„Die Israelis können nicht gewinnen – wir können nicht verlieren“
Aus dem Archiv

Interview: „Die Israelis können nicht gewinnen – wir können nicht verlieren“

Weder Ängste, Wünsche noch das Völkerrecht führten in den vergangenen 20 Jahren zu einem Staat Palästina. Tatsächlich haben die Landstriche nicht einmal einen offiziellen Namen. Mit Sam Bahour spricht Jung & Naiv über Ein-Staaten-Lösungen und die kommende Generation des Konflikts. Letzter Teil der finalen Gespräche im Nahost.

Profilbild von Interview von Tilo Jung

https://www.youtube.com/watch?v=L8RAZuqildE

Wer bist du?

Ich heiße Sam Bahour. Ich bin Amerikaner palästinensischer Abstammung. Ich wurde in der Diaspora geboren. Mein Vater kommt aus Al Bireh, der Stadt, in der wir hier gerade sind. Ich bin nach den Osloer Friedensverträgen nach Palästina gezogen, um hierher zurückzukehren und an der wirtschaftlichen Entwicklung mitzuarbeiten. Ich habe das erste private Telekommunikationsunternehmen mit aufgebaut. Und seither lebe ich hier. Ich habe hier die gesamten 21 Jahre des Oslo-Prozesses miterlebt. Ich bin Informatiker von Beruf, und ich habe einen MBA von der Universität Tel Aviv.

Du hast die Diaspora erwähnt – was ist das?

Die Diaspora ist der Teil der Bevölkerung, der im Ausland geboren und aufgewachsen ist. Außerhalb von Palästina.

Warum?

In unserem Fall kommt die Diaspora daher, dass bei der Gründung des Staates Israel ein Exodus von etwa 750.000 Palästinensern stattgefunden hat, die aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben wurden. Das ist das Land, das wir zurzeit Israel nennen, aber das gehörte zu der Zeit auch zu Palästina. Also von denen, die damals ihre Heimat verlassen haben, und die entweder in die umgebenden Länder gegangen sind, oder sonstwohin ins Ausland, die werden als Diaspora bezeichnet. 1967 haben die Israelis das Westjordanland, den Gazastreifen und Ostjerusalem militärisch besetzt. Da wurden auch noch einmal viele Menschen vertrieben, oder sie haben das Land verlassen, weil die Lebensbedingungen so schwierig wurden. Mein Vater ist noch vor der Besatzung von 1967 weggegangen.

Also, der Teil der Bevölkerung, der außerhalb von Palästina lebt, wird als Diaspora bezeichnet. Ich bin zum Beispiel in Youngstown in Ohio geboren. Ich bin immer noch Palästinenser, aber ich bin zufällig ein Palästinenser, der in den USA auf die Welt gekommen ist.

Du hast noch irgendwas mit Oslo erwähnt. Was war da?

Das Oslo-Abkommen war ein Friedensvertrag zwischen der israelischen Regierung, also dem Staat Israel, und der PLO, der palästinensischen Befreiungsorganisation, die die offizielle Repräsentanz des palästinensischen Volkes ist. Diese beiden Seiten haben 1993 tatsächlich ein Abkommen unterzeichnet, das fünf Jahre lang gelten sollte, und dann sollte die Besatzung enden und ein palästinensischer Staat gegründet werden. Das ist nicht geschehen. Inzwischen ist das Oslo-Abkommen 20 Jahre her, und es sollte eigentlich nur ein Fünfjahresabkommen sein.

Und was ist in den letzten 15 Jahren geschehen?

Die letzten 15 Jahre waren eine ständige Abfolge von Verhandlungen. Die beiden Seiten konnten sich in den ersten fünf Jahren aus vielerlei Gründen nicht einigen. Das Osloer Abkommen sollte ein Interims-Abkommen sein, bis eine endgültige Lösung gefunden wäre und die beiden Staaten Seite an Seite leben könnten. Das ist nicht geschehen, weil sich die beiden Seiten nicht einigen konnten…

Worüber konnten sie sich nicht einigen?

Sie mussten sich über Akten einigen. Das waren Dinge wie die Grenzen, Wasserzuteilungen, Sicherheit, der Status von Jerusalem. Die wichtigste Akte, über die sie sich einigen mussten, waren die Grenzen. Eine weitere Akte waren die Siedlungen. Am wichtigsten waren die Grenzen. Denn wenn sich die beiden Seiten auf Grenzen hätten einigen können, dann hätten sich viele der anderen Probleme von selbst gelöst. Wenn zum Beispiel die Grenze einmal festgelegt ist, dann ist jede Siedlung, jede illegale israelische Siedlung, auf der falschen Seite der Grenze, wäre als unrechtmäßig gesehen worden und hätte nach Israel umgesiedelt werden müssen.

Aber sie haben sich auf nichts einigen können. Nicht auf die Grenzen, nicht bei den Themen Jerusalem, Wasserzuteilung, Flüchtlinge, nicht bei den Siedlungen. Und jetzt sind fünfzehn Jahre vergangen, und wir verhandeln immer noch. Oft schalten sich Dritte ein, so wie die USA und die EU, um die Gegensätze zwischen den beiden Seiten zu überbrücken. Heute sind wir, glaube ich, einem Ergebnis nicht näher als am Anfang des Prozesses. Die beiden Seiten vertreten sehr weit auseinander liegende Ansichten darüber, wie diese grundsätzlichen Probleme gelöst werden sollen.

Was ist das große Problem bei den Grenzen?

Ich glaube, das größte Problem besteht darin, dass Israel nicht die geringste Absicht hat, die Gründung eines palästinensischen Staates zu erlauben. Vereinfacht gesagt, haben wir heute zwischen diesem Fluss und dem Meer nicht einen Staat, sondern zwei Körperschaften, Israel und die palästinensische Autonomiebehörde. Aber über den beiden ist der Staat Israel. Der Staat Israel kontrolliert alles, was hier vor sich geht zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Sie kontrollieren zum einen Teil, was in Israel vor sich geht, weil das ein Staat ist mit einer Regierung und so weiter. Und auf der anderen Hälfte des Gebietes, im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem, kontrollieren sie, was vor sich geht durch ihre militärische Besatzung.

Also gibt es seit 1948 keinen Staat Palästina, aber wir sind hier in Palästina?

Wir sind heute in Palästina. Nach 66 Jahren Kampf ist es den Palästinensern gelungen, die Mehrheit der Weltgemeinschaft zu überzeugen, in einer Resolution der Generalversammlung der UN zu bestätigen, dass der neue Palästinensische Staat – neu deshalb, weil das Westjordanland, Ostjerusalem und der Gazastreifen viel kleiner sind als das britische Mandatsgebiet Palästina – dass diese Gebiete der neue Staat Palästina sind. Das ist ein riesiges Zugeständnis, wenn man sich das mal überlegt. Denn die Palästinenser haben damit grundsätzlich zugestimmt, dass die Israelis ihren Staat auf 78 Prozent von dem Gebiet haben könnten, das früher einmal Palästina war.

Die Palästinenser haben sich also in diesem Konflikt gutwillig gezeigt und haben Israel 78 Prozent des historischen Palästinas für ihren Staat überlassen. Und was wir jetzt wollen, ist, dass Israel es akzeptiert, dass auf den verbleibenden 22 Prozent der palästinensische Staat entstehen kann. Israel hat sich geweigert, das zu akzeptieren. Also sind wir vor die Vereinten Nationen gegangen, die Vereinten Nationen haben es akzeptiert, und jetzt schaut die ganze Welt auf Israel und wartet darauf, wann die die militärische Besatzung beenden werden, damit der Staat Palästina existieren kann wie jeder andere Staat der Welt.

Die ganze Welt? Ich, zum Beispiel, komme aus Deutschland, ich habe in Amerika gelebt…

138 Länder haben es mit ihrer Stimme in der Generalversammlung akzeptiert. Ich glaube wirklich, dass heute jedes einzelne Land auf der Welt darauf wartet, wann diese Besatzung endet, angefangen bei den USA und Deutschland. Und ganz ehrlich – ein großer Prozentsatz der israelischen Bevölkerung will auch, dass diese Besatzung ein Ende hat. Das möchte man zunächst gar nicht glauben, wenn man sich das israelische Führungspersonal anschaut. Die reden ja nicht von Besatzung, aber viele Israelis sehen das so, dass es eine militärische Besatzung ist. Sie wollen ihre Kinder nicht nach Gaza oder ins Westjordanland in den Tod schicken. Die verstehen, dass die Welt akzeptiert hat, dass das jetzt der Staat Palästina ist. Er ist viel kleiner als der ursprüngliche Staat Palästina, aber das ist ein Zugeständnis von palästinensischer Seite.

Wie bezeichnet es die israelische Regierung?

Das ist eine gute Frage, denn die israelischen Regierungen haben sich alle möglichen Bezeichnungen für euch im Westen ausgedacht. Mal nennen sie es „umstrittenes Gebiet“, mal „verwaltetes Gebiet“. Sie nennen es „Gebiet, über das verhandelt wird“. Sie nennen es, was du willst, aber ganz bestimmt nicht „besetztes Gebiet“.

Denn die sind ja nicht blöd. Die wissen ganz genau, wenn sie dieses Kind beim Namen nennen, und dieser Name ist „militärische Besatzung“, dann käme das Völkerrecht in seiner ganzen Härte zur Anwendung. Dann würde alles, was sie in Gaza gemacht haben, ohne jeden Zweifel als Kriegsverbrechen bezeichnet werden, was es ja auch ist. Wenn man eine militärische Besatzung durchführt, dann muss man sich an Regeln halten. Eine der Regeln für Besatzer, und das ist Israel, ist zum Beispiel, dass man nicht die eigene Bevölkerung im besetzten Gebiet ansiedeln darf.

Was soll Israel also machen, die haben 500.000 israelische Bürger in illegalen Siedlungen im Westjordanland angesiedelt. Das ist eine eklatante Völkerrechtsverletzung – wenn man akzeptiert, dass das Völkerrecht hier gilt. Jedes Land der Welt – auch Deutschland, auch die USA – bezeichnet das, was hier vor sich geht, als eine militärische Besatzung. Das einzige Land der Welt, das in Frage stellt, ob es sich hier um eine Besatzung handelt, ist die Besatzungsmacht selbst, und das ist Israel.

Mehr von Krautreporter

Wie wollt ihr die israelische Regierung dazu kriegen, es Besatzung zu nennen?

Genauso, wie andere Länder veranlasst worden sind, sich ans Völkerrecht zu halten. Das Völkerrecht kennt viele Maßnahmen. Politische Maßnahmen, diplomatische Maßnahmen, wirtschaftliche Maßnahmen. Einige dieser Maßnahmen heißen Boykott, Kapitalabzug, Sanktionen. Damit haben die schwarzen Südafrikaner das südafrikanische Apartheid-Regime dazu gekriegt, die Apartheid aufzugeben.

Da gab es Apartheid. Das war doch schlimmer.

Einige Leute aus Südafrika sagen, diese militärische Besatzung und der Kolonialisierungsprozess sind schlimmer als Apartheid. Ich will hier keine Tragödien miteinander vergleichen. Was ich weiß ist, dass man gewaltlose Mittel einsetzen muss, um die Israelis davon zu überzeugen, dass diese mehr als 47-jährige militärische Besatzung falsch und illegal ist. Dass sie beendet werden muss, auch davon, dass man die Flüchtlinge, die 1948 vertrieben worden sind, und die bis jetzt nicht zurückkehren konnten – die in Syrien leben, in Ägypten, in Jordanien und im Libanon – dass man denen erlauben muss, in ihre Heimat zurückzukehren. Warum? Nicht weil ich das sage, sondern weil das Heimkehrrecht von Flüchtlingen einer der Grundpfeiler des Völkerrechts ist. Nach 66 Jahren hält Israel immer noch seine Grenzen geschlossen für diese Palästinenser, die aus Haifa waren, aus Tel Aviv und aus Aschdot, und hindert sie daran, heimzukehren. Aber damit nicht genug. Wir verlangen auch, dass Israel aufhört, Palästinenser innerhalb von Israel – 20 Prozent der Bevölkerung in Israel sind Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft – weiterhin zu diskriminieren.

Die Palästinenser haben drei Forderungen an Israel, und die sind alle 100 Prozent im Einklang mit dem Völkerrecht: Beendigung der Besatzung, Heimkehr für die Flüchtlinge und Beendigung der institutionellen Diskriminierung, die innerhalb Israels selbst vor sich geht.

Du sagst, das ist das Völkerrecht – gibt es da Raum für Kompromisse? Kann man bei diesen drei Forderungen einen Kompromiss finden?

Es steht mir nicht zu, Kompromisse zu schließen. Ich als Person kann so viele Kompromisse schließen wie ich will. Aber niemand macht Kompromisse, was Rechte angeht, die im Völkerrecht verankert sind. Du machst doch auch keinen Kompromiss, wenn es um dein Recht geht, in deinem Haus zu leben, oder? Also warum soll ich einen Kompromiss eingehen, wenn es um mein Recht geht, in meinem Haus zu leben?

Ich weiß nicht.

Wir sind nicht das erste Land, das um seine Rechte kämpft. Im Gegenteil. Wir sind eines der letzten Länder der Erde, die dieses koloniale Joch abschütteln wollen, das uns die Israelis auferlegt haben. Das ist Kolonialismus par excellence. Und wir sind eines der letzten Länder der Erde, das kolonialisiert worden ist, und dem es noch nicht gelungen ist, sich vom Kolonialismus in ihrem Leben freizukämpfen.

Wir haben den Israelis viele Optionen angeboten, und wir lassen es zu, dass sie heute ihren Staat haben auf 78 Prozent von dem was einmal Palästina hieß, und wir wollen das Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen in das „Neue Palästina“ umbenennen. Und Israel weigert sich sogar, auch das zu akzeptieren. Deshalb müssen wir eine sehr einfache Frage stellen: Wo wollen die Israelis eigentlich, dass wir hingehen? Denn wir werden uns nun einmal nicht in nächster Zeit in Luft auflösen.

Es gibt Gaza, die Westbank - gibt es nicht zwei Palästinas?

Nein, das wäre ein Palästina. Indonesien besteht aus 130 Inseln, in den USA muss man zwölf Stunden fliegen, um nach Alaska oder nach Hawaii zu kommen. Wir sind bestimmt nicht das erste Land, dessen Landmasse nicht aus einem Stück ist. Das ist ein technisches Problem, das mit Zügen, Flugzeugen oder Autos gelöst werden kann. Diese Einheit aus dem Westjordanland, Ostjerusalem und dem Gazastreifen ist nicht nur völkerrechtlich als Einheit anerkannt – Israel hat auch noch im Osloer Abkommen unterschrieben, dass es diese Territorien als eine politische Einheit akzeptiert. Es gibt also keine Frage, ob das eine Einheit ist. Es gibt da unterschiedliche Gegebenheiten, aber politisch ist das eine Einheit, die nun einmal aus drei verschiedenen Gebieten besteht.

Verstehst du nicht auch die Israelis auf der anderen Seite? Kannst du mir ihr Verhalten aus ihrer Sicht erklären? Warum haben sie sich über die letzten 20 Jahre so verhalten? Vielleicht haben sie Angst, dass was passiert… dass sich wieder Terrorismus in ihrem Land ausbreitet…

Nein, ich kann nicht für die Israelis sprechen. Wenn ich in die Bronx gehe in New York, dann habe ich Angst, aber ich schicke keine F-16, um die Bronx zu zerstören, bloß weil ich da Angst habe. Es gibt eine Realität, wenn man eine militärische Besatzung aufrechterhält, wenn man 66 Jahre lang das Land anderer Menschen kolonialisiert hat, dann sollte man auch vor denen Angst haben. Wenn man Kampfjets losschickt, die Wohngebiete bombardieren, dann sollte man auch Angst haben.

Je länger diese Besatzung andauert, je mehr militärische Gewalt Israels Armee ausübt, um die Palästinenser in die Unterwerfung zu prügeln, desto mehr Angst sollten sie haben vor den Opfern dieser Gewalt. Wir haben versucht, die Israelis davon zu überzeugen, dass die einzige Möglichkeit, ihre Angst loszuwerden darin besteht, das eine zu versuchen, was sie sich durchgängig geweigert haben zu versuchen, nämlich die Besatzung zu beenden. Beendet die Militärbesatzung, und seht selbst, wie die Palästinenser sich nach Frieden sehnen.

Vielleicht haben sie Angst, das auszuprobieren.

Die Alternative ist eine niemals endende Besatzung. Die Alternative ist eine weiterhin militarisierte Gesellschaft in Israel, die über weitere Generationen in Angst leben wird. Ich glaube nicht, dass das eine nachhaltige Grundlage für ein Land ist. Ich glaube, dass es in ihrem eigenen tiefen Interesse ist, die Besatzung zu beenden.

Wenn sie das nicht tun, dann könnten die Palästinenser einen Punkt erreichen, und ich glaube, wir sind gar nicht mehr so weit weg davon, wenn wir ihn nicht schon erreicht haben, an dem die Palästinenser sagen, an dem die neue Generation der Palästinenser sagen wird, wir sind zu schwach, einen Staat aufzubauen, also lassen wir das mit dem Staat, und was wir wollen, sind gleiche Rechte. Israel muss sich entscheiden: Will es zulassen, dass ein palästinensischer Staat entsteht, wie die Welt es fordert, oder will es, dass der Kampf um einen eigenen Staat sich in einen Bürgerrechtskampf verwandelt? Und das wäre ein völlig anderes Paradigma.

Das wäre dann die Ein-Staaten-Lösung?

Das wäre dann ein Staat mit den gleichen Rechten für alle, die in seinem Hoheitsgebiet leben. Das könnte ein Staat sein, das könnte ein bi-nationaler Staat sein, es könnte ein Staat mit einer Stimme für jeden Einwohner sein – es gibt da viele Optionen. Die Medien erzählen uns immer, es gebe nur zwei Optionen um diesen Kampf zu beenden: Einen Staat oder zwei Staaten.

Ich habe zufällig Geschichte studiert und glaube nicht, dass die Welt so bipolar ist. Es gibt die Idee von einem Staat, zwei Staaten, bi-nationaler Staat, es gibt das Condominium, den Parallelstaat, den Bundesstaat, den Staatenbund, ganz ehrlich – ich kann unter jedem politischen Paradigma leben, das sich die Politiker ausdenken. Aber wie immer das aussieht, es muss auf Gleichheit beruhen, denn ich kann nicht als jemand leben, der weniger wert sein soll als ein Israeli.

Als Gleichberechtigter kann ich mit Israelis in zwei Staaten zusammenleben, zwei unabhängigen Staaten, die im Nahen Osten gleichberechtigt nebeneinander existieren. Ich kann gleichberechtigt mit Israelis in einem Staat auf dem gesamten Gebiet zusammenleben, wenn die das so haben wollen. Ich kann mit jedem politischen Arrangement leben. Womit wir als Palästinenser nicht leben können, ist ein Status als Untermenschen. Entmenschlicht zu werden, wie das in Gaza passiert ist. Dieses Szenario kann sich nicht halten, und ich würde den Israelis nahelegen, dass sie sich über einige grundsätzliche Dinge klar sein müssen, wenn sie ihre Angst loswerden wollen:

Sie leben hier im Nahen Osten. Sie sind nicht der 51. Staat der USA. Sie müssen verinnerlichen, dass sie nicht zu Europa gehören, und dass sie nicht zu Nordamerika gehören. Sie gehören zum Nahen Osten. Und als Teil des Nahen Ostens kann man sich als Besatzer nicht halten. Sobald Israel die Besatzung beendet, kann der Rehabilitierungsprozess beginnen. Das wird eine Weile dauern, aber ich bin überzeugt, es werden neue Generationen von Israelis und von Palästinensern heranwachsen, die lernen werden, miteinander zu leben, und die keine Mauern zwischen sich errichten. Aber damit das geschehen kann, muss dieses Joch der Besatzung von den Palästinensern genommen werden. Und jeder, der mich davon überzeugen will, dass mir dieses Joch der Besatzung im Nacken bleiben soll, der muss in der Tat vor mir Angst haben.

Hältst du die Hamas für Terroristen?

Nein. Ich halte die Hamas für eine Organisation, eine politische Partei, die einen militanten Flügel hat, ganz ähnlich übrigens, wie ich in der Geschichte die frühen zionistischen Organisationen sehe, da gab es die Stern-Bande oder die Haganah. Viele politische Parteien in antikolonialen Konflikten haben einen militanten Flügel. Es macht keinen Unterschied, wie ich sie bezeichne. Bin ich ihrer Meinung beim Thema Militanz als Konfliktlösung? Nein. Ich bin ohne jeden Zweifel davon überzeugt, dass es keine militärische Lösung für diesen Konflikt gibt. Die Israelis haben bewiesen, dass sie nicht gewinnen können, und wir haben bewiesen, dass wir nicht verlieren können. Und wir müssen auf beiden Seiten einsehen, dass es keine militärische Lösung gibt.

Meiner Meinung nach muss die Lösung vom Völkerrecht getragen sein. Dafür ist das Völkerrecht da – um Konflikte zu lösen. Wenn wir uns vom Völkerrecht verabschieden und den Kampf austragen wollen, dann müssen wir uns auf einen unendlichen Kampf einstellen. Ich akzeptiere keine Gewalttaten – von keiner Seite. Die sind kein Ausweg.

Aber ist nicht völkerrechtlich festgestellt worden, dass die Hamas eine Terror-Organisation ist? Sagen das nicht die EU, die USA?

Du bringst da was durcheinander. Die Vereinten Nationen sind die eine Sache. Die Vereinten Nationen bezeichnen niemanden als Terroristen, die führen da keine Listen. Staaten haben in der Tat ihre Listen, die USA haben zum Beispiel die Hamas als terroristisch bezeichnet, andere Staaten haben das nicht gemacht. Das ist den Staaten vorbehalten. Ich folge da den USA nicht, oder den Deutschen, oder den Portugiesen. Ich folge den Vereinten Nationen. Und die Vereinten Nationen haben sehr klar gesagt, dass die Repräsentanz des palästinensischen Volkes die Palästinensische Befreiungsorganisation ist.

Also müssen die Israelis nicht mit dieser Gruppierung oder jener Gruppierung zusammenarbeiten, sondern sie müssen mit den legitimen Vertretern des palästinensischen Volkes zusammenarbeiten. Und da gibt es keine Frage, wer das ist. Es ist die Palästinensische Befreiungsorganisation; wir haben Vertreter in Ramallah, und unsere Vertreter sitzen in den Vereinten Nationen. Wenn die mit den formellen Vertretern des palästinensischen Volkes reden wollen, dann wissen sie, wo die wohnen. Zu argumentieren, dass, weil die Hamas existiert oder weil sonst eine Gruppierung existiert, können wir nicht zusammenarbeiten, ist eine ziemlich lahme Ausrede. Denn wir als Palästinenser können uns auch die israelische Gesellschaft anschauen und auf deren Seite Gruppierungen finden, die militant sind, die offen rassistisch sind – das hat man gerade während der Tötungen in Gaza letzten Monat gesehen .

Ich arbeite nicht mit dieser oder jener Gruppierung zusammen, sondern ich verhandle mit dem gewählten Vertreter des Staates Israel, ob mir die nun gefallen oder nicht. Und genauso, wie ich Israel nicht vorschreibe, wie es seine Vertreter auswählt, genauso erwarte ich, dass Israel uns nicht vorschreibt, wie wir unsere Vertreter bestimmen.

Du hast eine Menge möglicher Lösungen erwähnt, von denen ich noch nie was gehört habe. Ich habe immer von einem Staat oder zwei Staaten gehört… Erkläre mal was der Unterschied ist zwischen einer Ein-Staaten-Lösung und einer bi-nationalen Lösung, zum Beispiel?

Es gibt verschiedene Geschmacksrichtungen für die Ein-Staaten-Lösung. Eine Ein-Staaten-Lösung kann bi-national sein, sie kann anerkennen, dass es zwei Nationalitäten gibt, die von einem Lenkungsorgan regiert werden – ein Beispiel ist Belgien. Es gibt auch die US-Lösung. Die ist nicht bi-national, sondern ein Ein-Mensch-eine-Stimme-Staat, wo alle gleiche Rechte haben. Das ist eine Geschmacksrichtung von einem Staat.

Wie eine Republik.

Die USA sind wie eine Republik.

Also eine Republik wäre auch möglich.

Ich kann mit jeder Lösung leben, die sich die Politiker ausdenken, solange diese Lösung auf dem Gleichheitsprinzip beruht. Ich begeistere mich nicht für einen Staat oder zwei Staaten oder eine Föderation. Das ist alles okay für mich, solange ich als Gleichrangiger behandelt werde und meine Rechte selbstverständlich sind. Alles andere wird nicht nachhaltig sein.

Wir haben neulich eine praktische Lösung vorgeschlagen, um aus diesem Konflikt rauszukommen. Ein britischer Wissenschaftler, Tony Klug, und ich, wir haben ein Dokument veröffentlicht, in dem Folgendes vorgeschlagen wird: Die militärische Besatzung des Westjordanlandes, des Gazastreifens und Ost-Jerusalems durch Israel jährt sich bald zum fünfzigsten Mal. In drei Jahren sind das 50 Jahre, und 50 Jahre sind eine lange Zeit. Israel hat viel Zeit gehabt, sich zu entscheiden. Wenn das eine Besatzung ist, dann muss sie aufhören. Wenn es keine Besatzung ist, dann müssen sie die Palästinenser als volle Bürger des Staates Israel anerkennen. Wir schlagen also vor, den Israelis eine Frist zu setzen, durch die internationale Gemeinschaft, und diese Frist ist fünfzig Jahre Besatzung. Entscheidet euch. Entweder beendet ihr eure Besatzung oder nehmt die Palästinenser in Palästina als Staatsbürger in euren Staat auf, und gebt ihnen gleiche Rechte.

Und wir glauben, dass dadurch genug Druck auf Israel ausgeübt wird, eine Entscheidung zu treffen. Wir hoffen, dass sie für zwei Staaten entscheiden, die Seite an Seite existieren, zwei unabhängige Staaten, wie es die Internationale Gemeinschaft definiert hat. Aber wenn sie sich nicht zu dieser Entscheidung durchringen können, dann sollte es ihnen nicht länger gestattet sein, uns als Untermenschen zu behandeln, uns unsere Rechte zu verweigern, uns unser Wasser abzugraben… Fünfzig Jahre sind eine sehr lange Zeit für eine militärische Besatzung, und wir sagen einfach, das muss ein Ende haben – so oder so. Und das ist ein sehr friedlicher Vorschlag, wir wollen gar nichts entscheiden, wir wollen Israel vollkommen die Entscheidung überlassen – was wollt Ihr, die Besatzung beenden oder uns als Staatsbürger akzeptieren?

Sind das nicht zwei schlechte Optionen für sie? Erstens, sie geben zu, dass es eine Besatzung ist, sie müssten die Besatzung beenden oder sie müssten sich von ihrem Traum vom jüdischen Staat verabschieden, oder?

Möglicherweise. Ich richte mich nicht nach deren Wünschen oder Ängsten. Ich richte mich nach dem Völkerrecht. Die dritte Option wäre, die Besatzung weiterhin als Dauerzustand aufrechtzuerhalten. Wenn irgendwer glaubt – besonders nach den Ereignissen in Gaza – wenn irgendwer wirklich glaubt, eine Besatzung, eine militärische Besatzung könne ewig aufrechterhalten bleiben, dann hat sich dieser Mensch nicht mit Geschichte beschäftigt. Es hat noch nie eine Besatzung gegeben, die für ewige Zeiten aufrechterhalten wurde. Die Türken waren hier vor den Israelis. Die haben hier 400 Jahre lang gesessen, und dann hatte ihre Besatzung ein Ende. Die Besatzung durch Israel ist keine Dauerlösung.

In der allerersten Folge haben wir hier mit Dan Schueftan gesprochen, ein Berater von Benjamin Netanjahu. Der sagte, der Status quo, die Besatzung, das ist die beste Lösung, die sie sich derzeit vorstellen können. Die scheinen zufrieden zu sein mit dem Status quo, bevor sie die Besatzung aufgeben oder sonst etwas machen.

Frag die 50 Mütter der israelischen Soldaten, die letzten Monat in Gaza gefallen sind, ob die glauben, dass sie Besatzung, so wie sie ist, okay ist. Es ist Wahnsinn. Es ist Wahnsinn zu glauben, man könne tatsächlich ein Volk dauerhaft militärisch besetzen. In der Geschichte ist bewiesen, dass das nicht geht. Nicht nur das, diese Besatzung korrumpiert Israel von innen heraus, eine militaristische Gesellschaft entsteht. Nicht nur sterben ihre Soldaten, um die Besatzung aufrecht zu erhalten, die ganze Gesellschaft ist gewalttätiger geworden, rassistischer, das nagt von innen an Israel.

Wenn ich Israeli wäre, und wenn mir was an Israel liegen würde, dann würde ich diese Besatzung heute Abend beenden wollen, nicht erst morgen. Nicht, weil mir was an den Palästinensern liegt, sondern weil ich die Zukunft Israels sicherstellen will. Jeder, der die Besatzung als Dauerzustand befürwortet, riskiert die Zukunft Israels.

Aber die Zukunft soll doch ein jüdischer Staat sein.

Für wen? Wenn du mir etwas über einen jüdischen Staat erzählst, als Deutscher über einen jüdischen Staat sprichst, dann ist das eine unsägliche Beleidigung für mich. Für mich ist der Begriff „Jüdischer Staat in Israel“ so ziemlich das Rassistischste und das Antisemitischste, was man sagen kann.

Wieso?

Was heißt denn das? Es heißt, dass du mir indirekt sagst, oder auch direkt, dass der Staat Israel der einzige Ort ist, an dem ein Jude wirklich Jude sein kann! Das widert mich an. Ich finde, ein jüdischer Mensch sollte überall ein jüdischer Mensch sein können, in Israel, in Deutschland, in New York und in Ramallah. Es gibt nicht den einen Ort auf der Welt, wo Juden richtig Juden sein können. Wenn du sagst, dass Israel der jüdische Staat ist, dann sagst du, dass andere Orte den Juden nicht ihre vollen Rechte gewähren. Für mich klingt das sehr antisemitisch.

Für mich ist das ein politisches Täuschungsmanöver, ein sehr emotionales, nach einem jüdischen Staat zu rufen. Eine politische Taktik, die es den Israelis ermöglicht, einen Ausweg aus diesem Konflikt hinauszuzögern. Wenn es stimmt, was du sagst, dass ein jüdischer Staat für die Israelis so wahnsinnig wichtig ist, warum gehen sie dann nicht zu den Vereinten Nationen und ändern ihren Namen und nennen sich „Jüdischer Staat Israel“? Andere Länder in der Welt haben das gemacht, Iran zum Beispiel. Nach der Revolution im Jahr 1979 sind sie zu den Vereinten Nationen gegangen und haben „Islamische Republik“ an ihren Namen angehängt.

Wenn es so wichtig ist, warum betteln die Israelis, dass die Palästinenser ihnen eine Geburtsurkunde geben? Warum gehen sie nicht zu den Vereinten Nationen und machen es einfach? Ich glaube nicht, dass es so schrecklich wichtig ist. Ich glaube es ist – vielleicht von Benjamin Netanjahu, aber auch schon vorher – als Taktik eingeführt worden, um die Verhandlungen komplizierter zu machen, damit keine Lösung erarbeitet werden kann.

Kein Palästinenser, der seine fünf Sinne beisammen hat, wird es akzeptieren, dass Palästina, seine Heimat, zu einem ausschließlich jüdischen Staat wird. Das kann kein Palästinenser akzeptieren. Und das wissen die israelischen Führer, und deshalb haben sie dieses Verhandlungsmanöver eingeführt, um Worte verdrehen zu können und um so tun zu können, als sei das ein großes Problem. Das Problem ist nicht irgendeine Sehnsucht im Hirn von Netanjahu. Das Problem liegt im Wesen des Völkerrechts. Wir halten uns entweder ans Völkerrecht, oder wir halten uns ans Recht des Stärkeren, wie im Urwald. Letzten Monat in Gaza hatten wir einen Vorgeschmack vom Recht des Dschungels. Israel hat es in der Hand, wie es weiter vorgehen will. Will es sich ans Völkerrecht halten, so dass wir einen friedlichen Ausweg finden, oder will es weiterhin nach dem Gesetz des Dschungels leben, wo alles erlaubt ist?

Andererseits haben wir gelernt, dass politische Entscheidungen letztendlich immer auch mit Interessen zu tun haben. Politiker wollen an der Macht bleiben, vielleicht denken Netanjahu oder die israelische Regierung: Wenn wir eine Entscheidung treffen müssen, die den Wählern nicht gefällt und dann abgewählt werden…

Politik ist ein schwieriges Spiel, und ich bin ganz deiner Meinung. Es geht um Interessen. Nachdem Deutschland den Israelis U-Boote verkauft hat, können sie vielleicht ein bisschen aggressiver auftreten. Wenn Deutschland und viele andere Länder der Welt mit Israel Waffenhandel betreiben, dann fällt es denen schwer, Israel zur Rechenschaft zu ziehen, wenn Israel Kriegsverbrechen begeht.

Am Ende brauchen wir einen Ausgangspunkt, mit dem wir arbeiten können. Egal ob wir Deutsche, Amerikaner oder Palästinenser oder Israelis sind, liegt dieser Ausgangspunkt in unseren Emotionen. Oder gehen wir von einem rechtlichen Ausgangspunkt aus? Wir brauchen einen Punkt, an dem wir anfangen können. Und wenn wir bei unseren Emotionen anfangen, wird es nie aufhören, denn alle haben unterschiedliche Emotionen, und die verändern sich ständig.

Wenn wir uns das Völkerrecht anschauen – und übrigens ist ja ein großer Teil davon als Antwort auf das entstanden, was die Juden in Europa im Zweiten Weltkrieg durchgemacht haben. Wir haben das Völkerrecht nicht geschaffen. Wir haben weder Kapitalabzug noch Boykotte erfunden. Das sind Maßnahmen, die in der Welt geschaffen worden sind, um politische Körperschaften auf gewaltlose Art und Weise zum Handeln zu bringen. Wir nutzen nur Maßnahmen, die uns zur Verfügung stehen, mit denen wir politische Körperschaften zum Handeln bewegen können. Im Gegenzug provoziert uns Israel jeden Tag aufs Neue, Gewalt anzuwenden. Traurigerweise ist ihnen das in Gaza gelungen, Gewalt in einem Maß zu provozieren, das bis dahin völlig unbekannt war.

Ich möchte heute alle dazu aufrufen, wieder zur Besinnung zu kommen und einzusehen, dass es keinen militärischen Ausweg aus diesem Konflikt gibt. Wir müssen uns an die Gesetze und Regeln der internationalen Gemeinschaft halten, die zwei Staaten akzeptiert hat, die das Ende der Besatzung akzeptiert hat, die festgestellt hat, dass die Siedlungen illegal sind. Lasst uns jetzt nach vorn gehen, und lasst uns gemeinsam unsere Zukunft im Nahen Osten aufbauen.

Wie ändert man denn die Interessen der israelischen Regierung? Wie kann Netanjahu keine Angst davor haben, eine echte Lösung zu finden?

Unsererseits tun wir, was wir können. Ich spreche hier vor der Kamera mit dir und versuche, den Menschen etwas klar zu machen, den Ausweg, den ich sehe, nämlich Gewaltlosigkeit. Unsere Vertreter sind vor die Vereinten Nationen gegangen und haben ihre Sache auf höchster Ebene bei den Vereinten Nationen vorgetragen. Wir arbeiten auf der diplomatischen Ebene. In der Zivilgesellschaft rufen wir zum zivilen Ungehorsam auf: Boykott, Desinvestment und Sanktionen. Die Zivilgesellschaft ist sehr aktiv auf gewaltlose Art und Weise. Es gibt immer mehr Mobilisierung auf globaler Ebene, über die Zivilgesellschaften, die in ihren jeweiligen Ländern Druck ausüben.

So kriegt man Politiker dazu, ihre Meinung zu ändern – indem die Zivilgesellschaften artikulieren, wo der Ausweg ist, dass man Staaten ohne Gewalt ändern kann. Ohne Gewalt können wir Deutschland dazu überreden, Israel nicht länger zu bewaffnen, so dass Israel keine palästinensischen Wohngebiete und Städte und Infrastruktureinrichtungen und Kinder mehr bombardiert und zerstört. Wir müssen unsere Länder beeinflussen, es besser zu machen. Und um es besser zu machen, müssen die Zivilgesellschaften ihre Länder zur Rechenschaft ziehen. Und wir machen das von den USA bis hinein nach Israel.

Welche Rolle kann Deutschland spielen?

Ich kann dir Vorschläge machen, zum Beispiel beim Thema Information. Ich glaube, dass sehr viele Politiker einfach nicht Bescheid wissen über die ganze Situation. Also Information steht an erster Stelle. Zweitens – die Sozialdemokraten haben zum Beispiel eine Sondersitzung des EU-Parlaments einberufen, um die Ereignisse in Gaza zu besprechen. Ich hoffe, Deutschland unterstützt diesen Aufruf, und bringt die Europäer zusammen, das zu tun, was sie schon angefangen haben zu tun: Letztes Jahr zum Beispiel ist ein EU-Leitfaden herausgegeben worden, um alle Investitionen in israelische Firmen zu stoppen, die mit den israelischen Siedlungen zu tun haben. Da kann man weitermachen. Man kann den Handel mit Israel unterbinden. Man kann aufhören, Israel militärisch zu unterstützen. Man kann aufhören, israelische Waffen zu kaufen.

Es gibt sehr viel, was man gewaltfrei tun kann, um Druck auf Regierungen auszuüben, damit die andere Wege einschlagen. Wir erwarten ja von niemandem, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben. Wir fordern ja nur dazu auf, sich ans Völkerrecht zu halten. Das ist eine recht vernünftige Bitte von einem Volk, das seit 47 Jahren unter Besatzungsbedingungen lebt.

Wir haben gehört, es gebe da einen palästinensischen Mandela in einem israelischen Gefängnis. Hast du von dem gehört? Marwan Barghouti?

Es gibt ungefähr 6.000 davon.

6.000 Mandelas?

6.000 von uns sitzen im Gefängnis, viele weitere sind in den letzten 60 Jahren umgekommen, viele von ihnen haben Gewaltlosigkeit propagiert. Übrigens hat Nelson Mandela keineswegs nur Gewaltlosigkeit propagiert. Nelson Mandela war der Kopf des Afrikanischen Nationalkongresses, der auch den bewaffneten Kampf als erstes taktisches Mittel im Kampf gegen das Apartheid-Regime in Südafrika gesehen hat.

Wie die Hamas…

Ich ziehe die allgemeinere Bezeichnung Palästinenser vor. Wir haben den Kampf als bewaffneten Kampf angefangen. Wir haben seither zum großen Teil den Wandel zu einer gewaltfreien Bewegung vollzogen.

Außer der Hamas.

Außer letzten Monat – nicht nur die Hamas. Die Provokation, Gaza abzuriegeln, von der Außenwelt abzuschneiden, 1,8 Millionen Palästinenser acht Jahre lang von der Außenwelt abzuschneiden, hat ein Pulverfass generiert, und das ist hochgegangen. Es war also nicht so, dass der bewaffnete Kampf eine Option war, die wir uns ausgesucht hätten, es war die Ultima ratio fürs Überleben – für jene, die an den bewaffneten Kampf glauben.

Traurigerweise hat es Israel nach 20 Jahren Verhandlungen nicht fertig gebracht, Gaza einen Zugang zum Meer zu eröffnen oder eine Verbindung zwischen dem Westjordanland und Gaza zuzulassen. Jetzt, nach einem Monat massiver militärischer Aktionen, sitzen sie in Kairo und überlegen, wie man eine Verbindung zwischen dem Westjordanland und Gaza herstellen könnte, wie man das Meer öffnen kann, damit die Fischer rausfahren und fischen können. Traurigerweise hat Israel während der ganzen Zeit immer nur auf Gewalt reagiert. Die weigern sich zu handeln, wenn gewaltlos agiert wird, wenn die Diplomatie eingeschaltet ist. Sie handeln nur, wenn sie durch militärische Gewalt gezwungen werden zu handeln. Und das ist sehr traurig, dass Israel nur dann zum positiven Handeln und zur Beachtung des Völkerrechts gebracht werden kann, wenn Gewalt angewandt wird.

Gibt es führende israelische Politiker, die Gewaltlosigkeit propagieren? Gibt es führende Politiker, die sagen, wir sollten damit aufhören?

Ich kenne die israelischen Politiker nicht namentlich, aber ich gehe davon aus, dass es welche gibt. Ich weiß, dass es viele in der israelischen Zivilgesellschaft gibt. Es gibt viele Organisationen… Erstmal sind 20 Prozent der Bevölkerung in Israel keine Juden. Es sind christliche und muslimische Palästinenser. In Israel selbst. Also sprechen sich etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung in ihrer Mehrheit auf gewaltlose Weise dafür aus, die Besatzung zu beenden. Was den jüdischen Teil der israelischen Gesellschaft anbelangt, weiß ich, dass es viele Bestrebungen gibt, das Schweigen zu brechen.

Israelische Soldaten, die in der Besatzung gedient haben, konnten nicht mehr in den Spiegel schauen, nach allem, was sie hier als Soldaten gemacht haben, und sind nach Israel zurückgegangen und haben sich in einer Gruppe zusammengetan. Und gehen an die Öffentlichkeit und sagen: Was wir da als israelische Soldaten in Hebron und in Ramallah und in Jenin gemacht haben, das waren Verbrechen. Und das sagen die nicht zu uns, das sagen die zur israelischen Öffentlichkeit, und sie sagen: Ihr habt ja keine Ahnung, was das israelische Militär in den besetzten Gebieten alles macht. Das ist also eine gesunde Stimme. Es haben auch Tausende in den Straßen von Tel Aviv demonstriert. Traurigerweise haben die Medien nicht sehr gut darüber berichtet, und die haben dazu aufgerufen diesen Krieg in Gaza zu beenden… Ich kann das gar nicht als Krieg bezeichnen, es war ein Ansturm. Also es gibt jede Menge Stimmen in Israel selbst, die zu einem Ende der Besatzung aufrufen, zu einem Ende dieser Gewalt, die in dieser Art wirklich einmalig ist.

Ich sehe die israelische Gesellschaft nicht monolithisch. Ich sehe sie als dynamische Gesellschaft, die sich traurigerweise zunehmend nach rechts orientiert, traurigerweise steigen ein paar rassistische Elemente nach oben auf, aber das macht mich nicht blind für die Tatsache, dass die durchschnittliche israelische Familie das Gleiche will wie die durchschnittliche palästinensische Familie: In Frieden und in Sicherheit zu leben und ihre Kinder großzuziehen und ihr Leben zu leben. Die Israelis können das nicht für sich selbst haben, wenn sie das ihren Nachbarn verweigern.

Wann gibt es Frieden, wann gibt es eine Lösung?

Im Nahen Osten kann man schwer was vorhersagen. Ich bin jetzt lange genug hier, um nicht so töricht zu sein, ein Datum vorhersagen zu wollen. Ich würde sagen, dass die Generation Palästinenser, die heute etwas zu sagen hat, wahrscheinlich die letzte Generation ist, die glaubt, dass eine Zwei-Staaten-Lösung möglich ist. Ich gehe davon aus, dass meine Kinder, die sind 19 und 14 Jahre alt, also deren Generation, die nachwachsende Generation, die werden sich von der Idee mit dem Staat verabschieden, und die werden ihre Bürgerrechte einklagen.

Wenn ein palästinensischer Staat sich in fünf bis zehn Jahren noch nicht wirklich entwickelt hat, also in der Realität, nicht nur bei den Vereinten Nationen, dann hat Israel es mit einer ausgewachsenen Apartheid-Situation zu tun. Sie werden für das ganze Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan die Verantwortung haben, und die Mehrheit der Menschen unter ihrer Regierung werden nicht jüdisch sein. Und das wird für sie von A bis Z wie Apartheid sein. Und ich sehe meine Kinder nicht nochmal 40 Jahre lang in der ganzen Welt um einen eigenen Staat betteln, sondern ich sehe sie um ihre Bürgerrechte kämpfen. Und gegen wen werden sie kämpfen? Sie werden gegen die Einheit kämpfen, die ihnen diese Rechte versagt, und das ist der Staat Israel.

Deine Kernaussage ist: Es bleiben nur ein paar Jahre für die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung.

Nicht wenige sagen, dass wir diese Zeit bereits hinter uns gelassen haben. Ich würde sagen, bei uns ist jetzt die letzte Generation am Drücker, die das noch umsetzen kann. Unser Präsident ist, glaube ich, schon über achtzig. Also ist es nur natürlich, dass ein Generationswechsel ansteht. Israel wird erkennen müssen, dass die nächste Generation der palästinensischen Führung kein Interesse mehr daran hat, ad infinitum bei der Welt um zwei Staaten zu betteln, ganz besonders dann, wenn das Siedlungsprojekt sich immer weiter und weiter ausbreitet, wenn man den Schaden, der im Westjordanland angerichtet worden ist, nicht mehr gutmachen kann. Wenn man den Schaden, den man in Jerusalem angerichtet hat, nicht mehr gutmachen kann. Deshalb streben wir keinen Staat mehr an, sondern wir streben unsere Rechte an.

Wenn du das nächste Mal mit mir sprichst, sage ich dann nicht zu dir, „unterstütze einen palästinensischen Staat“, sondern ich sage zu dir: „Unterstütze mein Recht, im selben Bus zu fahren wie ein Israeli.“ Das ist ein wesentlich überzeugenderes Argument.

Klingt wie 1960 – Rosa Parks…

Freut mich, dass du die Verbindung gesehen hast. Genau da geht’s hin.

Und du bist dann Martin Luther King?

Ich bin dann Sam Bahour, der sich in der Wirtschaft um Arbeitsplätze kümmert, und der das Land mit aufbaut.

Dieses Interview ist die aufbereitete Version der zweiundzwanzigsten und letzten Folge, die Jung & Naiv in Israel & Palästina gedreht haben. Was vor den finalen Gespräche in Nahost gefragt und gesagt wurde, hat Stefan Schulz in Eine Sache des Glaubens eingeordnet. Krautreporter veröffentlicht die finalen Gespräche dieser Reihe - wie auch hier mit einer transkribierten Kurzfassung als Text und mit Zusatzmaterial für unsere Mitglieder.

Gespräch: Tilo Jung
Produktion: Alexander Theiler
Übersetzung: Elka Sloan
Untertitel: Cristian Wente