Die Flüchtlinge
Flucht und Grenzen

Die Flüchtlinge

Seit mehr als einem Jahr bestimmen die Flüchtlinge, die in großer Zahl nach Deutschland kommen, die Berichterstattung. Festung Europa, das Massengrab Mittelmeer oder die Balkanroute sind keine abstrakten Begriffe mehr, sondern täglich Thema in Deutschlands Wohnzimmern. Die wichtigsten Fragen im Überblick – mit Links zum Weiterlesen.

Profilbild von Dominik Ritter-Wurnig

1. Fangen wir von vorne an: Wieso kommen denn gerade jetzt so viele Flüchtlinge nach Deutschland?

Der UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, sagt, weltweit sind momentan mehr Menschen auf der Flucht als jemals zuvor. 60 Millionen Menschen fliehen vor Konflikten, Kriegen und Verfolgung – ungefähr so viele Einwohner hat Italien. Besonders viele fliehen wegen dem seit 2011 andauernden Krieg in Syrien (mein Kollege Rico Grimm hat hier die Hintergründe des Syrienkrieges verständlich erklärt) – Stand 15. April 2016 sind 4,8 Millionen Syrer ins Ausland geflohen, noch viel mehr sind im eigenen Land vertrieben. Die meisten syrischen Flüchtlinge verteilen sich auf die unmittelbaren Nachbarländer Türkei, Libanon und Jordanien (die stets aktuellen Daten des UNHCR gibt es hier). Auch die andauernde Gewalt im Irak und in Afghanistan sorgt dafür, dass sich viele Menschen auf den Weg nach Deutschland machen.

Insgesamt kommen immer mehr Flüchtlinge nach Europa; stärker steigt aber ihre Zahl in den reichen Ländern des europäischen Nordens. Jahrelang konnten Länder wie Schweden, Deutschland oder Österreich die Flüchtlingsfrage getrost ignorieren, da auf Grund der Dublin-III-Verordnung nur sehr wenige Flüchtlinge überhaupt bis zu ihnen kamen. Was genau Dublin III ist, kann man hier nachlesen. Kurz gesagt bedeutet es, dass jenes Land zuständig ist, in dem ein Flüchtling zum ersten Mal die EU betreten hat. Logischerweise haben dann Länder mit einer europäischen Außengrenze – wie zum Beispiel Griechenland – viel mehr Asylanträge zu stemmen.

Wegschauen: Statt die Papiere der offensichtlich illegal Eingereisten zu kontrollieren, dreht ihnen die Polizei den Rücken zu und schlendert weiter den Bahnsteig entlang.

Wegschauen: Statt die Papiere der offensichtlich illegal Eingereisten zu kontrollieren, dreht ihnen die Polizei den Rücken zu und schlendert weiter den Bahnsteig entlang. Foto: Dominik Wurnig

2. Wieso kommen so viele Flüchtlinge über den Balkan?

Kurze Antwort: Weil es die einfachste, sicherste und erfolgversprechendste Route nach Mitteleuropa ist – oder besser gesagt: war. Durch Grenzzäune und verstärkte Kontrollen ist die Balkanroute momentan dicht. Das heißt aber leider auch, dass wir uns wieder vermehrt auf Schreckensmeldungen von ertrunken Bootsflüchtlingen einstellen müssen, die immer größere Risiken eingehen. Das internationale Journalistenkollektiv The Migrants’ Files hat die Opfer gezählt: Von 2000 bis 2014 sind 23.000 Menschen auf der Flucht nach Europa gestorben.

Zurück zur ursprünglichen Frage: Was macht die Balkanroute attraktiv? In den letzten Jahren haben sich die Wege der Flüchtlinge und unerlaubten Einwanderer in die EU immer wieder verändert und verschoben (gut erklärt in diesem Artikel der SZ, aktuelle Zahlen auch von Frontex): von Marokko aus in die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, von Libyen oder Tunesien mit dem Boot nach Italien oder vom türkischen Festland auf nahe griechische Inseln.

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Befeuert von Gerüchten, angewiesen auf unsichere Informationen und mit viel guter Hoffnung suchten 2015 besonders viele Syrer und Iraker den kürzesten und sichersten Weg nach Mitteleuropa. Durch ihre schiere Zahl und geschickte Aktionen wie dem Marsch Tausender auf der ungarischen Autobahn Richtung Österreich konnten viele sich ihren Weg bahnen.

3. Wäre es nicht einfacher und billiger zu fliegen?

Klar, es wäre einfacher und sicherer mit dem Flugzeug nach Europa zu fliegen. Ein Ticket von Beirut nach Berlin gibt es schon ab 200 Euro, und auch die 600 Euro von Bagdad nach Berlin sind günstiger als ein Schlepper. Diesen sicheren Weg verhindert jedoch die EU-Direktive 2001/51/EC. Flug- und Schiffslinien werden dadurch gezwungen, die Kosten für eine Rückführung zu tragen, wenn ein Passagier nicht in das EU-Land einreisen darf. Das führt dazu, dass Flug- und Schiffslinien nur diejenigen Passagiere an Bord lassen, die ein Einreisevisum haben.

https://www.youtube.com/watch?v=YO0IRsfrPQ4

4. Gibt es keine Alternativen zu der gefährlichen Überfahrt mit einem Boot?

Doch natürlich; zumindest prinzipiell gibt es sogenannte Resettlement-Programme. In der Praxis funktioniert es so, dass das UNHCR besonders schutzbedürftige Personen identifiziert und Staaten diese dann im Rahmen eines Kontingents übersiedeln. Allerdings sind solche Programme stets nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Während es in den 28 EU-Ländern im Jahr 2015 laut Eurostat 1,3 Millionen Asylbewerber gab, wurde gerade einmal 6.245 Menschen durch solche Programme umgesiedelt.

„Weltweit stehen jährlich etwa 80.000 Resettlement-Plätze zur Verfügung. Diese verteilen sich regional sehr unterschiedlich. So nehmen die USA, Australien und Kanada beispielsweise deutlich mehr Flüchtlinge über Resettlement auf als europäische Staaten. Global betrachtet spielt Resettlement als Lösungsansatz eine relativ geringe Rolle, weil nicht wirklich viele Flüchtlinge davon profitieren können. Deswegen ist es auf solche Flüchtlinge begrenzt, die eine besondere Schutzbedürftigkeit haben, also auf Frauen, Kinder und Kranke oder solche, die weiterhin verfolgt werden. Für sie ist Resettlement häufig die einzige Möglichkeit, wirklichen Schutz zu finden, den sie im Erstzufluchtsland nicht haben.”
Politikwissenschaftler J. Olaf Kleist im bpb-Interview

5. Die Balkan-Route ist zu. Gibt es neue Fluchtrouten?

Die Erfahrung zeigt, dass Flüchtlinge und Schlepper schnell neue Routen entwickeln, wenn – so wie jetzt auf dem Balkan – der Weg versperrt ist. Vermutlich wird die Reise aber noch gefährlicher und beschwerlicher werden.

Flüchtlinge kommen oft mit nicht viel mehr als ihrer Kleidung am Leib am Wiener Hauptbahnhof an (September 2015).

Flüchtlinge kommen oft mit nicht viel mehr als ihrer Kleidung am Leib am Wiener Hauptbahnhof an (September 2015). Foto: Dominik Wurnig

6. Ich habe gehört, „Schengen ist gescheitert“ – aber was ist Schengen überhaupt?

Gemeint ist ein Abkommen, das einige EU-Staaten (Deutschland, Frankreich u.a. sind dabei, Großbritannien nicht) im luxemburgischen Ort Schengen getroffen haben. Zwischen den Schengen-Ländern gibt es keine Passkontrollen mehr an den Grenzen, und an Außengrenzen wird nach gemeinsamen Standards und Visaregeln kontrolliert.

7. Und dieses Schengener Abkommen ist jetzt gescheitert?

Nein. Das Schengener Abkommen ist nach wie vor in Kraft, jedoch haben viele Staaten vorübergehende Grenzkontrollen eingeführt. Deshalb schreiben momentan auch viele Kommentatoren, dass das Abkommen gescheitert sei – Pressekompass mit dem Überblick. Deutschland gehört zu den sechs Ländern, die wieder Binnenkontrollen eingeführt haben: Seit 13.September 2015 werden punktuell zwischen Österreich und Deutschland Pässe kontrolliert. Begründet wird dies mit dem Artikel 23, der „im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“ vorübergehend Grenzkontrollen erlaubt.

Wie lange die Grenzkontrollen noch bleiben, lässt sich schwer abschätzen. So hat Österreich gerade Bauarbeiten begonnen, um am symbolisch und wirtschaftlich wichtigen Brenner-Pass Kontrollen durchführen zu können – sehr zum Ärgernis der italienischen Politik. Bei all diesen Maßnahmen handelt es sich aber um punktuelle Einschränkungen des Abkommens – bisher will noch kein Spitzenpolitiker das Abkommen komplett begraben.

8. Wie viele Flüchtlinge kommen nach Deutschland?

Im Jahr 2015 wurden in Deutschland 476.649 Asylanträge gestellt – das sind mehr als doppelt so viele wie im Jahr davor (2014: 202.834). Zwar ist die Zahl der Asylanträge im ersten Quartal 2016 weiterhin hoch (181.405 in nur drei Monaten). Das hat aber auch mit einem Bearbeitungsrückstand beim zuständigen Bundesamt BAMF zu tun. Weil auf dem Balkan kaum mehr Flüchtlinge durchgelassen werden, kommen seit Mitte Februar immer weniger neue Flüchtlinge in Deutschland an. Laut Handelsblatt ist die Zahl der Neuankommenden von mehr als 2.000 pro Tag auf 247 gesunken.

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich hat die Zivilgesellschaft mit ihrem Engagement überforderte Behörden unterstützt. (Wien, September 2015)

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich hat die Zivilgesellschaft mit ihrem Engagement überforderte Behörden unterstützt. (Wien, September 2015) Foto: Dominik Wurnig

9. Ist Deutschland mit den Flüchtlingen überfordert?

Nein, nicht wirklich – aber die Behörden haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Im Herbst 2015 gab es zwar einige Monate, in denen die deutschen Behörden mit den vielen Neuankömmlingen überfordert waren, doch Tausende Freiwillige und die Wohlfahrtsorganisationen sicherten die Versorgung der Flüchtlinge mit Lebensmittel, Kleidung und Schlafmöglichkeiten. Christian Gesellmann berichtete für Krautreporter davon, wie einfache Bürger in dieser Situation über sich hinauswuchsen. Das zuständige BAMF hat inzwischen einen neuen Chef und noch viel mehr neue Mitarbeiter bekommen. Die Anzeichen mehren sich, dass der Rückstau an unbearbeiteten Anträgen nun kleiner wird. In nur kurzer Zeit aus dem Boden gestampft, stehen nun wieder viele Flüchtlingsunterkünfte leer. Bei Sprach- und Integrationskursen gibt es aber immer noch zu wenig Plätze.

10. Und wer sind die Flüchtlinge?

Der Großteil der Flüchtlinge ist männlich, muslimisch und relativ jung – auf jeden Fall viel jünger als die deutsche Bevölkerung. Auch deshalb meinen viele Experten, dass die Zuwanderung das Problem der Überalterung der deutschen Gesellschaft lösen könnte.

11. Bringen die Flüchtlinge Gewalt, Konflikte und Terror nach Europa?

Nein, so generell ist das nicht richtig. Es stimmt, dass es immer wieder Hinweise darauf gibt, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge gemischt haben. Die große Mehrheit der Flüchtlinge ist aber selbst vor ISIS und anderen islamistischen Gruppen geflohen. Dennoch kommt es immer wieder zu Anwerbungsversuchen von Salafisten und anderen radikalen Gruppen rund um Flüchtlingsunterkünfte. Wieso ISIS die Flüchtlinge hasst, hat Rico Grimm hier beschrieben. Schmiererei und brennende Flüchtlingsheime nehmen zu - ich habe recherchiert und herausgefunden, dass es sich bei Attacken gegen Flüchtlingsheime offenbar um eine Art Wochenendbeschäftigung handelt.

12. Kehren die Flüchtlinge bald wieder in ihre Heimat zurück?

Ähnlich wie in den 1970er Jahren gehen sehr viele Deutsche davon aus, dass die meisten neuangekommenen Menschen bald wieder in ihr Heimatland zurückkehren – zumindest sobald dort der Krieg vorbei ist. Die Realität ist aber: Die meisten Flüchtlinge sind gekommen, um zu bleiben, wie die BAMF-Flüchtlingsstudie 2014 zeigt.

Die Debatte steht noch aus, wie Deutschland damit umgeht, und ob es nicht so oder so inzwischen ein Einwanderungsland ist. Die Bundeszentrale für politische Bildung mit einem historischen Abriss zur Einwanderung in Deutschland.

Übrigens: Vor mehr als 300 Jahren kamen 200.000 Refugiés nach Deutschland und haben sich wunderbar integriert. Einer ihrer Nachkommen ist heute Innenminister.

13. Was macht das mit Deutschland?

Eines ist sicher: 2015 war ein aufregendes politisches Jahr. Noch vor kurzem wurde gejammert, als Angela Merkel Wahl um Wahl gewann, die große Koalition die Opposition an die Wand drückte und sich kaum jemand in Deutschland über irgendetwas aufregen konnte. Noch bei der letzten Bundestagswahl schienen alle Parteien (mit Ausnahme der Linken) Richtung Mitte zu streben. Die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge haben die Gesellschaft gespalten: Zwischen dunkeldeutschen Apologeten und Bahnhofsklatschern scheint manchmal Maß und Ziel vernünftiger Diskussionen verloren zu gehen.

Noch mehr als an der Wahlurne scheint die AfD bei den Medien Erfolg zu haben, wo breit über sie berichtet wird. Bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt profitierte die AfD jedenfalls aus der Flüchtlingskrise.


Aufmacherfoto: Eine Flüchtlingsfamilie steigt im September 2015 in Wien in einen Zug Richtung Deutschland; Foto: Dominik Wurnig.