Immer noch Sturm
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Immer noch Sturm

Mike Drechsel sagt wenig, aber nicht nichts. Er hätte ein zweiter Michael Ballack werden können, doch er blieb im Harz und spielt heute in der Kreisliga. Vom vagen Glück, einen Schritt zurück zu tun – ein Nachwendeporträt.

Profilbild von Jasper Fabian Wenzel

Mach mal Sonne, aber nicht zu doll, hatten sie gesagt. Und die Sonne knallt auf den Asphalt, und die Fußballschuhe der Männer klacken wie einhundert Stilettos. Die Kreisligamannschaft TSV Eintracht Wulften kommt von einem Spaziergang zurück auf das Vereinsgelände.

Dieses sonnenbeschienene Wulften also. Wulften am Harz. Hier räumt Mike Drechsel mit der Sohle einen Kieselstein zur Seite. Im Vereinsheim gibt es Käseplatte, Wurstplatte und Brötchen, Drechsels Töchter laufen über den Rasen, die Zeit, die Zeit.

„Die Mannschaft hat am Vormittag bisschen trainiert“, sagt Trainer Stephan Strüber, „paar Pässe, Ballarbeit, kleines Spielchen, das ist die Lage.“ Es sind zwei Stunden bis zum letzten Spieltag, heute geht’s drum: um die Meisterschaft, den Aufstieg und um die Meisterfeier natürlich.

Wulften ist eine Fahrstuhlmannschaft. Dreimal ging es runter in den letzten neun Jahren. Jetzt will der Klub das vierte Mal rauf. „Ruff“, sagt Stephan Strüber.

Mike Drechsel will einen Sommertag, der später als Foto im Vereinsheim hängt. Er spricht mit gesenktem Kopf, trägt die einfachste Brille der Welt, lächelt, hat, wie die meisten hier, einen Hang zum Unprätentiösen, ist gleichzeitig offen und verschlossen.

„Der talentierteste Stürmer, den der Harz je hatte“, spricht einer, der im gelben Gras seinen Klappstuhl aufgebaut hat. Der Zuschauer mit dem Klappstuhl macht eine Kopfbewegung rüber zu den Umkleidekabinen, zu den Männern mit den roten Trikots, die da warten, einklatschen, rummännern. Erinnerungsfetzen am Spielfeldrand: Mike Drechsel, der talentierteste Stürmer, eine Lichtfigur im Geschichtenraum Harz, der daliegt im Schatten des morschen Ost-Fußballs, der auch deshalb ein großer Anachronismus ist. Der Harz war immer ohne Profitum, ein Amateurfußballgebirge.

Mike Drechsel, geboren 1978, verbringt seine Kindheit in der Harzstadt Blankenburg, DDR, zwölf Kilometer bis zur Westgrenze. Seine Eltern arbeiten bei der NVA, untere Ebene, sie kocht in der Kantine, er hat einen einfachen Bürojob.

Mit fünf fängt Drechsel mit dem Fußball an. Sie stellen ihn ins Tor, aber weil er immer wieder nach vorne rennt, macht ihn der Trainer zum Stürmer. „Man muss wissen, wo man hin will“, sagt Drechsel.

„Mike Drechsel will einen Sommertag, der später als Foto im Vereinsheim hängt.“

„Mike Drechsel will einen Sommertag, der später als Foto im Vereinsheim hängt.“ Bernhard Moosbauer

Nach der Wende, Anfang der Neunziger, spielt er in der Landesauswahl, trainiert fünfmal die Woche, fährt zu DFB-Lehrgängen nach Duisburg und Bad Honnef, er trifft Berti Vogts und trägt die Mannschaftskleidung der Nationalmannschaft. Drechsel bekommt vom Hamburger SV einen Fördervertrag angeboten.