Es schüttet, als das Flugzeug in Athen abhebt, es tröpfelt, als ich in Thessaloniki vor den Flughafen trete, es gießt, als zwei Freiwillige Hilfsgüter in ihren Transporter laden. Ich werde die beiden Deutschen ins Flüchtlingslager Idomeni nahe der griechisch-mazedonischen Grenze begleiten. Als wir dort ankommen, regnet es nicht mehr – trocken ist hier trotzdem niemand.
Eine kleine Teestube können die Menschen nur über einen schmalen Steg aus Steinen erreichen. Wenn sich zwei Menschen darauf entgegenkommen, muss einer in den Matsch. Wer hier Gummistiefel verkaufen würde, wäre morgen reich. Manche tragen nur Sandalen oder Tüten an den Füßen, die Planen der Zelte kleben an den Wänden. Die Feuchtigkeit ist überall. Sie treibt die Flüchtlinge aus ihren Zelten raus und wieder rein. Sie treibt sie dazu, kleine Plastikfeuer zu entzünden, an denen sie sich wärmen wollen, egal, wie es riecht und stinkt. Die Griechen hier im Norden sagen: So viel Regen haben sie zu dieser Jahreszeit schon sehr, sehr lange nicht mehr gesehen.
Das Wetter ist immer da, jeder sieht es. Deswegen muss man darüber eigentlich nicht reden. Aber das Wetter wird in Idomeni zum Akteur. Mit dem Wasser in den Pfützen steigt die Verzweiflung der Flüchtlinge – und über die werden sie wieder viel reden. Denn Tausende werden sich heute, am Montag, den 14. März, auf den Weg zur griechisch-mazedonischen Grenze machen. Sie wollen sie überqueren, obwohl sie offiziell geschlossen ist. Ich begleite sie. Ein Flugblatt hatte zu diesem Marsch aufgerufen.
Mit den Flüchtlingen in Idomeni wird Politik gemacht
Bis jetzt weiß niemand, wer es verfasst hat. Sicher ist nur: Die Autoren haben fahrlässig die Gesundheit der Flüchtlinge aufs Spiel gesetzt, um ihre Vorstellungen einer guten Flüchtlingspolitik durchzusetzen. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand die Flüchtlinge in Idomeni für seine Zwecke benutzt. Österreich und die Staaten des westlichen Balkans haben die alte Flüchtlingsroute blockiert und dabei die Bilder der elenden 12.000 im Lager Idomeni ebenso in Kauf genommen. „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen“, sagte Österreichs Außenminister Sebastian Kurz.
Ich bin seit zwei Wochen in Griechenland und war mir nicht sicher, ob ich es noch ins Lager Idomeni schaffe. Von Athen nach Thessaloniki, der nächstgelegenen großen Stadt, sind es mehr als 500 Kilometer. Dann kontaktierten mich Freunde eines Freundes. Sie suchen einen Journalisten, der sie begleitet, weil sie glauben, dass niemand die Zustände im Lager komplett zeige, immer nur Ausschnitte. Ich willige ein mitzukommen. Sie werden mich vom Flughafen abholen.
Auf mich warten Jonas und Christian, die zwei Deutschen, die mich eingeladen hatten. Sie haben drei harte, lange Tage hinter sich. Aber müde wirkt keiner von beiden. Jonas hatte ich schon ins Herz geschlossen, als ich ihn noch gar nicht gesehen hatte. Er spricht mit dem typisch Mannheimer Singsang und er spricht viel und mit fröhlicher Wucht und das ist gut so. Jonas ist so einer, den du zur Party einlädst, damit die Party läuft – und der noch zum Aufräumen bleibt. Christian neben ihm schweigt gerade viel. Gestern hat er viel geschrien, als sie neue Hilfsgüter im Lager abgeladen haben. Menschen, die frieren, stellen sich nicht in einer Reihe auf und warten geduldig bis sie dran sind, sagt er. Vor allem nicht, wenn du Schuhe verteilst. „Schuhe“, sagt Christian, „braucht hier gerade jeder.“ Der Schlamm, die weite Reise.
Die beiden kennen sich inzwischen gut aus. Sie waren unter den Ersten, die auf die Idee kamen, auch Paletten nach Idomeni zu fahren, als Brennholz, als Unterlage, um Abstand zwischen Zelt und Schlamm zu bekommen und als improvisierte Wellenbrecher beim Ausladen. In einem Lager abseits von Idomeni – es gibt mehrere nahe der Grenze - sind die Flüchtlinge etwas ungeduldiger und deswegen zupackender. Sie haben weniger. Dafür waschen sie den Transporter aus, wenn die beiden Deutschen abgeladen haben. In Idomeni können sie schon nicht mehr am Eingang ausladen, weil jeder weiß, dass der rote Transporter Dinge birgt, die Linderung der Feuchtigkeit und Kälte versprechen. Christian und Jonas würden der Menge nicht mehr Herr werden können. „Wir fahren ganz nach hinten“, sagen sie.
Am Eingang des Lagers steht ein himmelblauer Bus, mit einem Schild in der Fensterscheibe: „Bus nach Athen.“ Er ist verwaist und wird sich bis zum Abend dieses langen Tages nicht bewegt haben. Hinter dem Bus beginnt das Lager. Auf den ersten Blick wirkt es nicht so groß, wie man es erwarten würde, was daran liegt, dass die Zelte kreuz und quer verteilt auf den Feldern stehen. Aber als wir tiefer ins Lager hineinfahren, wird dessen Ausmaß klar: Zelte auf dem Schotter der Bahngleise, Zelte dicht an dicht auf dem begehrten Beton der schmalen Straße, auf der anderen Straßenseite: Zelte tief im Matsch. Dazwischen überall Rauch aus dünnen Feuern - und Kinder.
Ein Junge stochert gedankenverloren in ein paar glühenden Scheiten herum, während seine Mutter Socken sortiert. In einer gigantischen Pfütze, eher einer Art Teich, springen drei Kinder in Gummistiefeln umher. Hinter ihnen baumeln Ärmel und Hosenbeine ins dreckige Wasser. Ein Unglücklicher hatte seine Wäsche aufgehängt, bevor der Regen kam. Diejenigen, die mehr Glück haben, konnten Plastikplanen ergattern, die sie wie eine zweite Schicht über ihre nasse Wäsche hängen, die wiederum manche direkt in den Pfützen waschen.
Jonas steuert den Transporter in Schrittgeschwindigkeit durch das Lager. Er zündet sich eine Zigarette an und sagt, dass das alles nicht sein könne. „Alle sind hier ständig nur am Husten, vor allem die Kinder“. Und abends in der Tagesschau sehe man in 90 Sekunden ein bisschen was, aber wie es hier wirklich zugehe, wisse niemand in Deutschland. „Die reden nur über den EU-Türkei-Deal.” Der sei nichts anderes als Menschenhandel. Christian pflichtet ihm fast unhörbar bei.
Wir biegen in eine Kurve ein, die Zeltdichte nimmt ab. Jemand hat an die Wand eines Containers „Idomenis Ghetto“ geschrieben und tatsächlich steht hier das Wasser noch etwas höher, ist der Matsch noch etwas tiefer. Ein paar Hundert Meter hinter einer Reihe von Dixi-Klos hält Jonas an. Als ich aussteige, sehe ich wie ein Mann einen Rollstuhlfahrer einen Pfad hinabschiebt, an einer Mauer entlang, hinein ins Nichts der Idomeni-Peripherie, wo nur noch Felder sind. Die beiden sehen aus, als würden sie die ersten regenfreien Stunden nutzen wollen, um die Umgebung zu erkunden, und ja, auch vielleicht, um mal wieder Bäume, Felder, Holz zu riechen. Denn wer nur im Lagerkern herumläuft, spürt irgendwann nicht mehr, wie verpestet die Luft dort ist. Überall der Rauch der hundert Feuer.
Hier aber, wo Jonas und Christian angehalten haben, ist es fast friedvoll: Rechts ein weites grünes Feld, links eine Mauer, die sehr alt und sehr verwittert und deswegen sehr sympathisch aussieht. Und vor uns, wie die Könige, mit Schneekuppen: die Berge. Ruhig. Ewig.
„Wir sind ja ziemlich weit hinten hier“, sage ich. „Kommt da auch jemand?“ Und Jonas meint nur: „Mach dir da mal keine Sorgen. Das spricht sich schneller herum, als du dich umschauen kannst.“ Und tatsächlich: Aus der kleinen Schar von Kindern, die dem Transporter durchs Lager gefolgt war, ist nun eine stattliche Gruppe von älteren Frauen und jungen Männern geworden. Die Männer allerdings ziehen bald wieder enttäuscht ab, denn Jonas und Christian haben nur Decken und Frauen-Hosen geladen. Trotzdem gleicht die Verteilung einem Husaren-Stück: Unterstützt von einem Flüchtling versucht Jonas, die Gruppe in einer Reihe antreten zu lassen. Aussichtslos. Aber immerhin, zwei Reihen, das klappt. Über die Palette hinweg reicht Jonas die Kleidungsstücke weiter, die Christian aus dem roten Transporter herausbugsiert. Die Verteilung läuft jetzt, aber für mich gibt es nicht viel zu tun. Ich mache ein paar Fotos und gehe für einen Film in die Hocke, als plötzlich ein kleiner Junge vor mir steht, mich anschaut und mir dann ein Kuss auf die Wange gibt.
„Würdet ihr in Griechenland bleiben?“ - „Nein“
Es werden immer mehr Kinder, sie kommen durch ein Tor in der verwitterten Mauer gelaufen. Ich kann nicht erkennen, woher sie kommen, daher laufe ich ihnen entgegen und entdecke auf der rechten Seite eine große blaue Plane, unter der ein Feuer und vier paar Füße zu erkennen sind. Die Füße gehören zu vier Syrern aus Idlib und Damaskus und das Feuer halten sie mit einem cleveren, aber auch ziemlich dreckigen Mechanismus am Laufen: Aus einer Plastikflasche lassen sie Petroleum auf die Holzscheite tropfen, gerade genug, damit es weiter knistert – und leider zu wenig, so dass es qualmt. Immer wieder wischen sich die Jungs mit breiten Gesten und schmierigen Händen Tränen aus den Augen, während ich sie frage, was sie machen, wenn die Grenze nicht wieder geöffnet wird.
„Würdet ihr in Griechenland bleiben?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Die Situation ist im ganzen Land sehr, sehr schlecht.“
„Aber die Grenze nach Mazedonien ist ja zu. Würdet ihr auf Albanien ausweichen?“
„Vielleicht. Allerdings müssten wir dann wieder Schmuggler zahlen. Wir könnten das, wir haben noch etwas Geld. Aber viele hier sind sehr arm. Sie könnten sich das nicht leisten. Wir versuchen heute erstmal, die Grenze nach Mazedonien zu überqueren. 12 Uhr!“
Ich bin verwirrt: „Um Mitternacht?“
„Nein, nein. In einer Stunde geht es los.“
„Am helllichten Tag? Macht man so etwas nicht im Schutz der Dunkelheit?“
„Eigentlich schon. Aber wir werden sehr viele sein, Tausende.“
„Woher wisst ihr, wo ihr hinlaufen sollt?“
„Es gibt eine Karte.“
„Wo finde ich diese Karte?“
„Weiß nicht, uns hat auch nur jemand davon erzählt.“
Ich drehe mich um und laufe in Richtung des Weges, über den die Kinder kamen. Ein paar verlassene Häuser stehen auf dem Gelände, im Hintergrund eine Bahnhofshalle. Unter dem Blechdach treibt der Rauch in dichten Schwaden, und auf den Bahnsteigen campieren Hunderte, alles Eltern mit ihren Kindern – das ist hier, dank Überdachung, der „Familienbereich“. Auf dem Rückweg treffe ich auf eine Gruppe von Syrern und Flüchtlingshelfern, die gerade dabei sind, ein paar Bäume zu fällen. Als ich sie frage, ob sie von dem geplanten Marsch auf die Grenze gehört haben, nicken sie, wissen aber auch nicht viel mehr. „Das Eigenartigste ist: Die Karte soll mit ‘Kommando Norbert Blüm’ unterschrieben sein. Weißt du wer, dahinterstecken könnte?“ Ich schüttele den Kopf.
Dann ist es zwölf, es geht los. Sie gehen los.
An der zentralen Kreuzung, dort, wo die Bahnschienen das Lager in zwei Hälften teilen, sammeln sich immer mehr Menschen. Ich bin nicht der einzige Journalist, der von dem Gerücht gehört. Ein RTL-Team versucht herauszufinden, was passieren soll. Helfer stehen ratlos herum – und zwischendrin schieben sich immer wieder Flüchtlinge durch die Menge, mal mit Rucksack, mal mit ein paar Tüten. Sie meinen es ernst, sie wollen loslaufen.
Einer von ihnen wird von einer französischen Helferin aufgehalten. Sie redet auf ihn ein. Die Sorge verengt ihre Augen zu zwei schmalen Schlitzen.
„Du weißt nicht, was dich erwartet. Niemand kennt diese Route! Wir wissen nicht, ob sie sicher ist.“
„Das ist mir egal. Hauptsache, es passiert jetzt hier endlich mal etwas.“
„Sie können dich verhaften! Sie könnten dich verletzen!“
Inzwischen hat sich eine kleine Gruppe von anderen Flüchtlingen um die Gruppe gebildet. Alle mit Tüten, alle mit Rucksäcken. Sie wollen wissen, wie es weitergeht. Und ob sie weitergehen sollen.
„Was sollen wir machen? Sag es mir? Wir sitzen seit Wochen in diesem Lager fest.“
„Aber es ist DEIN Leben.“
„Wir wollen hier raus!“
„Dein Leben!“
Er hält kurz inne. Es scheint so, als sei zumindest seine Entscheidung schon gefallen.
Ein paar Meter weiter stehen ein Dutzend Helfer in einem Halbkreis um einen großen, kräftigen, bärtigen Mann herum. Er bläut den anderen ein: „Wir müssen so viele Flüchtlinge wie möglich überzeugen, nicht weiterzugehen! Denn diese neue Route hat noch niemand ausprobiert. Letzte Nacht haben 30 Leute versucht, nach Mazedonien zu gelangen, drei von ihnen sind ertrunken… und was passiert eigentlich, wenn die Flüchtlinge die mazedonische Grenze erreichen? Beim letzten Versuch haben die Mazedonier nur Tränengas eingesetzt. Was setzen sie heute ein?“ Die anderen nicken zustimmend, während im Hintergrund ein Polizei-LKW vorbeifährt, in Richtung des Dorfes Idomeni. Ausnahmsweise hat die ansonsten völlig tatenlose Polizei früher die Tatsachen erkannt: Dieser Treck ist nicht aufzuhalten.
Trotzdem tun die Helfer ihr Bestes, schicken die Schwangeren zurück, die Alten. Aber manche wollen nicht. In ruhigem Tempo laufen vielleicht 1.000 Mann los, begleitet von Helfern und Fotoreportern, die immer wieder nach vorne drängen, um gute Bilder zu bekommen. Viele Syrer und Iraker sind unterwegs, ein paar Pakistani, wenige Afghanen. Der Zug bildet gut die Nationalitätenverteilung im Lager ab.
Die Stimmung ist gelöst. Ich weiß nicht, ob diese Menschen wirklich glauben, über die Grenze zu kommen. Ein Junge fällt mir auf, er trägt ein Anonymous-T-Shirt, eine tolle Locke über der Stirn und ein beschwingtes Gemüt zur Schau. Er heißt Rafi, ein Teenager aus Syrien. „Skopje?“, fragt er mich und deutet den Weg nach oben. Er will wissen, ob es da wirklich nach Mazedonien geht. Skopje ist dessen Hauptstadt. Da ich es selbst nicht so genau weiß, zucke ich nur mit den Schultern. Hinter uns taucht sein Vater auf, seine Mutter. Sie lächeln mir freundlich zu. Ich kann nichts sagen, sie würden mich nicht verstehen.
Im Gespräch mit Rafi bin ich nach hinten gefallen, ich verabschiede mich und laufe nach vorne. Wir sind nun gut 30 Minuten gelaufen und der Zug wird inzwischen von mehreren, jungen Männern angeführt. Im Kleinen spiegelt sich jetzt hier, was im Großen in den vergangenen Monaten passiert ist. Die jungen Männer vorneweg, sie sollen schauen, ob der Weg frei ist – und die Frauen und Kinder weiter hinten. Die Anführer halten den Zug immer mal wieder an, einmal, um die Reihen zu schließen, einmal, weil plötzlich auf einer Hügelkuppe zwei pausbäckige Polizisten auftauchen, die aber bald mit ihrem Auto verschwinden.
Die Flüchtlinge respektieren die Polizeiblockade
Fünfzehn Minuten später wissen wir, wo sie hingefahren sind: Zu einem Trupp Bereitschaftspolizei, der die augenscheinlich wahnwitzige Aufgabe bekommen hat, diesen Zug aufzuhalten. Zwölf gegen 1.000. Aber die Flüchtlinge respektieren die Mauer, sie werden nicht aggressiv, sie greifen die Polizisten nicht an. Damit es so bleibt, drängen sich Helferinnen zwischen Flüchtlinge und Polizisten und reden auf beide Seiten ein. Als an der Seite zwei Jungs versuchen durchzubrechen, werden sie von den anderen am Kragen zurückgezogen. In der Menge schwingt sich ein Lied auf, kurz, bricht ab, zerfällt wieder in sich. Dann klatschen alle, rufen etwas. Und schließlich gibt der Chef der Polizisten das Kommando, die Straße freizugeben. Alle jubeln. Die Luft ist erfüllt von lauter „Thank you!“ mit stimmhaftem T, wie es so nur Araber sagen. Einer der beiden pausbäckigen Polizisten grinst bis über beiden Ohren.
Alle strömen an den Schildern der Polizisten vorbei, deren Knüppel baumeln schlaff neben den Oberschenkeln. Nach ein paar Minuten entscheide ich mich, nochmal auf Rafi und seine Eltern zu warten. Sie essen etwas, ich mache Fotos. Rafi fragt wieder: „Skopje?“ und will wissen, wo es liegt. Wieder kann ich nicht weiterhelfen. Dieses Mal will Rafi aber noch mehr wissen. „Skopje Polizei?“ Ich halte meine Handflächen auf den Boden gerichtet. „Vorsicht!“ will ich sagen. Nun zuckt er mit den Schultern. „Ich werde nach Deutschland laufen!“
Vorne gehen sie bereits weiter auf ein Dorf zu. Google Maps sagt mir, dass es der letzte Ort vor der Grenze ist. Wir verlieren den Anschluss an die Gruppe und sind fast allein, als wir den Ortskern erreichen. Andere Flüchtlinge stehen dort und rätseln. Sie laufen eine Straße hinab, ein älterer Mann tritt an sein Tor und verschließt es mit einer robusten Kette, winkt aber mit einem breiten Lächeln den Flüchtlingen zu und versucht geduldig, die arabisch beschriftete Karte zu entziffern, die ihm einer der Flüchtlinge hinhält. Es ist jene Karte, die vorher im Lager kursierte.
Darauf steht, dass es keine Züge oder Busse gebe, die die Flüchtlinge nach Deutschland bringen werden, sie im Gegenteil in die Türkei abgeschoben werden könnten, wenn sie in Griechenland bleiben. Die Chancen nach Deutschland zu gelangen seien viel höher, wenn sie bereits in Mittel- oder Osteuropa seien. Also sollten sie „zu Tausenden“ über die Grenze gehen, dann könne die mazedonische Polizei sie nicht stoppen. Unterhalb davon ist eine selbstgezeichnete Karte, auf der Idomeni eingezeichnet ist, die Grenze und ein Fluss. Ein Pfeil weist auf eine Stelle des Flusses, die trocken sein soll und deswegen überquert werden kann.
Als ich zu dem Fluss komme, ist er nicht trocken, sondern wild und stark. Die Regenmassen haben ihn anschwellen lassen, der halbe Balkan steht seit Tagen unter Wasser. Wer auf die Idee kommen konnte, dass ausgerechnet dieser Fluss einfach zu überqueren wäre, weiß ich nicht.
Gerade steigen vier Flüchtlinge, Zelte auf den Rücken, in das Wasser. Sie halten sich aneinander fest und schaffen es auf die andere Seite. Ein paar Meter flussabwärts ziehen diejenigen, die es geschafft haben, große lange Äste aus dem Gestrüpp und reichen sie den Menschen, die durch den Fluss wollen. Flüchtlingshelfer stehen in den Fluten und stützen die Wankenden auf ihrem Weg. Sie helfen, weil sie wissen, dass in diesem Fluss drei Menschen ertrunken sind. Irgendjemand hat ein Seil dabei, fünf paar Hände auf der einen Seite, fünf paar Hände auf der anderen Seite ziehen es straff. Entlang hangeln sich nicht mehr nur die jungen Männer, die sind schon auf der anderen Seite, die stehen schon wieder im Fluss und helfen, entlang hangeln sich jetzt die älteren Frauen, Väter, die ihre schreienden, weinenden Kinder quer über die Schulter legen, einmal den Fluss passieren, zweimal. Jene, die das Seil halten, brüllen. „Wir können bald nicht mehr! Immer nur einer! Immer nur einer!“
Ich wende mich ab und laufe zurück – obwohl noch immer Menschen den Fluss überqueren. Ich bin mit Jonas und Christian im Lager verabredet. Ich werde Tage brauchen, bis ich bemerke, dass diese Stelle hier nicht die Stelle war, die auf der Karte eingezeichnet war.
Ob es flussabwärts trockener gewesen wäre? Ich bezweifele es. Vielleicht flacher. Im Grunde ist diese Frage auch egal. Wer hat das Flugblatt verfasst? Ich stelle in den Tagen danach noch ein paar Erkundigungen an, gehe Gerüchten nach. Aber alle meine Versuche, etwas herauszufinden, bleiben erfolglos. Die anderen Helfer im Lager distanzieren sich in Interviews von der Aktion. Sie sagen, sie sei aussichtslos, unverantwortlich. Sie habe die Flüchtlinge in Gefahr gebracht.
Was sollte damit dann bezweckt werden? Vielleicht glaubten die Verfasser des Flugblattes wirklich, dass die Polizei nichts unternehmen würde, vielleicht glaubten sie wirklich, dass die Flüchtlinge einfach loslaufen könnten, zu Tausenden, und mit der schieren Wucht der Bilder, drei Tage vor dem sehr wichtigen EU-Türkei-Gipfel, die Grenzen wieder öffnen können. Das hatte ja schon einmal geklappt. Im September 2015, eine Ewigkeit von sechs Monaten her. Damals liefen sie von Ungarn aus über die Autobahnen nach Österreich. Sonderzüge. Applaus am Bahnhof. Merkel-Sätze. „Wir schaffen das!“ und „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Selbst, wenn es geklappt hätte: Sollte man gutgläubige Väter mit ihren Kindern auf den Arm durch einen eiskalten Bach schicken, um Flüchtlingspolitik zu verändern?
Als ich den Weg zurücklaufe, den ich gekommen war, kommen mir die Bereitschaftspolizisten von vorhin entgegen. Sie haben Verstärkung dabei. Sie sollen wohl zum Fluss, um den Übergang zu versiegeln. Hinter ihnen gehen weitere Flüchtlinge, nicht mehr so viele wie vorher, aber etwas hat sich geändert: Es sind sehr, sehr viele Kinder darunter. Gut die Hälfte ist jünger als zehn Jahre. Hoffentlich riegeln die Polizisten den Fluss wirklich ab.
Zurück im Lager treffe ich Jonas und Christian, die gerade dabei sind, eine neue Fuhre auszuladen. Sie stehen wieder ganz hinten, dort, wo die Felder beginnen, die Berge majestätisch thronen und das Tor zu dem alten Bahngelände führt. Ich gehe hinein, sehe ein kleines Mädchen in der Tür eines gelben Haus stehen. Sie schaut mich ängstlich an und ruft nach ihrer Mutter. Ich drehe mich nach rechts, hebe die blaue Plane. Die Jungs sind verschwunden. Nur noch die Petroleum-Flasche tropft und hält ihr Feuer am Laufen.
Am nächsten Morgen erfahre ich, dass die mazedonische Polizei alle Flüchtlinge festgenommen hat. Sie wurden zurück ins Lager geschickt. Manche von ihnen verbrachten die Nacht im Freien. Es herrschten Temperaturen um die Null.