Der Innenminister ist ein Refugié
Flucht und Grenzen

Der Innenminister ist ein Refugié

Die Bevölkerung steht den Neuankömmlingen ablehnend gegenüber. Sie sehen merkwürdig aus, ihre Sprache ist unverständlich, die Religion fremd. Die Preise steigen, Wohnraum wird knapp. Eine der 200.000 Refugiés, die vor mehr als 300 Jahren Frankreich verließen, war Marie – die Ahnin eines heute einflussreichen Mannes.

Profilbild von Charlotte Jahnz

1685: Marie flieht mit ihren drei Kindern Marie, Paul und Susanne nach Kassel. Sie sind Religionsflüchtlinge, weil die Hugenotten, französische Protestanten, in ihrem Heimatland systematisch benachteiligt, bedroht und verfolgt werden.

Seit Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich die Lehre Johannes Calvins in Frankreich verbreitet und die Konkurrenz zum katholischen Glauben hatte zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt. Ein bekanntes Beispiel für diese Zustände ist die Bartholomäusnacht, in der vom 23. auf den 24. August 1572 ein Massaker an den Hugenotten verübt und ihre Anführer getötet wurden. Allein in Paris starben bei diesem Massaker etwa 3.000 Menschen.

Der Konflikt zwischen Hugenotten und Katholiken wurde erst 1598 mit dem Edikt von Nantes zum Teil gelöst. Das Edikt definierte den Katholizismus als französische Staatsreligion, erlaubte den Hugenotten aber an 200 festgeschriebenen Orten, ihre Religion auszuüben und in Teilen auch politisch und militärisch aktiv zu sein. Das Edikt hatte allerdings nur bedingt Auswirkungen auf die Situation der Hugenotten in Frankreich. In der Folge kam es immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, wobei nach dem Willen Kardinal Richelieus, Erster Minister König Ludwigs XIII., vor allem die militärische Macht der Hugenotten gebrochen werden sollte.

1685, im Jahr als Marie aus Frankreich mit ihren Kindern nach Kassel floh, widerrief der französische König Ludwig mit dem Edikt von Fontainebleau das Edikt von Nantes und hob damit alle Privilegien wieder auf, die den Hugenotten 1598 zugesprochen worden waren. Sie waren dadurch gezwungen, zum Katholizismus zu konvertieren, denn das Edikt verbot den Protestanten die Emigration. Trotzdem verließen nach 1685 etwa 200.000 Hugenotten Frankreich. Die meisten von ihnen gingen ins heutige Großbritannien und dessen damalige Kolonien, 43.000 wanderten ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation aus. Die „Refugiés“, wie die auswandernden Hugenotten genannt wurden, verließen sich dabei häufig auf Netzwerke von Hugenotten, die zuvor bereits ausgewandert waren. Deswegen gingen die meisten von ihnen in die Niederlande und England.

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Das Edikt von Potsdam

Das Edikt von Potsdam

Unter den deutschen Ländern sticht vor allem Brandenburg-Preußen hervor, das 20.000 Einwanderer aufnahm. Marie floh aber zunächst nach Kassel, das nach 1685 circa 3.800 französische Flüchtlinge aufnahm. In Hessen-Kassel erhielten die französischen Flüchtlinge einen privilegierten Status: Sie genossen zehn Jahre Abgabenfreiheit, Freiheit von Einquartierungen und Diensten sowie Zollfreiheit innerhalb Hessen-Kassels. Dennoch blieb Marie nicht in Kassel. Ein Bekannter, den sie in hier traf, erzählte ihr vom Edikt von Potsdam, das den französischen Flüchtlingen größere Privilegien bot als Hessen-Kassel. Das am 29. Oktober 1685 erlassene Edikt räumte „allen denen Französischen Leuten/von der Religion […] alle facilität und [gute] Gelegenheiten […] deren wie werden benöthiget seyn/umb an Ort und Stelle/welche sie in Unsern Landen zu ihrem établissement erwählen werden zu gelangen“.

Nicht alle der 20.000 Einwanderer in Brandenburg waren Hugenotten: „Die häufig vereinfachend als Hugenotten bezeichneten etwa 20.000 Zuwanderer waren in Wirklichkeit eine sehr heterogene Gruppe von Flüchtlingen aus Frankreich und dem Fürstentum Orange, aus Waldensern, Reformierten aus den Niederlanden, der Schweiz, der Pfalz und anderen protestantischen Ländern. Nicht immer handelte es sich um Glaubensflüchtlinge oder deren Nachkommen. Den Flüchtlingsströmen schlossen sich auch viele Reformierte in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen in den brandenburgischen Landen an.“

Nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges war Brandenburg besonders auf Zuwanderung angewiesen. Allein in Berlin stieg mit der Einwanderung der Hugenotten die Bevölkerungszahl um ein Drittel. Weil man die Zuwanderung benötigte, wurden die französischen Flüchtlinge im Edikt von Potsdam auch zum Bleiben gezwungen. Dennoch kam es 1692 zu einem Aufnahmestopp. Kurfürst Friedrich III. schreibt in einem Brief an den englischen König Wilhelm III., „Brandenburg-Preußen habe genug für die Refugiés getan, und ihnen unter Garantie von Glaubensfreiheit und öffentlichem Gottesdienst in französischer Sprache Zuflucht gewährt. Nun, 1692, seien jedoch andere protestantische Staaten gefordert, das Flüchtlingsproblem zu lösen.“

Marie, die mit vollem Namen Marie de Maizière hieß, kam über Halle an der Saale mit ihren Kindern nach Crossen an der Oder und war eine jener 20.000 Flüchtlinge, die in Brandenburg eine neue Heimat fanden. Alle in Deutschland bekannten de Maizières stammen von ihr ab. Sie war damit auch die Urahnin des Bundesinnenministers: Thomas de Maizière.

Foto: BPA / Jesco Denzel


Dieser Text ist zunächst auf Gefluechtet.de erschienen. Das Blog präsentiert Gründe, Verflechtungen und Einzelschicksale von Flucht im historischen Blick. Die Informationen zu Marie de Maizière stammen aus „Familie de Maizière. Eine deutsche Geschichte“, Zürich 2014 von Andreas Schumann. Aufmacherbild: François Dubois: „Batholomäusnacht“, etwa 1572 bis 1584.