Meine Lieblingsreportagen
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Meine Lieblingsreportagen

Alle zwei Wochen lassen wir interessante Persönlichkeiten von ihren Lieblingsreportagen erzählen. Diesmal: Dirk Gieselmann vom Magazin 11 Freunde.

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Welch ein Texteinstieg von Grantland Rice: «Outlined against a blue-gray October sky, the Four Horsemen rode again. In dramatic lore their names are Death, Destruction, Pestilence, and Famine. But those are aliases. Their real names are: Stuhldreher, Crowley, Miller and Layden.» Die vier Rückraumspieler aus seiner Reportage «The Four Horsemen» (New York Herald Tribune 1924) über ein Spiel der Football-Mannschaft von Notre Dame wurden später tatsächlich auf Pferden sitzend fotografiert, das Motiv zierte lange Jahre die amerikanische 32-Cent-Briefmarke. Könnte so etwas heute noch geschehen? Spielen zeitgenössische Sportreporter auf die Offenbarung des Johannes an? Zu selten jedenfalls. Aber die WM in Katar, sie kommt ja erst noch.


Ebenso berühmt ist der Auftakt zu John LardnersReportage «Down Great Purple Valleys» (True 1954) über Leben und Tod eines Boxweltmeisters: «Stanley Ketchel was twenty-four years old when he was fatally shot in the back by the common-law husband of the lady who was cooking his breakfast.» Dies sei, sagte sein Kollege Red Smith, der größte Roman, der je in einem Satz geschrieben wurde. Was wiederum an Ernest Hemingway denken lässt, den seine Saufkumpanen einst mit der Behauptung gereizt haben sollen, er könne keine Geschichte in nur sechs Wörtern erzählen. Er trat den Gegenbeweis an. «For sale: baby shoes, never worn.» Das gehörte zum Besten, was er je zu Papier brachte. Auf Augenhöhe: John Lardners Stücke, die weit, weit über bloße Sportberichterstattung hinausweisen.


«Man ist sich seiner Sache ziemlich sicher. Dann verliert man wieder. Man wird beschissen, jedenfalls fühlt man sich beschissen, und verloren. (…) Man liegt am Boden, man weint, verlieren ist schrecklich, aber viel schlimmer noch als das Verlieren ist die Gewissheit, dass man danach immer weitermachen muss.» Wahre Sätze, die Holger Gertz da in «Über das Verlieren» (Süddeutsche Zeitung 2012) schreibt und mit denen er es fertigbringt, dass seine Leser ihren Bürosisyphosfrust auf ein verlorenes Champions-League-Finale projizieren und dadurch sublimieren können. Schöner scheitern mit Schweini: Selten hatte ein Text eine größere kathartische Kraft. «Was ist das Großartige am Fußball?», so Gertz. «Dass er, in seinen besten Momenten, wie das Leben ist, so kann man es wohl sagen.» Gertz kann.


Dirk Gieselmann, geboren 1978, ist Textchef bei 11 Freunde, Gewinner des Henri-Nannen- und des Reporter-Preises und Kreismeister im 100 Meter Kraul. In diesem Jahr ist von ihm Und nun zum Wetter: 100 Jahre Weltgeschichte im Liveticker” erschienen. Gieselmann wohnt mit zwei Kindern in Berlin-Kreuzberg.

Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm

Illustration: Veronika Neubauer