Mit Jung & Naiv spricht Omar Barghouti darüber, warum SodaStream die Schließung ihrer Fabriken im Westjordanland bekannt gab.
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Interview: „Wir boykottieren Institutionen, die mit dem Apartheidsregime gemeinsame Sache machen“

Über Israel zu reden, fällt nicht nur schwer, weil Grenzverläufe strittig sind. Mit Jung & Naiv spricht Omar Barghouti darüber, warum SodaStream die Schließung ihrer Fabriken im Westjordanland bekannt gab, und dass Religionen, Ethnien und Nationalitäten im Nahen Osten nicht unter einen Hut zu bekommen sind. Israel sei keine Demokratie, sagt der Mitbegründer der BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestition und Sanktionen), die sich gegen die israelische Regierung richtet. Teil 4 der finalen Gespräche in Nahost.

Profilbild von Interview von Tilo Jung

https://www.youtube.com/watch?v=85ZRdWYR_kQ

Jedes Mal, wenn ich mit jemandem in Palästina rede, dann sagen die entweder, das ist Israel, wenn es Siedler sind, oder besetztes Palästina, oder Palästina …

Die UN betrachtet das Westjordanland, inklusive Ost-Jerusalem, und Gaza als besetztes Territorium. Das ist keine Frage, über die man unterschiedlicher Meinung sein kann. Die UN definiert das zu Recht als besetztes Gebiet, vollkommen kontrolliert vom israelischen Militär.

Und wer bist Du?

Ich bin ein unabhängiger palästinensischer Menschenrechtsaktivist. Ich bin Ingenieur von Beruf, aber ich arbeite auf freiwilliger Basis für die Bewegung für Boykott, Desinvestition und Sanktionen, die ich mitgegründet habe, gegen Israel. Die BDS-Bewegung wurde 2005 ins Leben gerufen, von der absoluten Mehrheit der palästinensischen Gesellschaft, politischen Parteien, Gewerkschaften, Frauengruppen, Flüchtlingsnetzwerke, NGO etc.

Unsere Kernaussage ist, dass Israel sich an das Völkerrecht halten und die drei Grundrechte des palästinensischen Volkes respektieren muss: die Besetzung der 1967 eroberten Gebiete beenden, das System der Rassendiskriminierung beenden, denn das ist nichts anderes als Apartheid, und das Rückkehrrecht für alle palästinensischen Flüchtlinge, wie es alle anderen Flüchtlinge in der ganzen Welt haben. Und um das zu erreichen, haben wir zum Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen aufgerufen: im akademischen und kulturellen Bereich sowie in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht. Militärisch natürlich auch. Wir wollen erreichen, dass Israel gezwungen wird, seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen.

Was soll Apartheid heißen?

Viele Leute denken dabei nur an die Verbrechen in Südafrika, die 1994 ihr Ende fanden, als die Mehrheit der Südafrikaner das Wahlrecht erhalten haben. Aber Apartheid ist nicht nur ein südafrikanisches Problem.

1973 hat die UN den Straftatbestand „Apartheid“ definiert. Es gab eine internationale Tagung für die Bekämpfung und Bestrafung der Apartheid, wo es auch als Straftatbestand definiert wurde. 2002 hat das römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes auch noch einmal Apartheid definiert. Kurz gesagt ist Apartheid dann gegeben, wenn eine systematische Rassendiskriminierung einer Gruppe durch eine andere vorliegt, wenn sie also aufgrund ihrer Identität mit gesetzlichen Maßnahmen diskriminiert wird, nicht nur durch Praktiken. Wenn also Bürger eines bestimmten Landes keine gleichen Rechte genießen, oder wenn manchen Menschen wegen ihrer Identität nicht einmal gestattet wird, Staatsbürger in einem bestimmten Land zu sein. Wenn das auch noch gesetzlich festgelegt ist, nicht nur in irgendwelchen Praktiken, dann ist das Apartheid. Israel hat 50 verschiedene Gesetze, mit denen seine nicht-jüdischen Bürger diskriminiert werden – die einheimischen palästinensischen Christen und Muslime. Sie werden diskriminiert, weil sie keine Juden sind. Ganz einfach. Nach dem Gesetz. Und das ist Apartheid. Es geht also nicht einfach um Diskriminierungen – die gibt es in jedem Land – Deutschland, Frankreich, die Vereinigten Staaten – es geht darum, dass sie gesetzlich verankert sind, dass es nicht nur Praktiken sind.

Aber vielleicht sollte Israel von dieser Regel ausgenommen sein? Vielleicht sollten sie Apartheid haben, schließlich ist es der jüdische Staat.

Ich glaube, kein Staat darf über dem Völkerrecht stehen, denn das wäre gefährlich. Wenn etwas in diesem Land erlaubt ist, warum ist es dann im nächsten Land nicht erlaubt? Die Schwarzen haben wahrscheinlich in der gesamten Menschheitsgeschichte die schlimmsten Zurücksetzungen erfahren, Sklavenhandel, etc. Millionen und Abermillionen von Schwarzen sind auf den Sklavenschiffen nach Amerika zugrunde gegangen – gibt das den Schwarzen in irgendeinem Land ein Recht, Nicht-Schwarze zu diskriminieren? Im Gesetz festzulegen, dass dieses Land nur Schwarzen gehört und Nicht-Schwarze sollen leiden? Oder auch Deutschland. Niemand will, dass in Deutschland nicht-weiße/arische Christen diskriminiert werden, oder?

Nein.

Das sollte nirgends passieren. Kein Menschenrechtsaktivist sollte irgendeine wie auch immer geartete Diskriminierung aufgrund der Identität gutheißen. Man muss moralisch konsequent sein – man muss sich gegen jede Form der Diskriminierung zur Wehr setzen, nicht nur, wenn wir davon betroffen sind, sondern auch, wenn jeder andere davon betroffen ist. Deshalb richtet sich die BDS-Bewegung gegen jede Form des Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie, gegen Schwarze gerichteten Rassismus, gegen Sinti und Roma gerichteten Rassismus, gegen jeglichen Rassismus. Wir müssen da konsequent sein.

Aber wenn du sagst, die BDS-Bewegung richtet sich gegen Israel – ist das denn kein Antisemitismus?

Nein, wir sind gegen das Regime von Israel gerichtet, gegen die Besatzung, den Kolonialismus der Siedler, und gegen Apartheid. Wir wollen dieses Regime der Ungerechtigkeit beenden. Das heißt nicht, dass wir wegen ihrer Identität gegen irgendwelche Menschen sind. Das hat alles nichts mit der Identität der Menschen zu tun. Es macht keinen Unterschied, ob Israel jüdisch, muslimisch, christlich oder säkular oder hinduistisch ist, das ist wirklich egal. Solange es uns unterdrückt, werden wir weiterhin gegen dieses Unterdrückungsregime Widerstand leisten. Dein zweiter Punkt: Ist das antisemitisch oder nicht? Diese Frage allein ist schon antisemitisch.

Ach ja?

Ja. Wenn man behauptet, dass ein Boykott von Israel antisemitisch ist, dann geht man davon aus, dass Israel und die Juden ein und dasselbe sind. Alle Juden werden von Israel repräsentiert, alle Juden sind eins.

Aber sie nennen sich doch der jüdische Staat.

Die können sich nennen wie sie wollen. Die Tatsache bleibt, dass es auch unter Juden menschliche Unterschiede gibt, so wie in jeder menschlichen Gruppe. Jeder, der die Juden auf einen, monolithischen Begriff reduziert, ist antisemitisch. Wenn man also sagt „Alle Juden sind … ” kann man danach sagen, was man will, es ist antisemitisch. Man kann sagen „Alle Juden sind intelligent“ – dann ist das eine antisemitische Aussage, genauso als ob man sagen würde „Alle Juden sind blöd“. Das wäre genau der gleiche Antisemitismus. Der Philosemitismus, der in der politischen Klasse in Deutschland zu beobachten ist, ist auch Antisemitismus, nur mit einem anderen Gesicht.

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Was ist denn Philosemitismus?

Philosemitismus heißt, dass alles, was Juden machen, ganz toll ist. Jeder, der sagt „Wir lieben alle Juden“, ist doch eigentlich ein Antisemit. Warum sollte denn jemand eine Gruppe von Menschen in ihrer Gesamtheit lieben? Denn jede menschliche Gruppe - Juden, Christen, Muslime, Atheisten, Kommunisten, Sozialisten, Konservative, Liberale - vereint in sich Gutes und Böses.

Kannst du mir den Unterschied erklären zwischen Religion, Volkszugehörigkeit und Nationalität?

Die Palästinenser in den besetzten Gebieten inklusive Ost-Jerusalem machen 38 Prozent des palästinensischen Volkes aus. 12 Prozent unseres Volkes leben als israelische Staatsbürger in Israel, und 50 Prozent unseres Volkes leben im Exil. Sie dürfen nicht zurückkehren, weil sie nicht die richtige Art Menschen sind, weil sie nicht jüdisch sind. Israel ist das einzige Land der Welt, das seine eigene Nationalität nicht anerkennt.

Wirklich?

Es ist wirklich seltsam. Ein Deutscher, ein Amerikaner - jeder wird fragen, wie kann ein Land seine eigene Nationalität nicht anerkennen? Es gibt keine israelische Nationalität. Der Oberste Gerichtshof in Israel hat das mehrmals zurückgewiesen, die israelische Regierung lehnt das Konzept konsequent ab, die Knesset, das israelische Parlament, lehnt jeden Begriff einer israelischen Nationalität ab, denn Israel definiert sich als der Staat für alle Juden. Das heißt, der Staat gehört jedem Juden oder jeder Jüdin in Deutschland, in Brooklyn oder in Südafrika – mehr, als dieser Staat einem Bürger gehört, der oder die nicht jüdisch ist. Wenn du also ein christlicher Staatsbürger bist, ein palästinensischer christlicher Staatsbürger von Israel, dann ist das nicht dein Staat. Du kannst ihn nicht als deinen Staat beanspruchen, weil er sich nicht als der Staat seiner Staatsbürger definiert.

Israel definiert also keine israelische Staatsbürgerschaft, denn das hieße Gleichheit. Wenn es eine israelische Nationalität gäbe, dann wären alle gleich – ob es Juden, Christen oder Muslime sind. Man ist Staatsbürger, man hat diese Nationalität, aber nicht in Israel. Man kann Staatsbürger sein, aber nicht diese Nationalität haben. Wenn man nur Staatsbürger ist, hat man nicht die vollen Rechte. Grundbesitz, viele wichtige Jobs und so weiter, gibt es für Juden und nur für Juden, weil der Staat sich so definiert.

Ist Israel denn eine Demokratie?

Absolut nicht. Das ist eine Fehlbezeichnung. Eine Besatzungsmacht ist keine Demokratie. Es ist nicht demokratisch, einer indigenen Bevölkerung ihr Rückkehrrecht zu verweigern, weil die nicht die richtige Sorte Mensch ist. Es ist nicht demokratisch, 50 Gesetze in den Büchern stehen zu haben, die einen Teil der Staatsbürger diskriminieren, weil die nicht die richtige Sorte Mensch sind. Das ist keine Demokratie, egal nach welchen Kriterien.

Was ist Israel dann?

Es ist eine Apartheid, eine Besatzung und eine Kolonialmacht von Siedlern. Israel ist eine einzigartige Mischung aus diesen drei Komponenten. Im Westjordanland ist es der Kolonialstaat der Siedler, da wird ein Land kolonialisiert, die indigene Bevölkerung wird vertrieben, und es werden ausschließlich Juden angesiedelt, jüdische Siedler übernehmen diese Kolonien. Die Siedler-Kolonialmacht verweigert der indigenen Bevölkerung heimzukehren, nachdem eine ethnische Säuberung stattgefunden hat. Israel ist eine Besatzungsmacht, jeder kann das verstehen, und es ist ein Apartheidsstaat, weil es die UN-Definition von Apartheid erfüllt.

Warum wird Israel dann von all unseren Regierungen in Europa und von der US-Regierung als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet?

Das gehört zu der zionistischen Propaganda, an der Israel viele Jahre lang gearbeitet hat. Israel hat viel Einfluss auf die Mainstream-Medien. Zu sagen, es hätte viel Einfluss, ist eigentlich ein Understatement. Es kontrolliert praktisch den amerikanischen Kongress, und weil die USA heute das mächtigste Land der Erde sind - wir leben immer noch in einer unipolaren Welt -, kann Israel durch diese Kontrolle der Entscheidungen des US-Kongresses auch in Brüssel, auch in der EU, die Agenda bestimmen. Wegen des Drucks aus den USA hat Israel einen enormen Einfluss auf Entscheidungsträger. Und dann ist da natürlich die Holocaust-Schuld.

Die politische Klasse in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in den Niederlanden leidet immer noch unter der Schuld des Holocausts. Wir Palästinenser hatten mit dem Holocaust nichts zu tun. Das war ein europäischer Völkermord gegen europäische Juden und andere, Sinti und Roma, Kommunisten, Schwule und so weiter – warum sollen wir den Preis für einen im wesentlichen europäischen Völkermord bezahlen? Wir hatten nichts damit zu tun. Diese Geschichte sollte man immer in Erinnerung behalten. Da wird davon ausgegangen, dass es wegen des Holocausts okay ist, ethnische Säuberungen zu veranstalten, Palästinenser zu töten und zu massakrieren, wie das gerade in Gaza geschieht. Nein, es ist nicht okay. Es ist nie okay, für keine Gruppe. Opfer sollten nicht zu Tätern werden. Auch das Opfer einer Vergewaltigung hat kein Recht, selbst zum Vergewaltiger zu werden.

Was ist Zionismus?

Zionismus ist eine Ideologie. Wir sprechen hier vom politischen Zionismus, denn es gibt viele Aspekte von Zionismus, kultureller Zionismus und so weiter. Aber kurz gesagt ist der Zionismus eine koloniale europäische Ideologie, die von jüdischen Intellektuellen in Westeuropa ihren Ausgang genommen hat. Sie riefen dazu auf, verschiedene Gebiete der Welt zu kolonialisieren, und sie haben sich schließlich auf Palästina geeinigt. Palästina war nicht ihre erste Wahl, das kam später. Zunächst war die Rede von Uganda, Argentinien, es gab da reichlich Auswahl, wo man kolonialisieren konnte. Es war das 19. Jahrhundert, als die Europäer Afrika, Asien, und so weiter, kolonialisiert haben, da war es ganz normal, an eine jüdische Kolonie zu denken, eine jüdische Kolonie zu etablieren, wo jüdische Kapitalisten ihren eigenen Staat haben könnten. So hat der Zionismus angefangen. Dann haben sie sich auf Palästina geeinigt.

Der Zionismus ist seinem Wesen nach eine rassistische Ideologie, denn er betrachtet die einheimische Bevölkerung des Landes nicht als gleichwertige Menschen, denen gleiche Rechte zustehen. Es beginnt mit der Ideologie, dass es ein leeres Land ist, das kolonisiert, zivilisiert werden soll. So wie die Deutschen, die Briten und die Franzosen Afrika, Asien und sonstige Gebiete, den Kongo zum Beispiel, „zivilisiert“ haben, so wollten die Juden die Wildnis Palästinas zivilisieren. So begann die Ideologie. Aber das ist nur theoretisch. Praktisch wurde der Zionismus umgesetzt. Er ist nicht nur eine rassistische Ideologie, er hat auch eine rassistische Realität. Sie haben die Mehrheit der indigenen palästinensischen Bevölkerung durch ethnische Säuberungen vertrieben, und das war dann eine selbsterfüllende Prophezeihung, das Land wurde so gut wie leer gemacht, indem die indigene Bevölkerung vertrieben wurde, und dann konnte man es kolonialisieren.

Erklär mir BDS. Fang mit dem B an. Was wollt ihr boykottieren?

Boykott heißt, Institutionen zu boykottieren, akademische, kulturelle Institutionen, Firmen, Organisationen zu boykottieren, die mit dem israelischen Regime der Besatzung und der Apartheid gemeinsame Sache machen. Es ist kein Boykott gegen einzelne Personen. Das ist anders als beim südafrikanischen Boykott. Ich war als Aktivist an der Bewegung gegen Südafrika beteiligt, als ich an der Columbia University in New York studiert habe. Damals richtete sich der Boykott gegen jeden und gegen alles. Jeder einzelne Mensch in Südafrika wurde durch die Boykottbewegung boykottiert. Akademiker, Künstler, jeder wurde boykottiert. Im palästinensischen Boykott rufen wir nicht dazu auf, einzelne Personen zu boykottieren. Es ist nur ein Boykott von Institutionen, die gemeinsame Sache machen. Das Thema Identität ist hier nicht wichtig. Es kommt darauf an, ob man an Verbrechen, an Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist. Das kann mit dem Boykott eines bestimmten Unternehmens anfangen, SodaStream zum Beispiel produziert in einer Siedlung, oder A’Hava, oder ein Unternehmen wie Caterpillar wird boykottiert, weil sie Israel mit den Bulldozern beliefern, mit denen palästinensische Häuser und Olivenhaine und ähnliches plattgemacht werden.

Sollten deutsche Waffenhersteller boykottiert werden, denn wir beliefern Israel mit U-Booten und anderem Zeug?

Auf jeden Fall. Aber BDS ist eine strategische Bewegung. Es ist eine Menschenrechtsbewegung, eine gewaltfreie Bewegung, die strategisch vorgeht. Wir betreiben nicht den Boykott von jedem boykottierbaren Unternehmen, denn dadurch würden wir uns verzetteln. Wir konzentrieren uns auf bestimmte strategische Ziele, und indem wir dafür sorgen, dass diese Ziele einen Preis bezahlen, können wir anderen eine Lektion erteilen. Zum Beispiel Veolia, eine französische Firma. Wenn Du im besetzten Jerusalem gewesen bist, hast du die israelische Straßenbahn gesehen, die die Kolonien mit der Stadt Jerusalem verbindet. Das ist ein Service für die Kolonien, damit sie für weitere israelisch/jüdische Siedler attraktiver werden. Dies ist völkerrechtswidrig, denn es wird ein Service für illegale Kolonien angeboten.

Wir rufen seit November 2008 zum Boykott von Veolia auf. Seither hat Veolia Aufträge im Wert von etwa 24 Milliarden Dollar verloren, hauptsächlich in Schweden, Großbritannien, Irland und in den USA. Damit wird anderen Unternehmen eine Lektion erteilt. Veolia ist nicht das einzige Unternehmen, das gemeinsame Sache macht, aber wir zeigen es allen anderen. Ein weiteres Beispiel ist G4S. Das ist eins der größten Sicherheitsunternehmen der Welt, ein britisch/dänisches Unternehmen, die beliefern das israelische Gefängnissystem, wo palästinensische Gefangene, auch Kinder, gefoltert werden.

Gefoltert?

Gefoltert.

Kinder werden gefoltert?

Ja. UNICEF und die Vereinten Nationen haben festgestellt, dass Israel politische Gefangene foltert, auch gefangene Kinder. Das ist heute sehr gut dokumentiert. Folter ist kein Kriegsverbrechen, es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es ist eins der schlimmsten Verbrechen, die es gibt.

Also G4S arbeitet mit den israelischen Gefängnissen zusammen, wo regelmäßig gefoltert wird, und sie sind involviert in den Schutz der Kolonien und sorgen für die Ausstattung der israelischen Checkpoints, der Militär-Checkpoints zu den besetzten Gebieten. Also macht G4S in hohem Grade gemeinsame Sache mit dem israelischen Regime. Wir haben eine sehr intensive Boykott-Kampagne gegen G4S gestartet. Seither hat Bill Gates seine Investitionen aus G4S abgezogen. Das waren mehr als 180 Millionen Dollar, die seine Stiftung in G4S investiert hatte. Die Methodist Church, eine der einflussreichsten protestantischen Kirchen in den USA, hat die Gelder ihrer Pensionskasse aus G4S abgezogen. Die Presbyterianische Kirche hat sich von Caterpillar und von HP und Motorola Solutions zurückgezogen, weil die an der Besatzung mitgearbeitet haben. Irgendwann sind auch deutsche Firmen dran, Militärausrüster, die die Fähigkeiten liefern, die es dem Regime erlauben, weiterhin Menschenrechtsverletzungen zu begehen und das Völkerrecht zu missachten.

Sprichst du mit deutschen Vertretern?

Als ich vergangenes Jahr mit einem Beamten im Auswärtigen Amt in Berlin zusammengekommen bin, begrüßte er mich, und dann hat er gleich losgelegt: „Wir sind dagegen, Juden zu boykottieren.„ Und ich sagte: „Wir auch.“ „Warum sagen Sie das?“ Da habe ich gelacht. Da hat er gefragt: „Warum lachen Sie?“ Und da habe ich gesagt: „Wissen Sie irgendetwas über den Islam?“ – „Nein.“ Ich habe gesagt: “Religiöse Muslime, praktizierende Muslime, wenn die irgendetwas anfangen, wenn sie essen wollen, wenn sie irgendetwas tun wollen, dann sagen sie zuerst ‘Im Namen Gottes, des Barmherzigen.’ Das ist in Deutschland das Gleiche. Zuerst einmal wird gesagt ‚Ich bin dagegen, Juden zu boykottieren.‘ Wer hat denn irgendwas davon gesagt, Juden zu boykottieren? Wir sind dagegen, Juden zu boykottieren, bedingungslos dagegen, denn das ist rassistisch, das ist antisemitisch, und wir sind gegen Rassismus und gegen Antisemitismus. Wir sind dafür, ein israelisches Unterdrückungsregime zu boykottieren.“ – Er fragte: „Erwarten Sie von uns in Deutschland, dass wir Israel boykottieren?“ Ich sagte: „Nein, nicht im Jahr 2013. Noch nicht. Vielleicht in fünf Jahren, aber jetzt noch nicht.“ Er fragte: „Warum in fünf Jahren?“ Ich sagte „Es gibt eine neue Generation von Deutschen, die diese Schuld nicht mehr empfinden, die Sie und die politische Klasse empfinden. Aber wir erwarten nicht, dass Sie Israel boykottieren, nein. Aber ist es zuviel verlangt, wenn wir Sie darum bitten, dass Sie keine militärischen U-Boote mit nuklearen Fähigkeiten an Israel liefern? Ist es zu viel verlangt, Sie darum zu bitten, ein Waffenembargo über Israel zu verhängen? Schließlich ist das ein Konfliktgebiet. Amnesty International hat zu einem Waffenembargo gegen Israel aufgerufen, warum können Sie nicht auf Amnesty hören und ein Waffenembargo verhängen? Die Holocaust-Schuldgefühle müssen doch eine Grenze haben. Sie können doch wegen des Holocausts Ihren früheren Opfern nicht erlauben, uns zu Opfern zu machen.“

Wie ist das mit dem Desinvestment?

Desinvestment heißt, dass ein institutioneller Anleger seine Investitionen aus bestimmten Unternehmen zurückzieht, wenn dieses an Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist.

Wie Bill Gates.

Wie die Bill-Gates-Stiftung, wie die Kirchen, die Methodisten, die Presbyterianer und so weiter. Universitäten. Wir arbeiten dran, dass Universitäten ihre Gelder aus Firmen zurückziehen, die an der Besatzung und an den Siedlungen und an der Mauer und so weiter beteiligt sind.

Was ist mit Sanktionen?

Sanktionen sind die höchste Steigerungsstufe. Deshalb steht das S am Ende: BDS, das ist kein Zufall, denn man braucht erstmal eine Menge B und D, um zum S zu gelangen. Sanktionen werden von Staaten verhängt, oder von staatenübergreifenden Organisationen, wie die Vereinten Nationen, die EU und so weiter. Das ist am Ende das Ziel. Wir wollen Sanktionen gegen Israel, wie sie damals gegen das Südafrika der Apartheid verhängt worden sind. Deshalb bauen wir von ganz unten eine Basisbewegung auf, um Druck auf Entscheidungsträger auszuüben. Wir machen uns keine Illusionen über die westliche Demokratie. Wir wissen, dass das bestenfalls eine Quasi-Demokratie ist. Wir wissen, dass die Menschen alle vier Jahre ein Stück Papier rituell in einen Kasten schieben, und dass sich dadurch kaum etwas auf der Welt ändert…

Aha.

Du weißt doch, dass es am Ende die großen Konzerne sind, die darüber entscheiden, was das Beste ist, aber viele Leute in Europa geben sich der Illusion hin, dass sie tatsächlich die Entscheidungen kontrollieren. Denen muss ich leider sagen, dass das nicht stimmt. Und wir machen uns darüber keine Illusionen. Aber es gibt ja diese Quasi-Demokratie, diese Quasi-Meinungsfreiheit, die die Medien genießen und so weiter, und wir machen uns das zunutze. Wir arbeiten überall mit Partnern zusammen, um Entscheidungen zu beeinflussen, dadurch, dass wir eine starke Graswurzel-Bewegung für die Menschenrechte aufbauen.

Und wie geht das voran? Wie lange müsst ihr noch weitermachen mit BDS?

Wenn man sich die Entwicklung von BDS über die vergangenen ein, zwei Jahre anschaut, dann legen wir zu. Wir nehmen jetzt ziemlich schnell Fahrt auf. Im letzten Juni, 2013, hat die israelische Regierung offiziell angefangen, BDS als strategische Bedrohung für ihr gesamtes Unterdrückungsregime einzuordnen. Also sind wir nicht länger nur lästig, ein Störfaktor, den man ignorieren kann. Hier kann man sich auch in Erinnerung rufen, was Gandhi einmal gesagt hat: „Erst wird man ignoriert, dann wird man ausgelacht, dann wird man bekämpft, und dann hat man gesiegt.“

Wir sind jetzt beim Bekämpft-Werden angelangt. Das haben wir geschafft. Wir sind eine ganze Weile ignoriert worden, dann hat man über uns gelacht, na klar, aber voriges Jahr hat sich etwas geändert. Etwas hat sich geändert – niemand lacht mehr über BDS. Schau dir die hebräischsprachigen Medien in Israel an, im Fernsehen, der israelische Premierminister, führende Knesset-Abgeordnete, die sind sehr, sehr alarmiert. Die haben Angst. Die sehen BDS als strategische Bedrohung. Die Zuständigkeit für die Bekämpfung von BDS ist aus dem Außenministerium ins Ministerium für Strategische Angelegenheiten verlegt worden. Sie betrachten uns nicht länger nur als Propaganda-Problem, nach dem Motto, wenn BDS mehr tut, müssen wir halt mehr Propaganda machen. Das funktioniert nicht. Die haben das jahrelang versucht. Seit der Gründung von BDS im Jahr 2005 haben die jede Menge Propaganda gemacht. Es hat nicht funktioniert.

In Berlin ist eine Tel-Aviv-Strand-Woche veranstaltet worden, die hat nicht funktioniert. Wassermelonen und Hummus-Schnittchen sind an alle Vorbeigehenden verteilt worden, es funktioniert nicht. Das nächste Massaker an Palästinensern macht alle PR-Gewinne wieder zunichte, die mit Wassermelone und Hummus-Schnittchen für die Berliner erzielt worden sind. Es funktioniert nicht. Propaganda allein funktioniert nicht. Man muss auch seine Praktiken ändern. Man muss rassistische Gesetze ändern. Wenn man das nicht macht, wird man das eigene Image nicht ändern können.

BDS wächst aus zwei Gründen: Die massiven Zuwächse der israelischen Rechten, und zwar auch der faschistischen Rechten. Es gibt heute jede Menge Stimmen in Israel, intellektuelle Zionisten, nicht notwendigerweise Anti-Zionisten, die sagen von ihrem Standpunkt innerhalb des Establishments: „Wir bewegen uns in Richtung Faschismus.“ Es sitzen Faschisten in der Regierung.

Faschismus?

Faschismus. In Israel gibt es jetzt eine Gruppe, die sich dem Kampf gegen den Faschismus widmet. Und das sind keine Ultra-Linken. Das ist eine ganz gemäßigte Mainstream-Gruppe von Top-Intellektuellen, Träger des israelischen Staatspreises, sehr bekannte Leute. Einige der größten Namen aus der israelischen Wissenschaft und der Kultur sagen heute, dass es in Israel Symptome von Faschismus gibt. Kein Geringerer als [der israelische Intellektuelle Sefi] Rachlevski hat gesagt, dass man Israel heute mit dem Deutschland der Vierzigerjahre vergleichen könne, am Ende der Vierzigerjahre, als Deutschland besiegt war und nicht wahrhaben wollte, dass es besiegt war, und weitergemacht hat, bis die Welt es in die Knie gezwungen hatte.

Wow.

Ein anderer angesehener Intellektueller in Israel, ein Wissenschaftler, hat ihm widersprochen, aber nur, was die Zeit anlangt. Er sagte: „Nein, nein, es ist mehr wie Deutschland in den Dreißigerjahren, als der Rassismus institutionalisiert und Teil der Gesetzgebung wurde, und wir sind erst auf dem Weg ins absolute Desaster, wir haben das absolute Desaster noch nicht erreicht.“

Und das sind Stimmen in Israel, auf die gehört wird. Die sagen, Israel ist mit Deutschland vergleichbar. Wir stellen diesen Vergleich nicht an – sie stellen den Vergleich an. Und es bilden sich Gruppen gegen den Faschismus, und so weiter. Das ist die Realität, der wir uns im heutigen Israel gegenübersehen. Das hat BDS enorm auf seinem Weg geholfen. Wenn in der Regierung Faschisten sitzen, die offen zum Völkermord an Palästinensern aufrufen, wenn führende Knesset-Abgeordnete offen dazu aufrufen, palästinensische Frauen zu töten, Mütter, damit die keine weitere „Schlangenbrut“ gebären, wenn namhafte Wissenschaftler dazu aufrufen, die Schwestern und Mütter von palästinensischen Freiheitskämpfern zu vergewaltigen, um sie von ihrem Tun anzuhalten, dann braucht man nicht mehr viel zu machen, um die Welt zu überzeugen, dass Israel ein Schurkenstaat ist, ein Pariah-Staat, der sich über das Völkerrecht stellt, und dass es zur Rechenschaft gezogen werden muss.

Publiziert ihr, geht ihr ins Fernsehen, in die westlichen Medien, veröffentlicht ihr Artikel in westlichen Medien?

Ja, viele von uns in der BDS-Bewegung. In den letzten paar Jahren ist man uns etwas offener gegenübergetreten. Die westlichen Medien sind ja sehr, sehr voreingenommen, extrem voreingenommen. Und das ist eine strukturelle Voreingenommenheit. Es ist ja nicht so, dass die Redakteure beim Spiegel oder bei der New York Times oder bei der Londoner Times uns nicht verstehen würden. Das sind ja intelligente Leute, nehme ich mal an. Es ist eine strukturelle Voreingenommenheit. Strukturelle Voreingenommenheit. Und das kann man nicht so einfach ändern. Aber glücklicherweise sind wir ja nicht mehr nur auf die angewiesen. Es gibt jetzt die sozialen Medien. Das Wachstum der sozialen Medien hat BDS mitgenommen.

Wenn wir weiterhin nur auf Medien wie den Spiegel und die New York Times angewiesen wären, könnten wir nie, nie, nie ein Massenpublikum erreichen. Aber inzwischen sind wir durch die sozialen Medien im Mainstream angekommen, und die traditionellen Medien sind gezwungen, mit den sozialen Medien in Wettbewerb zu treten. So erlauben sie uns, und ich wähle dieses Wort mit Bedacht – sie erlauben uns, bestimmte Dinge zu sagen. Ich persönlich zum Beispiel habe Anfang dieses Jahres, im Januar oder Februar, einen Meinungsbeitrag in der New York Times veröffentlicht. Da habe ich zu BDS aufgerufen, ich habe – offen – die israelische Besatzung und Apartheid erklärt. Das hat monatelange Debatten mit dem Chefredakteur gekostet.

Monatelang?

Ja, buchstäblich monatelang. Ich rede lieber nicht drüber. Es waren viele, viele Iterationen, viele, viele Änderungen und Verhandlungen über jedes einzelne Wort, jeden einzelnen Satz. Jedes einzelne Argument wurde wieder und wieder auf seine Richtigkeit überprüft und debattiert und debattiert und debattiert, bis es zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Einer der führenden Redakteure war wirklich sehr professionell und hat dafür gesorgt, dass es am Ende veröffentlicht wurde, aber es gab jede Menge Gegendruck. Und da ging es nur um den einen Artikel.

Dieses Interview ist die aufbereitete Version der achtzehnten Folge, die Jung & Naiv in Nahost gedreht haben. Was vorher gefragt und gesagt wurde, hat Stefan Schulz in Eine Sache des Glaubens eingeordnet. Krautreporter veröffentlicht die finalen Gespräche dieser Reihe - wie auch hier mit einer transkribierten Kurzfassung als Text und mit Zusatzmaterial für unsere Mitglieder.

Morgen geht es weiter mit Saed Bana, Führer und Sprecher der Hamas im Westjordanland.

Gespräch: Tilo Jung
Produktion: Alexander Theiler
Übersetzung: Elka Sloan
Untertitel: Cristian Wente