Alleen im Herbst, Alleen in Gelb, die Felder haben Winterpause. Doktor Ballouz setzt den Blinker links – zweitausendachthundert Kilometer bis Beirut, fünf Kilometer bis ins nächste Dorf und fünfundzwanzig bis zur Bundesgrenze.
Die Scheibenwischer wischen ein paar Meter Blick frei. Aus dem Abendnebel kommen Lkw von vorn wie durch ein Portal, ihr Leuchten, Abblenden. Die Landstraßen sind nass, die Strommasten, Windräder, Bahnschienen, fliegen durch die Landschaft, schnell ist es dunkel geworden, der Nebel dichter. Und weiter. Durch die Orte. Nach Hohenreinkendorf. Nach Mark Landin. Über Kummerow. Nach Casekow. Chorin.
Doktor Ballouz trägt einen Mantel über dem hellen Hemd. Die breite Krawatte, eine, wie sie nur noch Männer tragen, die schon lange Krawatte tragen, ist zwischen dem vierten und dem fünften Knopfloch eingesteckt, war auf dem Weg aus der Praxis vom Wind umher gepeitscht worden vor der Brust, hatte gestört. Das Stethoskop hängt wie ein Schal über den Schultern, der Trabant macht einhundert Stundenkilometer, und er stöhnt. Der Motor gibt Wärme ab.
Sechs Patientennamen stehen auf dem Zettel, den Ballouz auf dem Armaturenbrett eingeklemmt hat. Sechs Patienten, die warten, die jetzt, am frühen Abend noch zu Hause besucht werden wollen.
Das Handy tönt. Frau Bennermann. Sie habe zuerst in der Praxis angerufen, ruft sie aus dem Lautsprecher. Sie wäre dann weitergeleitet worden und fragt nun in die Motorengeräusche des Trabants hinein, ob der Doktor noch bei ihr vorbei kommen könne.
„Doktor, Sie müssen kommen“, ruft Frau Bennermann.
„Der Doktor ist unterwegs“, schreit der Doktor zurück.
Fünfzehn Minuten später ist der Doktor da.
„Der Doktor is’ jut im Pieken“
Frau Bennermann wohnt allein, ihr Mann zog vor einem Jahr ins Pflegeheim. Sie holt aus nach einem Foto, darauf sitzt Herr Bennermann im Rollstuhl mit einem Partyhütchen auf dem Kopf und schaut heiter in die Linse.
„Das war der letzte Geburtstag, den wir hier hatten. Da waren sie kurz da, wissen sie das noch, Herr Doktor?“
„Ja, da hatten Sie Mandelcremetorte“, sagt Ballouz.
„An Ostern will ich ein paar Tage bei meinem Mann ins Heim einziehen, als Überraschung, als Geschenk, aber da dürfen Sie ihm nichts von erzählen.“
Frau Bennermann packt das Foto zurück ins Regal. Dann bekommt Frau Bennermann eine Spritze gegen die Schmerzen im Rücken. Sie zittert ein wenig, aber nur an den Händen und das sei normal.
„Der Doktor is’ jut im Pieken“, sagt sie.
Anfang der Zehnerjahre hatte Ballouz in dieser Gegend, nahe der Oder, nahe der polnischen Grenze, seine erste Praxis aufgemacht. Zwei Jahre später hat er sie wieder geschlossen. Aber Ballouz fährt für seine früheren Patienten, für alle, die selbst nicht mehr fahren können, weiter hierher.
Zweiter Besuch bei Familie Krieger, kurz hinter dem prächtigen Stadttor, es ist Viertel nach sechs, düsteres, frühabendliches Gartz. Unterwegs hat sich Ballouz am Telefon den Blutzuckerspiegel des Patienten Krieger durchgeben lassen. Eine Pflegerin wartet in der Wohnung.
„Schwester Sigrid, verstehe, 76, dann ist der Zucker in Ordnung. Die Magensonde läuft noch? Nach 76 haben Sie ihm noch Cola gegeben? Wie viel Cola? Das ist okay.“
Dann hatte Ballouz kurz angehalten, um zu tanken, um an der Kasse für den eigenen Zucker eine Tafel Schokolade zu kaufen. „Zucker zaubert“, hatte er gesagt.
„Die Leute haben wenig und teilen viel“
Es geht eine alte graulackierte Wendeltreppe aus Holz hinauf in die erste Etage, ein junger Mann, eine richtige Kante mit hellem Gesicht, öffnet die Wohnungstür, dahinter wartet eine junge Frau, dahinter eine ältere Dame, dahinter das Wohnzimmer und zwei Kinder und ein weiteres Zimmer, in dem das Krankenbett des alten Herrn Krieger aufgebaut steht.
Familie Krieger ist vor drei Jahren aus Polen hergezogen, weil die Mieten zu Hause plötzlich höher waren als in der Uckermark. Großvater Krieger liegt seit zwei Jahren in diesem Klappbett aus Kiefernholz, neunzig Jahre alt, zwei Fernsehgeräte laufen im Simultanbetrieb, polnische Kanäle, gute Unterhaltung.
Herr Krieger tippt sich gegen den Kopf und wispert dünne Worte. Er versteht nicht, was Ballouz ihm sagen will. Frau Krieger übersetzt so gut sie kann, die Chronik der laufenden Leiden: Abszess, Eiter, wundgelegen. Auch die anderen Kriegers sprechen kaum Deutsch, bewegen die Augenbrauen, die Schultern, und der Doktor probiert es so, körpert die Fragen, die Antworten federnd in den Raum.
„Ich gebe Ihnen etwas gegen die Kopfschmerzen, dann ist alles Dopsche“, sagt Ballouz.
„Dobrze“, sagt Frau Krieger, und sie lächelt, und auch der alte Krieger schaut nicht mehr ganz so betreten, lächelt jetzt selbst ein zahnloses Bisschen, die Wunde bekommt noch ein neues Pflaster, das schaut doch alles schon wieder ganz ordentlich aus, sagt der Doktor, und der Blutzucker, der sei auch in Ordnung.
Der Kopf von Herrn Krieger ist etwas tiefer ins Kissen gesackt, die Hände auf der Brust gefaltet, Trägheit der Augen, sein Ausatmen breitet schon den Geruch des Schlafes aus.
„Alles bestens“, sagt Ballouz.
„Dobrze“, sagt Frau Krieger.
Doktor Ballouz winkt und lässt den Motor an. Es geht weiter über Dörfer und Landstraßen, die B198, Kerkow, Ziethen, Angermünde.
„Die Entfernungen sind groß“, sagt Ballouz, „manchmal hätte ich gerne ein Flugzeug, wie in Australien, um schneller ins Outback zu kommen.“
Bei Brodowin kommt ein Bahnübergang. Da dann warten. Finger trommeln aufs Lenkrad, Beine schütteln, kleine Geduldsprobe.
Und starr geradeaus die Augen, kurze Müdigkeit, in der dieser Tag träumend für ein paar Augenhintergrundblicke verschwimmt: Straßen, Fahrten, Höfe, Häuser; Blätter, Schimmer, Spritzen; Herbstgelb, Herbstrot, Hüften. Hüftgold.
Und die Straße als Lichtung: Der Blick übers Land, die Fahrten sind kleine Pausen. Ballouz spricht im Dreisatz. Mehr zu sich selbst.
„Viel Arbeit. Alles alleine. Ist viel.“
Pause.
„Wird spät heute. Wie gestern. Da war es auch spät.“
Lange Pause.
„Guck mal. Ein See. Schöner See.“
Früher gab es keine Seen hier. Das Land lag unter Eis, das Eis schob die Landschaft zu Hügeln auf. Das Eis brachte Steine, legte Steine frei und wurde später das Wasser.
Grundmoräne, Endmoräne – so viel zur Beschaffenheit. Die Uckermark, Schatzkasten der Natur.
Über dem See liegt Dunst, eine Bahn fährt vorbei, die Schranke hebt sich, los jetzt, jetzt aber los.
„Wir müssen uns beeilen.“
Rasch durch den Regen, Vorsicht, Wild, den Mittelstreifen als Ideallinie entlang, geisterfahrerhaft wie irr, auf den Gegenspuren in die Kurven. Das Thema des nächsten Hausbesuchs: Wie den Magen schonen. So jedenfalls nicht.
Im Ortsinneren steht gefühlt jedes zweite Haus leer. Einfamilienhäuser mit und ohne Familien, verwachsene Spießigkeit, kleiner, hingeduckter Backstein. Man hat, so scheint’s, die Vorgärten aufgegeben. Es kommt ja doch keiner mehr.
„Die Leute haben wenig und teilen viel“, sagt Ballouz.
„Man ist sehr solidarisch miteinander. Viele sind arm, aber sie müssen das nicht unbedingt verbergen.“
Frau Sachs hat Kaffee gemacht. Herr Sachs sitzt in felsenfester Fernsehzuschauerposition, aber das Gerät ist nicht eingeschaltet. Er schüttelt die Hände, sitzt dann weiter unbeteiligt da wie zuvor. Herr Sachs hatte einen Schlaganfall, seitdem bleiben sie zu Hause. Gefahren war immer er, sie hat keinen Führerschein, in der Garage steht ein Auto und welkt.
„Ich weiß auch nicht, Herr Doktor.“
„Haben Sie zu viel Abführmittel genommen?“
„Niemals! Ich habe immer nur Leinsamen genommen und so was.“
„Sonst nichts?“
„Sennesblättertee habe ich ein paar Tage versucht, aber die Wirkung wurde auch immer weniger.“
Überall viel Platz, auf den Straßen, um die Häuser herum, auch der Wohnraum ist großzügig, wenig Möbel, viel Zeugs.
„Nach oben gehen wir fast gar nicht mehr”, sagt Frau Sachs.
Sie könne auch noch etwas singen, sagt sie.
„Also für ein Lied hab ich noch Zeit“, sagt Ballouz, „haben Sie Lust?“
Frau Sachs rückt sich auf dem Sofa zurecht.
„Vielleicht doch lieber das nächste Mal“, sagt sie, und Ballouz reißt sich hoch und gibt ihr die Hand.
„Schon?“
Schon. Geht wieder weiter, eine Hatz, ein großer Spaß, Schritte im Kies, Schritte im Gras, der Doktor hat seine Tasche im Haus vergessen, rauscht hin und her, auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, Anrollen, Abbremsen, dann eine Kreuzung, Trabant-Begegnung, die Busfahrernummer, Hupen, Handzeichen, klar, hallo Freund, alles okay bei dir?
Alles okay.
„Engstirnige Lokalpatrioten“
Vielleicht ist der Trabant für Ballouz deshalb das unbedingt richtige Auto, weil er mit einem schnelleren noch viel schneller noch viel weiter käme. Manches braucht manchmal auch ein bisschen Zeit. Er muss sich zähmen. Mehr geht nicht ist auch der Satz, mit dem er gelegentlich von anderen gebremst werden muss. Geduld, sagte eine der Auszubildenden in der Praxis, das sei nicht der Hashtag, mit dem man den Doktor erreicht. Andererseits scheinen Ballouz’ hohes Tempo und die Langsamkeit der Alten, die den Doktor immer gern länger dabehalten würden, zusammenzufinden, oder sie finden nicht zusammen, und dann funktioniert es trotzdem.