Ilan, was hat dich dazu motiviert, als Prostituierte zu arbeiten?
Es kamen verschiedene Dinge zusammen. Unter anderem war ich sehr geprägt von einer Lehrerin in der Schule, die mich beeindruckt hat mit ihrer Art und Weise, feministisch zu sein. Ich habe mich in meiner Schulzeit sehr gefangen gefühlt in einem bestimmten Anständigkeitsdenken. Dadurch war feministische Lektüre wirklich das, wo ich gedacht habe: Diese Frauen boxen, sie boxen gegen dieses Gefängnis, in dem ich mich gefangen gefühlt habe. Das war eine große Befreiung. Ich bin dann nach Berlin gezogen und hatte das Gefühl, ganz, ganz viel erleben zu wollen, ganz viel reales Erleben nachholen zu müssen.
Dein Hintergrund entspricht also nicht dem Klischee, das man von einer Prostituierten hat, du kommst aus einer „heilen“ Familie.
Ganz genau. Ich komme aus dem Bereich, wo man sagen würde: aber nein, doch nicht DU! Das sind die gefallenen Mädchen, die von einem hohen Status in der Welt herunterstürzen. Von meiner Biographie her hätte man mich in ein Elite-Dasein, Doktoranden-Dasein reinpacken können. Das zweite ist, dass ich auch nie irgendwelche sexuellen Übergriffe erlebt habe. Ich war auch nie drogenabhängig oder sexsüchtig. Oder frigide.
Wie ging es dann in Berlin weiter?
Es gab damals bei Hydra in Berlin jeden Freitag Frauenfrühstück für Prostituierte und Nicht-Prostituierte.
Ich war einfach neugierig und bin da hingegangen. Das Frühstück war total toll, aber irgendwann sagte ich zu der Sozialarbeiterin neben mir: „Sag mal, ist das normal, dass hier gar keine Prostituierten hinkommen?“ Und sie guckte mich an und sagte: „Weißt du was, du bist die einzige Nicht-Prostituierte an diesem Tisch.“ Da bin ich umgefallen. Die konnten alle Deutsch, die hätten alle komplett normale Studentinnen, Nachbarinnen, Mütter von der Kita nebenan sein können. Niemand rannte in Strapsen herum, die Frauen haben über ihre Kinder gesprochen, ihren Urlaub, ihre Beziehungen. Sie waren nicht besonders sexy, sahen noch nicht einmal besonders gut aus.
In diesem Moment war mein behütetes Schulmädchen-Dasein von der Welt der Prostituierten berührt. Ich esse dasselbe Käsebrötchen wie die! Das ist ja Fiktion, dass das eine andere Welt sei! Und ich merkte, dass das auch in meinem Leben passieren konnte. Man kennt diese Momente, in denen etwas möglich wird, wenn man ein Kind bekommt oder merkt, ich kann auswandern - okay, in die USA! Wo etwas ins Rollen kommt, etwas sehr Schönes möglicherweise, wo im Kopf die Idee vom Zaun zwischen den Welten verschwindet.
Aber von dem Frühstück ins Bordell war es doch sicher noch ein weiter Weg…
Nein. Hydra hat ein sehr gutes System, Frauen zu begleiten, die in die Prostitution wollen. Ich hatte also eine Einstiegsberatung. Die Frau sagte: „Pass auf, Zweidrittel der Frauen, die ich berate, machen es hinterher nicht.“ Sie hat mir auf den Zahn gefühlt: „Brauchst du Geld? Hast du einen Freund im Hintergrund, der das irgendwie gerne hätte? Hast du Alternativen?” Sie hat auch gesagt: “Schau, wenn du in der U-Bahn sitzt, solltest du mit jedem zweiten Mann, mit dem du da sitzt, in diesem Moment Sex haben können. Wenn du sagst, oh Gott, es würgt und schüttelt mich bei dem Gedanken, dann bist du eine Frau, für die Prostitution wahrscheinlich keine gute Idee ist.”
Danach hat sie mir zwei Bordelle rausgesucht, die beide von Frauen gegründet wurden. Quasi Frauen, die Räume anmieten und einrichten und dann weitervermieten an uns „selbstständige Kleinunternehmerinnen“, die Prostituierten.
Mein Bordell war eine sehr große Wohnung in einem Berliner Wohnbereich, getarnt mit einem Klingelschild normaler Mieter. Es war nur tagsüber geöffnet und es gab keine Bar, keinen Alkoholausschank.
Man nennt das Wohnungsbordell, und es ist etwas anderes als die Laufhäuser, in denen die Männer durch die Flure laufen und sich eine Frau aussuchen. Es gibt einen Aufenthaltsraum und eine Küche, in denen sich die Prostituierten aufhalten, die Männer klingeln einzeln und werden einzeln in die Zimmer geführt. Diskretion ist bei Wohnungsbordellen sehr wichtig und ist auch ein Aspekt, der es teurer macht. Insgesamt waren dort etwa vierzig Frauen angemeldet, die in Schichten gearbeitet haben. Auch die Betreiberin war eine Frau.
Hattest du keine Angst?
Ich hatte total Lust, das auszuprobieren, es fühlte sich richtig an, aufregend und neu. Es war dieser Gedanke: Warum könnte ich nicht diejenige sein, die in der Prostitution arbeitet? Warum könnte ich nicht diejenige sein, die in die USA auswandert? Ich dachte immer: Wenn ich einen Stopp in mir spüre, höre ich auf, dann gehe ich keinen Schritt weiter. Das wurde mir auch immer gesagt: Wenn du mit dem ersten Mann auf dem Zimmer bist und merkst, es geht nicht, dann bitte sag uns das, wir regeln das mit dem Mann dann für dich und du bist erstmal nur für dich verantwortlich.
Mein erster Tag im Puff und meine beiden ersten Männer umspannen das gesamte Spektrum, in dem ich mich in der Zeit in der Prostitution bewegt habe. Der erste war der normalste, übersichtlichste, typischste, harmloseste Freier – man konnte sich nichts von ihm merken, weil er megatypisch war.
Was heißt denn: typisch?
Zum Beispiel hatte ich diesen Satz im Kopf: Jede Prostituierte ist therapeutisch tätig. Und es war einfach so. Sein Vater lag im Sterben, er hat mir das erzählt, und ich war das offene Ohr. Es war typisch auch in dem Sinne, wie die halbe Stunde sonst aussah. Zwischen Minute 10 und Minute 20 fand ungefähr der Sex statt, in der Minute 20 hörte er durch seinen Orgasmus auf. Danach gab es eine Art von, ich sag mal, Nachspüren, Reden. Danach dachte ich: Yeah, Leute, ich bin für alles gerüstet. Dieses Schema, dieses Drei-Stufen-Programm aus Sprechen, Sex haben, Sprechen, das kann ich mir merken.
Und der zweite?
Das war ein Tourist aus New York, der sehr unerfahren damit war, im Puff zu sein. Er sagte: „Wir können ja mit einer Massage anfangen“, was sehr typisch ist. Ich sitze also auf ihm drauf und massiere seinen Rücken, und irgendwie kommt das Gespräch darauf, dass er Latein unterrichtet. Ich habe mit einem lateinischen Zitat, das ich ihm Kopf hatte, aus meinem Schulunterricht, geantwortet. Und dann ist irgendwas weggeschmolzen in unserer Idee davon, was in dieser halben Stunde passieren müsste.
Er brachte das sehr schön auf den Punkt, als er sagte: „Ich dachte, ich weiß, was ich von dir will, aber ich habe etwas anderes gefunden. Weißt du, was ich meine?“ Und ich wusste es sofort. Es war klar, in dieser halben Stunde: Wow, du sprichst gerade meine Sprache! Es gab so viel Freiwilligkeit in der Öffnung, keine Maske zu tragen, keiner Schablone zu gehorchen. Die Tür ist zu, diese halbe Stunde gehört uns. Niemand kann uns zwingen zu ficken. Es gibt keine Verpflichtung.
Er war tief berührt, sagte mir die Hausdame später: „Der musste erstmal noch sitzen, der wollte gar nicht wiederkommen, weil er Schiss hatte, dass ihm jetzt sein Leben auseinanderfliegt.“ Und das war nicht, weil er sich klassisch verknallt hätte. Sondern weil er sehr unwillkürlich davon erfasst war, dass viel, viel mehr möglich ist, als miteinander Bedürfnisse zu befriedigen.
Das sind die zwei Pole, die ich in der Prostitution erlebt habe. Der eine Pol: Wir erzählen uns nicht unseren richtigen Namen, wir schulden uns nichts und haben hier eine wirklich spannende Begegnung. Und der andere Pol, wo wir wie blind gesteuerte Zombies Sex haben und uns einreden, dass das irgendwie toll war. Ich rede jetzt nicht davon, dass ich Sex irgendwie aushalte und das Opfer bin, das meine ich gar nicht, ich kann dabei auch einen Orgasmus haben. Ich meine: Egal, wie der Sex für die Prostituierte und den Mann funktioniert, es waren vermutlich trotzdem nicht 100 Prozent dessen, was im Sex und überhaupt im Leben möglich ist. Weil uns bei 100 Prozent erst mal die Sicherung durchknallt.
Es klingt, als wäre dir diese Arbeit leicht gefallen…
Man muss natürlich fragen, was war denn mit meiner Sexualität zu dieser Zeit? Die ist ja das Feld, auf dem das stattfindet. Ich hatte vorher schon Erfahrungen mit Sex mit Fremden, es war jetzt also nicht das erste Mal mit einem Mann, der nicht mein Freund war. Insofern wusste ich, glaube ich, worauf ich mich sexuell einlasse. Ich hätte zu dieser Zeit nicht definieren können, wie meine Sexualität ist, ich war wie ein Schwamm, der alles aufgesaugt hat, ich hatte kein sexuelles Profil wie heute. Heute wäre mir die Art von Sex im Puff vielleicht zu unverbindlich, zu schnell, zu grob, zu kurz.
Aber an diesem ersten Tag im Bordell saß ich in einem Kreis von Kolleginnen und sagte: „Ich habe das Gefühl, ich habe nie etwas anderes gemacht.“ Und eine Kollegin prustete und sagte: „Natürlich nicht! Gut, dass dir das auffällt!“ Sehr viele Frauen, die in der Prostitution zu arbeiten beginnen, merken: Ah. Für das, was ich für meine letzten sechs Exfreunde oder neulich auf der Disco-Toilette gemacht habe, hätte ich richtig Knete kriegen können. Ich hätte es nur hier machen müssen.
Ich sage nicht, dass das erstrebenswert ist. Ich sage nur, der Unterschied ist gleich Null. Das ist ein Statement darüber, wie es um unseren normalen Sex in deutschen Schlafzimmern bestellt ist. Nicht darüber, wie man so krank sein kann, in die Prostitution einzusteigen. Wenn der Unterschied zwischen bezahltem und privatem Sex so klein ist, dann wertet das leider nicht unseren bezahlten Sex auf, sondern es disqualifiziert unseren privaten. Das ist auch wieder so ein Punkt, wo es unbequem wird, wenn die Gesellschaft der Prostituierten mal wirklich in die Augen sieht, bis sie ihr eigenes Spiegelbild darin findet.
Was ich aber eigentlich gemeint hatte, als ich diesen Satz zu der Kollegin gesagt habe, war: Die Qualitäten, die ich in der Erziehung zur Tochter aus gutem Hause gelernt habe, sind die Qualitäten, dank derer ich mich im Bordell heimisch gefühlt habe. Weil ich genau wusste: Du bedienst das, was die Welt von außen an Erwartungen an dich stellt. Und die Welt ist im Patriarchat erst mal eine männliche. Was wir an Hörigkeit den Erwartungen der Welt gegenüber lernen, als Kinder in diesem Schulsystem und später in der Welt aus Studium und Ausbildung, bereitet dich perfekt auf den Puff vor. Was hinzukommt sind Geld und Sex, aber die Qualitäten an sich sind die, die ich als Tochter aus gutem Hause gelernt habe. Eine Gesellschaft mit echtem Interesse müsste fragen, woher können die Prostituierten ihren Job so gut? Und sie müsste sich der Antwort stellen, dass sie selbst ihr das beigebracht hat, und zwar lange vor dem Sex.
Und woher können die Männer das so gut …
Ja, woher haben die Männer den Freiraum und das Vermögen entwickelt, dem zu glauben? Und wann begann eigentlich diese riesengroße, unstillbare Bedürftigkeit des Mannes, im Bett der Held zu sein? Wie kann es sein, dass einer glaubt, dass eine Frau Lust hat, nur weil sie stöhnt? Es kann doch eigentlich nicht wahr sein, dass so viele Freier und Männer überhaupt glauben, dass die Frau bei ihnen natürlich authentisch kommt, während sie bei den anderen vortäuscht. Wir haben nicht mal ein Kindergartenniveau an so vielen Stellen, wenn wir über dieses Thema reden.
Wollen die Freier, die ins Bordell kommen, tendenziell ähnlichen Sex, gibt es da also wie bei anderen Jobs eine gewisse Routine?
Es gibt natürlich eine gewisse Routine. Ich glaube, dass mein Bild von Freiern natürlich geprägt ist von dem, was als Freier bei mir gelandet ist, und ich weiß, dass das nicht durchschnittlich ist. Ich konnte nie Leute akquirieren, die in zwanzig Minuten schnell ficken wollten. Das war nicht die Schwingung, auf der sich jemand für mich entschieden hätte. Grundsätzlich gibt es zwei Bereiche von Freiern, und dazwischen eine Kluft. Das eine ist ganz, ganz normal, wo es schon aufregend ist, wenn man mal Strippen soll. Berühren, vielleicht küssen, wenn die Prostituierte das macht, wahrscheinlich blasen, wahrscheinlich Geschlechtsverkehr, wahrscheinlich Orgasmus. Wenn ich diese Routine nicht schon vor der Prostitution habe, habe ich sie spätestens dann. Und ein Gespräch, ein Mindestmaß an Interaktion.
Das ist der große Pool der Normalos, dann kommt eine große Lücke, und dann kommen diejenigen, die speziell zu Prostituierten gehen, als Freier, weil sie etwas sehr Spezielles brauchen oder möchten. Ich erinnere mich an einen Menschen, der eine Latexallergie hatte und mithilfe der Versiertheit einer Prostituierten versucht hat, mit diesen latexfreien Kondomen umzugehen. Dann gibt es die, die so viel Angst haben vor Frauen, dass sie mit 40 noch keinen Sex hatten und dich darum bitten, sie zu entjungfern. Es gibt auch diejenigen, die etwas wollen,was sie mit ihrer Freundin nicht machen wollen, aus welchen Gründen auch immer, und das ist für sie dann das Extreme. Die meisten, die im SM-Bereich zu Dominas gehen, sind, glaube ich, auch diejenigen, die das in ihrem sonstigen Leben eher nicht machen, die leben das mit Prostituierten aus. 90 Prozent sind also sehr normal, dann kommt lange nichts, dann kommen die zehn Prozent derjenigen, die etwas Extremes ausprobieren wollen. Und was extrem ist und was nicht, hängt ja vom Empfinden des Mannes ab, da kann zum Beispiel Fußfetischismus ein Riesenschritt für jemanden sein.
Hast du verstehen können, wenn man das so verallgemeinern kann, warum Männer ins Bordell gehen?
Ich glaube, dass Männer und Frauen auf sexuelle Frustration unterschiedlich reagieren, auch weil sie anders konditioniert werden. Männer lernen eher: Geh doch in den Puff, geh ficken.
Es gibt keinen Puff für Frauen, da hast du als Frau insofern Pech gehabt. Geh in den Strickkurs, krieg ein Kind, denk an andere schöne Dinge im Leben, mach Tantra, keine Ahnung. Frauen und Männer haben gelernt, verschiedene Bedürfnisse aus ihrem Frust abzuleiten. Männer insistieren auf Sex; sie haben gelernt, dass es im Sex etwas gibt, das ihnen zusteht, und sie vermuten, dass die Prostituierte oder der Porno ihnen das geben kann. Ich glaube, wir sehnen uns nach Verbindung, Glück, Ekstase, nach Anerkennung, das ist bei Männern ein ganz großer Punkt, und sie identifizieren dann: Okay, ich habe Lust auf Sex, auf Prostituierte, auf schöne Frauen, auf Frauen, mit denen der Sex einfach mal nicht verklemmt ist usw. Diese Art von Loslassen, dass die Frau das macht, was die Freundin nicht will – wie auch immer.
Der Aspekt der Anerkennung ist wirklich groß, das wissen auch eigentlich alle Frauen: Dass seine größte Angst ist, er sei nicht gut genug gewesen. Das ist extrem. Das Arbeitsmotto könnte also lauten: Gib ihm nicht das Gefühl, dass er keinen Ständer kriegt, läge an ihm, gib ihm nicht das Gefühl, er sei irgendwie unangenehm, das ist absolut extrem. Simone de Beauvoir sagt: Der Phallus bleibt immer von der Heimsuchung des Penis bedroht, und das ist so genial, denn der Mann hat einen Penis, keinen Phallus, aber der Phallus ist die Konstruktion, der er hinterherhechelt, der er versucht, im Sex zu entsprechen. Es ist aber ein Penis, der ist mal hart und mal weich, das ist einfach so.
Der Phallus als Symbol für …
… fürs Zurechtkommen als Mann im weitesten Sinne. Dass es nicht immer nur um Sixpack und Flachlegen gehen kann, dämmert ja bereits einigen Männern, aber die Grundfigur vom Phallus bleibt bestehen. Das ist wie ein Schatten, der den Mann noch lange begleitet, auch wenn er sich sehr darum bemüht, verletzlich, vorsichtig, demütig zu werden. Selbst wenn er lernen will, zum Beispiel über Gefühl zu sprechen oder eine Frau wirklich liebevoll zu befriedigen, klebt da irgendwie immer noch so lange dieses Ding dran, dass er das jetzt gleich supergut machen will, dass er das Feedback braucht, dass er das sofort kann und großartig macht. Und wenn wir wirklich von einem echten Lernen reden wollen, dann ist diese Erwartung natürlich lächerlich.
Es ist Wahnsinn, was Männern, was kleinen Jungs passiert, dass sie ihr ganzes Leben so bedürftig bleiben. Wer hat sie so sehr verunsichert, dass sie ihr ganzes Leben lang an der Bestätigung durch Frauen hängen, wie ein Junkie an der Nadel? Die gehen aus dem Puff ja nicht mit einem grandiosen Gefühl raus, sie fühlen sich nur etwas weniger beschissen. Das ist einfach krass. Diese klare Aufforderung an die Prostituierte: Sei von vorne bis hinten die Verkörperung, mir recht zu geben! Und sie bemühen sich im Gegenzug häufig sehr um meine Lust, sind sehr liebevoll. Weil sie wirklich bereit sind, die Frau zu lieben, sie zum Orgasmus zu bringen, sobald dieser Raum für sie sicher ist. Und dazu gehört, dass die Frau ihn nicht durchfallen lässt. Dass sie sagt: Du bist richtig, du bist willkommen.
Wie bitte, die Freier geben sich wirklich Mühe?
Natürlich tun sie das nicht alle. Ich würde sagen, wenn sie wüssten, dass sie eine reale Chance haben, die Prostituierte auch ganz einfach sexuell glücklich zu machen, würden sich alle Mühe geben. Die Männer sind sehr darauf bedacht, so angenehm wie möglich zu sein. Und ihre Art von Traurigkeit, ihre Isolation oder Aufregung oder Frust können sie davon ablenken, oder ihr heimlicher Unfrieden damit, überhaupt im Puff zu sein.
Ich muss noch etwas sagen, denn das habe ich wirklich in der Prostitution gelernt: Alle, alle Frauen unterschätzen ihren Wert für Männer. Nicht nur sexuell, sie unterschätzen auch nicht nur ihr sexuelles Potential, sondern sie unterschätzen ihre unersetzbare Rolle, den Mann glücklich zu machen. Der Mann ist glücklich, wenn die Frau glücklich ist. Das wissen so wenig Männer, dass sie sich oft leider komplett andersrum verhalten. Das ist sowas wie eine Ur-Sehnsucht von Männern, offenbar, und die ist so tief vergraben, dass man es am liebsten als Macho kompensiert.
Die Männer sind aber so viel mehr bereit, Abstriche an ihrer eigenen Lust zu machen, wenn die Frau dafür total abgeht. Das ist wirklich der Hammer. Der Mann kann sexuell seinen Frieden nicht finden, wenn die Frau durch den Sex mit ihm nicht blüht. Wahrscheinlich gilt der männliche Sextrieb deshalb als stärker als der von Frauen. Die Männer können einfach nicht aufhören, diese Erfüllung zu suchen, und gehen leider in der Suche ziemlich viel falsch an. Das ist eine tiefe, archetypische Sehnsucht im Mann. Die Männer sind im Puff und im Prinzip könnte sie nichts glücklicher machen, als wenn ich eine halbe Stunde wirklich durch sie leuchte. Und das passiert nicht. Dadurch hat dieses ganze Drama von Frust und Lust und Puff und Orgasmus und Ficken überhaupt erst angefangen. Das ist ein absolut zentraler Punkt .
Ich habe einmal eine Sexparty erlebt, wo fünf Männer fünf Frauen eingeladen hatten, superteuer, superlang, alle hatten Sex miteinander usw. Ich glaube, ich hatte am Anfang auch Sex, und ich habe mich dann mit einem Mann festgequatscht. Wir saßen zusammen auf einem Hocker in der Ecke. Eigentlich hätten wir uns gar nicht aufteilen sollen, jede Frau gehörte jedem Mann, trotzdem war klar, dass wir beide uns jetzt unter eine Decke kuscheln und miteinander sprechen. Ich habe ihn gefragt: „Sag mal, hast du dich auf diesen Abend gefreut?“ Und er sagte: „Ehrlich gesagt, habe ich nicht.“ Der Abend mag für viele eine tolle Sexparty gewesen sein, aber er sagte, der Abend hätte nicht besser laufen können, als mit mir da in der Ecke zu sitzen. Das liegt nicht an mir, sondern daran, dass trotz dieses exorbitanten Aufwands, dieses Klischees, was eben so geil zu sein hat, in dieser Ecke etwas wirklich Lebendiges zwischen uns passieren konnte. Ich glaube, das ist es, was Männer suchen, und das ist der Grund, warum mir einer der Freier gesagt hat: „Ganz ehrlich, wir kommen alle mit Lust und Frust hierhin und wir gehen alle frustrierter weg, als wir herkommen sind.“ Das finde ich unglaublich klug.
Was meinst du, hat er damit gemeint?
Ich lege ihm das jetzt in den Mund, aber der Subtext ist: Ich habe keine Ahnung, warum ich nicht die Frauen ins Bett kriege, mit denen ich echt gern Sex hätte. Ich habe keine Ahnung, warum meine Frau Lust auf Sex verloren hat. Ich habe Schiss, dass das mit mir zu tun hat, ich bin total frustriert, ich weiß nicht, mit wem ich darüber reden kann, ich gehe in den Puff und ich habe das Gefühl, ich kriege da eine gute Show, aber irgendwie habe ich auch das Gefühl, ihr könnt mich nach Strich und Faden verarschen. Und das stimmt. Wir verarschen alle nach Strich und Faden, erst mal. Alle sorgen sich um die Situation der Prostituierten und die Verfasstheit der Prostituierten. Wer sorgt sich eigentlich um die flächendeckende Verfasstheit von Freiern? Deren Job ist absolut nicht einfacher. Weil sie in jeder Hinsicht Energie verlieren. Sie haben keine Ansprechpartner, keine Kollegen, keine Solidarität, bis auf eventuelle Kumpelei.
Man geht wohl davon aus, dass es bei den Freiern kein Leiden gibt.
Das Leiden der Freier wird im Diskurs total verdrängt, denn das sind ja Männer, die haben einfach Lust. Ich finde es auch interessant, dass es so viel mehr Freier gibt als Prostituierte. Die Bewegung der Freier sollte unendlich viel größer sein als die Hurenbewegung.
Aber nein, nur wir Prostituierten müssen uns damit auseinandersetzen, was unsere Tätigkeit mit uns macht, und die Freier verschwinden in der grauen Masse.
Diese Männer brauchen einen Kanal, wo sie es irgendwie rauslassen können, und sie lassen es sexuell raus, und in dem, was sie den Prostituierten mitteilen. Die Not ist groß, irgendwem zu sagen: „Ich liebe meine Frau, aber sie will keinen Sex mehr mit mir. Es hat trotzdem nichts mit meiner Frau zu tun, dass ich jetzt alle Frauen in diesem Laden durchprobiere.“
Natürlich hat es aber was mit seiner Frau zu tun! Weil es natürlich mit seinem Leben zu tun hat! Aber da gibt es eben eine Art von Willkür, von Faulheit. Der Mann sagt: „So ist das eben bei mir zu Hause, und wenn ich im Puff war, geht es mir besser.“ Ja, wahrscheinlich geht es dir besser. Aber wie wäre es, wenn es dir wirklich gut gehen würde? Die Diagnose, die Prostitution ermöglicht, ist nicht: Die Prostitution ist in einem schlechten Zustand, sondern, fuck, diese Welt ist in einem schlechten Zustand. Was unseren Sex, was unsere Art von Denken mit Sexualität gemacht hat, ist eine Katastrophe. Wir verschießen ständig Potenzial. Männer sind so konditioniert, um mal ein sanftes Wort zu verwenden, dass sie extrem viel Erregung, orgasmischen Genuss, Verbindung, extrem viel Glück im Sex wirklich verpassen, wirklich verballern. Und natürlich kann es ganz aufregend sein, die Frau jetzt mal von hinten zu ficken, aber es ist ein Hauch, es ist ein Furz im Vergleich zu dem, was möglich wäre.
Ich habe so viele Männer im Sex und Orgasmus erlebt, und es ist Wahnsinn, wie viel sie verpassen.Wie schnell der Sex vorbei ist, wie unfähig sie sind, den Sex genüsslich auszudehnen, es ist der Wahnsinn! Was an physischer Genussfähigkeit übriggeblieben ist in diesen Muskelpanzern, in diesen Verhärtungen, die ich alle kenne, seit ich Körpertherapie studiert habe. Ich finde es unglaublich und auch einfach traurig, wie sehr Männer beim Sex für Brotkrumen viel, viel Geld bezahlen und tatsächlich glauben, dass es das wert war. Aber das war es nicht wert.
Ist das der Grund dafür, dass Männer nach dem Puffbesuch frustrierter sind als vorher - wie dieser Freier meinte, von dem du vorhin erzählt hast?
Ich glaube, das ist ein Punkt. Wobei ich fast sagen würde: Traurig, nicht frustriert. Der Schmerz des Mannes, die Frau sexuell nicht zu erreichen, ist viel größer. Ich rede jetzt archetypisch, aber ich glaube, dass es dennoch nicht abstrakt ist, sondern unser ganz konkretes, persönliches Erleben prägt. Der Schmerz des Mannes, dessen Frau ihn zurückstößt, ist viel größer, als andersrum die Frau traurig ist, den Mann nicht sexuell glücklich zu machen.
Wie wichtig ist der Aspekt, dass man die Person, mit der man schläft, attraktiv findet?
Also ich würde sagen, ich war in meiner Zeit in der Prostitution nicht darauf angewiesen, die Männer, mit denen ich Sex hatte, attraktiv zu finden. Die Freier haben das vermutlich anders erlebt, die fanden mich wohl schon attraktiv. Attraktivität ist für Männer sehr wichtig, für Frauen ist es etwas individueller und beweglicher, würde ich sagen. Es gibt diese Bücher, „100 Gründe, aus denen Frauen Sex haben“, da ist Attraktivität, glaube ich, nur einer der Gründe. Vielleicht taucht so etwas ähnliches noch mal auf, aber die anderen 98 Punkte sind anders. Wenn es für dich superwichtig ist, deinen Partner immer sexy zu finden, dann solltest du nicht als Prostituierte arbeiten. Das sagt aber nichts darüber aus, wie wichtig Attraktivität ist, sondern darüber, wie wichtig sie für dich ist.
Kann es sinnlich und befriedigend sein, mit einem Mann zu schlafen, der für den Sex bezahlt?
Ich habe natürlich Sex erlebt, der mich völlig kaltgelassen hat. Ich würde nicht sagen, dass ich Sex erlebt habe, der traumatisch oder schrecklich war. Ich kenne aber auch die Palette, das ich wirklich Erregung und Orgasmen erlebt habe. Ich habe auch andere Kolleginnen gefragt, und ich kann mich an keine erinnern, die gesagt hätte, dass sie mit Sex überhaupt keinen Spaß hatte. Eine sagte sogar, sie hätte im Puff besseren Sex als privat. Mehrere andere meinten, sie hätten privat keinen Sex, weil sie sich das im Puff holten. Das ist interessant, das jemand sagt, nö, seit ich Geld dafür kriege, habe ich privat keinen Sex mehr. Das ist ein Bedürfnis, und das wird im Puff befriedigt. Bei mir ist es definitiv nicht so, dass ich es im Puff besser fand, sondern dass privat eine Ganzheitlichkeit und Verbundenheit da ist, die man in einer halben Stunde im Puff nicht aufbauen kann. Aber die Frage, was guter Sex ist, das ist natürlich sehr persönlich.
Hat es dich verändert, in der Prostitution zu arbeiten?
Es hat mich sexuell auf jeden Fall verändert, und es hat mich auch als Mensch verändert. Ich habe eine Art von Erfahrenheit gesammelt, die nicht wirklich erfahren war, sondern nur geschult darin, den Sex zu lenken, zu bedienen und zu machen. Ich habe nicht gelernt, dem zu begegnen, was da war. Positiv war, dass ich danach sehr geistesgegenwärtig und geschult war, was meine Grenzen und Safer Sex betrifft. Ich bin auch körperlich zugänglich und unverklemmt geworden. Man kann auch sagen, gut, da fehlt eine Grenze, da fehlt Scham, das mag sein. Aber es ist auch so, dass ich meinen Körper kenne, da ist nichts ausgespart oder unbekannt. Ein richtiges Erforschen und Begegnen ist jedoch erst in der Beziehung passiert, in der ich zur Zeit ja auch monogam bin. Das hätte ich in der Zeit der Prostitution gar nicht erleben können. Dann kann man natürlich sagen, ja, Mädel, dann hast du ja deine Entwicklung gestoppt. Aber das habe ich garantiert nicht. Ich habe so viel gelernt, weiß so viel über die Welt, so viel über Männer und Frauen und die Probleme, die wir miteinander haben, das hätte ich ohne die Prostitution nie gelernt. Man zahlt immer einen Preis dafür, in einem bestimmten Bereich Experte zu werden. Und das tut weh. Gute Ausbildungen sind hart, und du lässt Federn. Ich habe natürlich Federn gelassen, aber ich würde das für dieses Wissen immer wieder tun.
Warum hast du aufgehört?
Ich habe aufgehört, weil es angefangen hat, mich zu langweilen. Ich habe gespürt, dass ich so etwas wie eine Routine hatte, Enttäuschung durch Langeweile. Es war ein Moment von: Ich glaube, man kann spannender leben. Es hat sich sehr klebrig angefühlt, das Gefühl: „Ja klar, es spricht nichts dagegen, hier noch zu arbeiten, bis ich berentet werde.“ Aber ich hatte das Gefühl, dass es nichts mehr zu lernen gab. Und es hat mich auch nicht gereizt, den Straßenstrich auszuprobieren, ich war ja für jede Art von Milieu viel zu feige. Ich war ja wirklich immer noch das behütete Töchterchen aus gutem Hause, und das war auch okay so. Das finde ich auch sehr süß von mir, dass ich Prostitution erleben konnte, ohne mich mit Samthandschuhen anzupacken, und trotzdem an so vielen Dingen sich nichts geändert hatte. Wo man als Klischee dann wieder sagen würde, du bist ja mit allen Wassern gewaschen.
Ist der Ausstieg dir schwer gefallen?
Ich habe sehr häufig erlebt, dass eine Frau sagte, heute ist mein letzter Tag, ich habe für alle Kuchen mitgebracht, ich hör auf, und eine Woche später war sie plötzlich wieder da. Ich war dann entsetzt. An der Stelle gab es bei uns, glaube ich, auch ein kollegiales Bewusstsein: Wir haben gemerkt, dass es anfängt, problematisch zu werden, wenn es jemand nicht schafft aufzuhören, obwohl er eigentlich aufhören möchte, egal, in welchem Job. Ich war davon irritiert.
Es gab dann diesen Morgen, an dem ich aufgewacht bin und dachte: Ich gehe da nicht mehr hin. Aus diesen ganzen Erlebnissen hatte ich dieses Misstrauen, weil so viele Kolleginnen es nicht geschafft hatten. Aber es war eine Beruhigung, dass ich gemerkt hatte: Überhaupt kein Ding, ich gehe einfach nicht mehr hin. Das war als Ende dieser aktiven Prostitution ein sehr schöner Abschluss. Wir müssen nicht der Sucht erliegen, da Fehler finden zu wollen. Oder wir dürfen sie finden - whatever. Ich habe zum Ausstieg ein sehr behütetes Gefühl, wo ich sehr friedlich mit mir bin.
Im zweiten Interview erzählt Ilan, was sie an der Debatte über Prostitution in Deutschland stört.
Illustration: Veronika Neubauer