Warum ISIS die Flüchtlinge hasst
Flucht und Grenzen

Warum ISIS die Flüchtlinge hasst

Jeder Syrer und Iraker, der sich nicht ISIS anschließt, ist der lebende Beweis, dass das sogenannte Kalifat von ISIS nicht lebenswert ist. Die sonst so effiziente Propaganda-Maschine der islamistischen Miliz kann dem nichts entgegensetzen. Die Terroranschläge von Paris sind auch Zeichen dieser Hilflosigkeit.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Lange Zeit war die Geschichte von ISIS die Geschichte eines einzigartigen Propaganda-Erfolges. Die Enthauptung westlicher Journalisten, die langen Reihen von Toyota-Pickups voller vermummter Kämpfer, die durch die Wüste fahren. Diese Bilder gingen um die Welt und prägten sich ins kollektive Unterbewusstsein ein.

Jetzt aber bekommt die Öffentlichkeitsmaschinerie der Miliz Probleme – und ausgerechnet die schwächsten Akteure des Syrien-Krieges sind dafür verantwortlich: die Flüchtlinge. Weil ISIS sein Herrschaftsgebiet als eine Art gelobtes Land für Muslime vermarktet, ist jeder Muslim, der lieber nach Europa flieht, der lebende Widerspruch, der Beweis, dass das ISIS-Land nicht so attraktiv ist wie versprochen. Und jeder gute Werber weiß, dass man leicht geschönte Dinge in der Werbung versprechen kann und wenige verkaufsfördernde Dinge einfach unter den Tisch fallen lassen kann. Was sie aber niemals machen dürfen, ist lügen. Das fällt auf, das ist unglaubwürdig.

ISIS eilte von Propaganda-Erfolg zu Propaganda-Erfolg

Bisher musste ISIS nicht lügen. Ihnen spielte in den vergangenen 18 Monaten fast alles in die Hände. Mit ihrem minutiös orchestrierten Überfall auf die irakische Millionenstadt Mossul gab sich die Miliz einen Nimbus der militärischen Unbesiegbarkeit, den schlechte Rechercheure wie der viel gelesene Autor Jürgen Todenhöfer und selbst seriöse Medien weitertrugen. Todenhöfer etwa schrieb, dass „400 ISIS-Kämpfer 25.000 hochmodern ausgerüstete irakische Soldaten und Milizen in die Flucht geschlagen“ hätten. Dabei war Mossul schon gefallen, bevor auch nur ein Schuss abgegeben wurde. Denn ISIS hatte sich mit den lokalen sunnitischen Kräften verbündet, die Stadt schon Monate vorher unterwandert und wusste sehr genau, dass die vielleicht 10.000 Sicherheitskräfte in der Stadt schlecht ausgerüstet und demoralisiert waren. Und ISIS griff auch nicht mit 400 Mann an, eher mit 2.500. Ein sensationeller Propagandaerfolg.

Bisher war der Schock Strategie von ISIS – und die war so erfolgreich, dass etwa Friedemann Karig den unbedarften Social-Media-Nutzern des Westens eine neue „Ethik des Teilens“ verordnen wollten. Denn jeder, der die grausamen ISIS-Bilder weiterträgt, hilft der Miliz ungewollt. Tausende Kämpfer konnte ISIS aus dem Ausland im vergangenen Jahr rekrutieren, auch aus Europa, aus Frankreich, Belgien, Deutschland. 12.000 Ausländern sollen nach Angaben des US-Außenministeriums für ISIS gekämpft haben seit der Krieg begann. Ohne Propaganda gäbe es diese Rekruten nicht.

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ISIS kann sich dabei auf tausende Accounts auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen wie „Twitter“ oder bei dem Messenger „Telegram“ stützen. Jede Nachricht, die die Führer und Prediger der Miliz verbreiten, wird von ihren Anhängern in der ganzen Welt tausendfach verstärkt. Potenzielle neue Mitglieder spricht die Miliz persönlich und mit viel Geduld an.

Eine zentrale Rolle spielt auch „Dabiq“, das englischsprachige Magazin von ISIS, das jeden Monat erscheint. Darin gibt die Redaktion etwa Anweisungen, wie sich ein ISIS-Dschihadist gegenüber seinen Eltern verhalten muss und andersherum, dass Eltern ihren Kindern den Dschihad nicht verbieten dürften. Sie erklärt auch, was von den anderen islamistischen Milizen in Syrien zu halten ist und markiert die neuen Grenzgebiete des Kampfs. Bisher sind zwölf Ausgaben erschienen. Die aktuelle Nummer macht mit einem Bild von den Paris-Anschlägen auf. Der Titel „Gerechter Terror“. Die Anti-Extremismus-Organisation Clarion Project archiviert die Ausgaben hier.

All diese Teile, die Videos, das Magazin, die Social-Media-Accounts, griffen bisher eins in eins ineinander. Denn die Botschaft von ISIS war einfach und klar: Wir gehen den einzig wahren Weg. Der Westen ist böse, Schiiten sind böse, Ungläubige sind böse. ISIS will mit dieser Botschaft die Grauzone abschaffen, „in der Muslime und der Westen friedlich koexistieren“, schrieb Youssef Osman am Montag auf Krautreporter.

ISIS hat keine einheitliche Botschaft an die Flüchtlinge – das zeigt die Verunsicherung der Miliz

Aber diese einheitliche Botschaft kann ISIS bei den Flüchtlingen nicht formulieren. Das zeigen Videos, die zwar knapp zwei Monate alt sind. Aber die Anschläge in Paris dienten gerade dazu, eine anti-muslimische Reaktion in Europa zu provozieren, gegen diejenigen Muslime, die schon hier leben, und diejenigen, die gerade nach Europa kommen. Deswegen sind diese Videos aufschlussreich. Aaron Y. Zelin hat eine Übersicht auf seinem Blog Jihadology erstellt. Hier sind einige ausgewählte Kernbotschaften:

  • Muslime sollten in einem Land leben, in dem die Scharia, das islamische Gesetz, durchgesetzt wird. Die „Juden und Christen“ hätten nicht die Interessen der Flüchtlinge im Sinn. Sie würden sie zwingen zu konvertieren, wenn sie in deren Ländern bleiben wollten. Um das zu belegen, führt ISIS zum Beispiel das französische Verbot des Gesichtsschleiers an.
  • In einem anderen Video erklärt der Sprecher, dass Religion der einzige Grund für den Krieg von ISIS gegen die „Ungläubigen“ sei. Wer in nicht-muslimische Länder fliehe, falle vom Glauben ab.
  • ISIS zeigt Segmente aus Nachrichtensendungen, die beweisen sollen, dass Flüchtlinge in Europa sehr schlecht behandelt werden. Und wer nach Europa gehe, könne zudem nicht mehr ins Paradies kommen, heißt es in der Aufnahme.
  • Die nächste Botschaft spielt auf die ethnischen Spannungen in Syrien an: Ein Prediger behauptet, dass Europa nur deswegen Flüchtlinge akzeptiere, weil es den Anteil der nicht-muslimischen Menschen in Syrien erhöhen will, um ISIS zu besiegen.
    Immer wieder zeigt ISIS in diesen Videos auch das „normale Volk“, Menschen, die ihr Unverständnis darüber ausdrücken, dass andere Muslime nicht im „Kalifat“ leben wollen. In einer der letzten Botschaften stellt jemand auch die falsche Behauptung auf, dass mehr Menschen zu ISIS fliehen würden als nach Europa.

Aber in keinem dieser Videos wird ISIS so konkret wie in seinem Magazin „Dabiq“. Das veröffentlichte einen Artikel, in dem es den Tod des Jungen Aylan Kurdi instrumentalisiert. Ein Foto seines Leichnams hatte die Welt bewegt. In einem Artikel, den die Redaktion mit „Warum es gefährlich ist, die islamischen Länder zu verlassen“ überschrieb, behauptet sie, dass Muslime eine große, gefährliche Sünde begehen würden, wenn sie nach Europa migrierten.

Mehr noch: “Es ist traurig, dass manche Syrer und Libyer bereit sind, das Leben und die Seelen derer zu gefährden, die sie nach den Gesetzen der Scharia erziehen sollten.“ In den westlichen Ländern seien die Muslime der ständigen Gefahr durch Drogen, Alkohol und Sodomie ausgesetzt. Die Flucht führe die “eigenen Kinder und Enkel dazu, den Islam für das Christentum, den Atheismus oder Liberalismus zu verlassen”. Während die rechtspopulistische Bewegung Pegida davor warnt, dass Europa islamisiert wird, warnt ISIS also davor, dass die Flüchtlinge europäisiert werden.

Die Flüchtlingskrise ist auch eine Krise von ISIS

Die ISIS-Botschaften an die Flüchtlinge zeigen laut der Experten der Soufan Group, dass die Miliz nicht in der Lage ist, eine zusammenhängende Strategie und Botschaft zu formulieren. Die Titel der Nachrichten machen das am deutlichsten: „Liebe Flüchtlinge, hört uns an“, ist ein sehr aktiver, selbstbewusster Titel. „An jene, die vertrieben wurden“, hört sich fast fürsorglich an. „Hinweise für die Flüchtlinge, die in die Länder der Ungläubigen gehen“, könnte auch einer offiziellen Bekanntmachung einer Behörde entstammen. „Und Er wird euch mit anderen Menschen ersetzen“, ist eine Drohung, eine Zurückweisung und Herabstufung.

Wer Menschen ansprechen will, die Freunde und Verwandte im Krieg verloren haben, die selbst traumatisiert sind, die kein Brot mehr kaufen können, weil die Schlangen vor den Bäckern mit Fassbomben beworfen werden - wer diese Menschen ansprechen will, sollte sensibel sein, auf die Zwischentöne achten können. Er muss fähig sein, in der Grauzone zu leben, in der nicht alles eindeutig ist, in der es Botschaften gibt, die sich widersprechen, die verwirren, in der man respektieren muss, dass der andere seine eigene Haltung, Geschichte und Identität hat. Aber das wollen die Dschihadisten nicht. Sie wollen die Grautöne überpinseln. Deshalb ist die Flüchtlingskrise auch eine Krise von ISIS.


Aufmacherbild: Flüchtlinge im Zug am slowenischen Bahnhof Dobova im November 2015; Foto: Rico Grimm

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