen wird Jubel. Solch ein Auftritt, solch eine Musik ist noch nie dagewesen. Es geht Miranda nicht um den Lacher, es ist ihm ernst. Und es ist großartig.
https://www.youtube.com/watch?v=WNFf7nMIGnE
Auslachen, Zuhören, Begeisterung
Dieser Kreislauf hat sich für Miranda seitdem mehrmals wiederholt. Doch der Hype hat gesiegt: Aus dem ersten Song im Weißen Haus wurde im Laufe von sechs Jahren ein Liederabend, ein Musical im Off-Broadway gelegenen Public Theater und schließlich eines am Richard-Rodgers-Theater direkt am Broadway. In der Welt-Theaterhauptstadt gibt es spätestens seit diesem Umzug kein beliebteres Dinner-Thema. Zur Premiere am Broadway waren im August 2015 bereits 200.000 Tickets verkauft. Seitdem ist das Stück zusammen mit „Wicked“ und dem unkaputtbaren „König der Löwen“ der größte Umsatzbringer unter den mehr als 50 Stücken am Broadway. Karten bis Januar 2017 sind bisher zum Verkauf freigegeben. Sie sind längst ausverkauft, in Internet-Ticketbörsen kosten die günstigsten Schwarzmarkt-Tickets 650 Dollar. Ein 40 Dollar teures Begleitbuch, von Fans „Hamiltome“ genannt, hat sich in der ersten Woche 200.000 Mal verkauft und führt die Bestsellerliste der New York Times an. Grammy und Pulitzer hat das Stück bereits gewonnen, bei den Tony-Awards im Juni erwartet Show-Amerika einen historischen Sieg. Sechzehnmal ist es nominiert, so viel wie nie ein Musical zuvor.
Die Obamas waren mehrfach da
Barack Obama sagt über das Stück, es sei „das Einzige, auf das Dick Cheney und ich uns einigen können“. Michelle Obama sagt, es sei für sie das schönste Kunstwerk aller Zeiten, „und zwar aus allen Gattungen“. Die sonst nicht gerade als Indie-Pionierin bekannte Hillary Clinton brüstet sich damit, noch eine der öffentlichen Proben gesehen zu haben. Joe Biden war da, Paul McCartney, Anna Wintour, Beyoncé sowieso, kurz: Es ist das begehrteste Ticket der Welt-Theatermetropole.
Für diesen Erfolg gibt es neben der für die USA typischen Verliebtheit in die eigene Geschichte viele Gründe. Zuallererst einmal ist „Hamilton“ großartig gemacht: Hip-Hop und Musical verschmelzen zu einem neuem, zeitgemäßen Genre – aber ohne, dass das wie bei einer Integrations-Initiative bemüht pädagogisch daherkommt. Musicalfans bekommen dank sich steigernder Chöre und wiederkehrender Motive eine Prise „Les Misérables“, Hip-Hopper freuen sich über die hohe Qualität der schnellen Reime wie „The ten-dollar founding father/without a father/got a lot farther/by working a lot harder“ – das Zweieinhalbstunden-Stück besteht aus 24.000 Wörtern. Dazu gehören auch clevere Referenzen wie der Song „Ten Duel Commandments“, in dem die Macher vom vernünftigen Duellieren im 19. Jahrhundert erzählen. Der Titel ist eine Anlehnung an „Ten Crack Commandments“ von Notorious B.I.G. Selbst für Beatles-Fans und Brit Popper gibt es einige Songs. Roots-Drummer Questlove spricht vom relevantesten Album seit Michael Jacksons „Thriller“.
In Summe entsteht ein Stück, zu dem Zuschauer von 8 bis 80 Zugänge finden. Auch weil sich schon beim ersten Hören Melodien festsetzen und sich ab dann in zusätzlichen Schichten immer weiter aufschlüsseln. „Es raubt einem Zuschauer nicht nur den Atem, sondern es haucht einem totgeglaubten Genre neues Leben ein“, schrieb ein Kritiker. Er deutet damit auch an, dass schon einmal die Marginalisierten das Genre wieder belebt haben: Jüdische Einwanderer wie Leonard Bernstein kamen auf die Idee, Jazz als Schauspiel auf die Bühne zu bringen, um die Geschichte puerto-ricanischer New Yorker zu erzählen – an das Ergebnis „West Side Story“ erinnert man sich bis heute.
Macher Lin-Manuel Miranda – ein Superstar wie Beyoncé
Und da ist der Superstar des Stücks, Autor/Komponist/Texter/Hauptdarsteller Lin-Manuel Miranda, dank „Hamilton“ mit 36 Jahren auf der Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt im Time Magazine, „Genius“-Fellow und damit Empfänger des mit 625.000 Dollar dotierten Stipendiums der MacArthur-Stiftung, Komponist eines Songs für den neuen Star-Wars-Soundtrack. Für Fans bleibt er weiter zugänglich, indem er selbst regelmäßig bei der Ticketverlosung „Ham4Ham“ vor wartenden Fans vor dem Theater auftritt - und dabei auch mal gerne ausschließlich mit Zitaten aus „Les Miserables“ antwortet.
Dass seine Heimat Puerto Rico – obwohl es ein Außengebiet der USA ist, von vielen Amerikanern als Ausland gesehen – aktuell eine der schlimmsten Schuldenkrisen der letzten Jahrzehnte erlebt, nutzt Miranda für bewegende Kommentare in der New York Times und einen beeindruckenden Rap bei John Olivers Politik-Satire Last Week Tonight. Als Kritik aufkam, dass das Musical zu teuer für viele sei, entschied sich das Ensemble für zusätzliche Matinée-Vorstellungen. 20.000 New Yorker Schüler aus Problembezirken sind eingeladen und können dank Sponsoren die heißeste Show der Stadt für zehn Dollar sehen.
Und plötzlich wird Geschichte schwarz
Was uns vielleicht auch zum größten Verdienst von „Hamilton“ und seinen Machern bringt: Plötzlich ist da eine Debatte über diejenigen, die sonst nicht gesehen werden und keine Teilhabe am öffentlichen Leben haben. Sie werden hier zu Zuschauern, sie spielen die Hauptrollen und sie sind plötzlich Teil des kollektiven Gedächtnisses. Wie bei der Diskussion über „#oscarssowhite“ hat der Broadway ein Diversity-Problem; wenn Schwarze doch mal für eine Rolle engagiert werden, dann meist in ärgerlichen Klischee-Rollen: als Gangster oder Sklaven. Schon jetzt gibt es mit 1776 und Shuffle Along zwei weitere Stücke, die im „Hamilton“-Fahrwasser Farbige am Broadway endlich sichtbarer machen.
Es ist ein großer Kunstgriff Mirandas, alle wichtigen Rollen mit Migranten zu besetzen. Er selbst spielt als Sohn eines Puerto Ricaners den Gründervater, sein Feind Aaron Burr wird von Leslie Odom Jr. verkörpert, einem Schwarzen. Phillipa Soo, Hamiltons Frau Eliza, hat asiatische Wurzeln. Klingt wie aus dem Integrationshandbuch, hat aber enorme Schlagkraft: Da ist plötzlich ein Riesenerfolg für ein Stück, zu dessen größten Lachern eine Bemerkung Hamiltons und des französischen Generals LaFayette zählt: „Immigrants: We get the job done!“ Das Stück ist sich des Rassenthemas aber auch abseits dieser Kalauer bewusst. Wenn Burr Hamilton den Rat gibt: „Talk less, smile more!“, dann ist das letztlich der gleiche „Sei unauffällig und nett“-Tipp, den Beyoncé in „Lemonade“ beklagt.
Darunter liegt natürlich eine andere Frage: Wer darf über Historie bestimmen? Gehört die Geschichte der USA in die Hände weißer Männer? Das in die eigenen Legenden so vernarrte Land liebt plötzlich die Antworten, die „Hamilton“ auf diese Fragen gibt: „Amerika war schon immer ein Land der ehrgeizigen Aufsteiger und brillanten Außenseiter, der Männer und Frauen, die nicht bereit sind, ihre Chance verstreichen zu lassen“, heißt es im „Hamiltome“-Buch.
Hamilton selbst wird trotz großer Verdienste – unter anderem hat er die Einführung der Nationalbank durchgesetzt und gilt als unverzichtbar für das moderne Staatswesen der USA – weniger geschätzt als Weggefährten wie George Washington oder Thomas Jefferson. Zuvor hat er ein riesiges Werk an Schriften und Korrespondenz hinterlassen, immer davon getrieben, seine Chance im Leben nicht aufzugeben: „Not throwing away my shot“ („Ich werd’ meine eine Chance nicht verspielen“) heißt es dann auch in einem der Schlüsselsongs. Vergänglichkeit und der Wunsch nach einer Hinterlassenschaft im Leben: Auch solche Universalthemen sind es, zu denen viele Zuschauer einen Bezug herstellen können.
Hamilton, Obama und die Fragen: Wer lebt? Wer stirbt? Wer schreibt Geschichte?
Die fehlende öffentliche Anerkennung Hamiltons hat noch einen anderen einfachen Grund: Er starb deutlich jünger als die anderen, Geschichte wird von den Überlebenden geschrieben. Ein Kernsatz des Musicals zu diesem Thema ist George Washington in den Mund gelegt: „Who lives, who dies, who tells your story?“
Natürlich ist das dann auch wieder das Lebensthema eines anderen Einwanderersohns: Barack Obama. Die Entstehung des relevantesten Musicals der letzten Jahrzehnte fällt inhaltlich und zeitlich seltsam genau mit seiner Amtszeit zusammen. Kein Wunder also, dass der nach einer Wohltätigkeits-Aufführung im vergangenen Herbst auf die Bühne trat und sagte: „Die Idee Amerikas, die hier zu sehen war, besteht aus mehr als nur Zahlen, mehr als nur Statistiken. Es geht darum, wer wir sind, wer gesehen wird, wer anerkannt wird, wessen Version der Geschichte bestätigt wird.“
Ein Stück für die Sehnsucht nach einem Anti-Trump
Damit bildet das Stück auch eine Antithese zu dem Amerika, wie Donald Trump und dessen Anhänger es sich wünschen. Dort soll der weiße Mann das Sagen haben. Ausschließlich. „Hamilton“ setzt dem aber in Ton und Wort eine andere Version der Vereinigten Staaten entgegen, eine, die in der ersten Zeile schon fragt: „Wie kann das sein, dass ein Bastard, ein Waisenkind, der Sohn einer Hure, zu unserem Helden wurde?“ Die Antwort des kulturell interessierten Teil des Landes lautet: Weil ein solcher Aufstieg das ist, was uns ausmacht.
Aufmacherbild: MacArthur-Foundation. Der Abgebildete ist Lin-Manuel Miranda.