Dschihad ist mein Cousin
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Dschihad ist mein Cousin

Wie kann man islamistischen Extremismus verhindern? Ein Projekt in Berlin setzt früh an und arbeitet mit Jugendlichen. Sie lernen dabei zum ersten Mal ihre eigene Religion näher kennen.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Ein Freitagmorgen in einem großen Raum mit hellem Laminatboden und dunklen Bürostühlen in Berlin-Kreuzberg. Eine Gruppe Jugendlicher, zwei Jungs und sechs Mädchen, die normalerweise in der Schule sein müssten, sitzen im Kreis und sehen müde aus. Auf zwei Mädchenköpfen leuchten farbenfrohe Kopftücher. Einer der Jungs trägt ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift: “I’m a Muslim. Don’t panic.” Im Kreis der Jugendlichen sitzen auch zwei Erwachsene.

Chalid Durmosch, dunkler Bart, Brille, Jeans und Sneaker, stellt sich vor: “Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater kommt aus Syrien.” Sein Teampartner Shemi Schabat, drahtig und dunkelhaarig, spricht deutsch mit Akzent. Er sagt: “Ich bin in Tel Aviv geboren.” Ein hübsches Mädchen mit einer Masse brauner Locken, das gerade noch in seinem Stuhl zusammengesunken war, richtet sich auf. “Das heißt - Sie sind Moslem, und Sie sind Jude?”, fragt sie. Die beiden Männer nicken. “Wir schlagen uns auch nur ganz selten”, sagt Chalid. Shemi grinst. “Ach so”, sagt das Mädchen langsam. Jetzt sind alle wach.

Vielleicht ahnen die Jugendlichen an diesem Punkt bereits, dass die beiden Männer an diesem Tag angetreten sind, ihre Welt zu dekonstruieren. Nicht ihre ganze Welt, wohlgemerkt, sondern die schiefen Perspektiven, Missverständnisse und potenziellen Konflikte, mit denen ein muslimischer Jugendlicher in einem sogenannten Problembezirk in Berlin typischerweise lebt. Was an diesem Morgen anfängt, ist ein dreitägiger Kurs, den die Ernst-Reuter-Oberschule im Wedding für die Jugendlichen angefordert hat. Das Trainer-Duo kommt von “Maxime Berlin”, einem Projekt der NGO “Violence Prevention Network” (VPN).

An Schulen wie der Ernst-Reuter-Schule, mit 80 bis 90 Prozent Migrantenkindern, treffen verschiedene Religionen aufeinander. Das sorgt für Konflikte. Und bringt vielleicht im schlimmsten Fall junge Erwachsene hervor, die bereit sind, für ihre Religion, oder was sie dafür halten, mit Gewalt zu kämpfen. “Die Zahl derer, die nach Syrien ausreisen, geht monatlich hoch”, sagt Cornelia Lotthammer von VPN, “Anfang des Jahres waren es noch 200. Mittlerweile sind wir bei 450.”

Der Kurs ist ein Versuch, Radikalisierung bei den Jugendlichen zu verhindern, das Potenzial für Konflikte zu entschärfen. Dafür müssen die Trainer den Kids unter anderem ihre eigene Religion erklären. “Viele haben so ein Halbwissen, was den Islam anbelangt, obwohl sie Muslime sind”, sagt Lotthammer. “Unser Team versucht, den Kindern klarzumachen, was eigentlich im Koran steht, und Vorurteile abzubauen. Das macht sie weniger anfällig für extremistische Prediger. Wir nennen das ‘Grundimpfung’”.


Eingeloggte Krautreporter-Mitglieder können hier das gesamte Interview mit Lotthammer lesen.


Die 14- und 15 Jahre alten Teilnehmer an diesem Kurs sind keine schwierigen Kandidaten, im Gegenteil: Sie sind engagierte Schüler, Wortführer und Klassensprecher. Weil andere auf sie hören, sollen sie zu Schlichtern ausgebildet werden, die anschließend idealerweise mit wachem Blick durch ihre Schule und ihren Bezirk gehen und sehen werden, wo Konfliktlinien verlaufen - zwischen muslimischen Jugendlichen und Andersgläubigen, aber auch zwischen den Jugendlichen und der Gesellschaft. An diesen drei Tagen werden sie Übungen machen, bei denen sie lernen, wie Ausgrenzen funktioniert, was Situationen zum Eskalieren bringt. Sie werden Löwenkräfte entwickeln, während sie einander auf Stühlen durch den Raum zerren, sie werden zu acht auf zwei Stühlen balancieren, um Kooperation auszuprobieren.

Am ersten Tag machen sie eine Übung, bei der sie den verschiedenen Teilen ihrer Identität Farben zuordnen, die sie als Perlen zu Ketten auffädeln. Herkunft, Religion, Geschlecht, Hobbys, Familie.

Foto: Frank Suffert

Je wichtiger eine Sache ist, desto mehr Perlen nehmen sie. So unterschiedlich die Ketten sind: Blau und Rot, die Farben für Religion und Familie, leuchten bei allen besonders stark. “Was fällt euch auf”, fragt Chalid.

“Wir sind alles Kanaken”, sagt Karim, der Junge mit dem “Don’t panic”-Shirt, nüchtern.
Und fasst in diesem Satz ein zentrales Problem der Kids zusammen, das sich in dem Perlenspiel sehr deutlich zeigt: Obwohl diese Vorzeigeschüler in Deutschland geboren sind, deutsche Pässe haben und sich in der deutschen Sprache gewandter ausdrücken können, als mancher Schüler ohne Migrationshintergrund, heißt Muslim-Sein für sie automatisch, dass man nicht deutsch ist.

Shemi glaubt, dass das an den Rückmeldungen liegt, die sie von ihrer Umgebung bekommen. „Ich weiß nicht, ob die als Moslems und Deutsche leben können, wenn man ihnen sagt, eure Hautfarbe ist nicht in Ordnung, eure Religion ist sowieso nur Terror. Ihnen wird immer signalisiert, ihr seid ja nicht Deutsche, ihr könnt es nie wirklich werden“, sagt er.

Die bittere Ironie daran ist, dass die Jugendlichen überall als Ausländer gesehen werden: in Deutschland sowieso, aber auch in den Heimatländern ihrer Familien, weil sie in Deutschland leben und Arabisch und Türkisch bestenfalls gebrochen sprechen. “Deswegen ist ihnen Religion so wichtig”, sagt Chalid. “Man kann nicht deutsch sein, aber auch nicht türkisch, man kann in vielen Bereichen nicht punkten, aber die Religion ist eine rettende Insel, auf die man sich zurückflüchten kann. Sie wird zum Rest der Identität, der sich aufbläht. Das kann man positiv füllen, das kann aber auch radikalisieren. Die Frage ist, wer erreicht die Jugendlichen zuerst?”

Buntes, positives Bild von Religion

Am zweiten Tag machen Chalid und Shemi ein “Islam-Quiz” mit den Schülern. Schnell wird klar, dass zwischen der Vorstellung, welche die Jugendlichen vom Islam haben, und der des deutschen Durchschnittsbürgers ein Abgrund klafft. “Wisst ihr, was Dschihad ist?”, fragt Chalid. Die Schüler blicken ratlos.

“Das ist ein Name”, sagt Karim. “Ja, mein Cousin heißt so”, meldet sich Fatma. Samira weiß ein bisschen mehr: “Viele Deutsche haben Angst vor diesem Namen … Ich glaube, es gab mal einen Dschihad, der was Schlechtes gemacht hat.” Chalid erklärt, dass der Koran von allen Muslimen den Dschihad verlange, und dass die deutschen Medien diesen Begriff mit “Heiliger Krieg” übersetzen würden. Das sei aber falsch. “Würdet ihr euer Kind ‘Heiliger Krieg’ nennen? Warum nicht gleich ‘Terrorboy’?”

Die Kids lachen und schütteln die Köpfe. Sie haben ein buntes, positives Bild von ihrer Religion, das viel mit Familie und Zuhause zu tun hat. Etwa so wie ein mäßig informierter christlicher Teenager, der Weihnachten und Ostern feiert und eine ungefähre Vorstellung von den Zehn Geboten hat.

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So selbstverständlich Religion Teil ihres Lebens ist, so vage ist ihr Bild davon. Sie kennen Bruchstücke und Bräuche, mischen das mit dem, was sie aus dem Internet aufschnappen und den Vorstellungen, die ihre Eltern ihnen vermitteln. Die kennen den Islam aber selbst teils kaum, sind oft Gastarbeiter oder Kinder von Gastarbeitern oder politische Flüchtlinge, die in Deutschland Bräuche ihrer Heimatländer reproduzieren, die sie für islamisch halten, die aber mindestens teilweise kulturell bedingt sind. Ihre in Deutschland geborenen Kinder können kaum Arabisch oder Türkisch, das heißt, selbst diejenigen, die schon in die Moschee gehen, verstehen den Prediger nicht. Sie könnten die Koranschule besuchen, dort würden sie den Koran auf arabisch rezitieren lernen, aber nicht über die Bedeutung der Suren und Verse diskutieren.

Ein nahe liegender Ort, um ihnen ein aufgeklärtes Islam-Verständnis näherzubringen, wäre die Schule. Es gibt in Deutschland rund 700.000 Schüler islamischen Glaubens, und es ist klar, dass man diese Zahl weder ignorieren noch erwarten kann, dass all diese Schüler sich mit Ethikunterricht zufrieden stellen lassen (knapp 26 Prozent der muslimischen Schüler nehmen daran teil, bei den christlichen Schülern sind es knapp 10 Prozent). Die Erkenntnis, dass es im Interesse der Gesellschaft liegen könnte, muslimische Kinder in der Schule eine demokratie-kompatible Version des Islam lernen zu lassen, setzt sich allmählich durch. Mal abgesehen davon, dass das ein Weg sein könnte, Extremismus vorzubeugen, würde ein solcher Unterricht vielleicht noch ganz andere Türen öffnen: Was wäre zum Beispiel, wenn ein muslimischer Teenager, dessen Eltern ihn zu einer Heirat zwingen wollen, mit dem Koran dagegen argumentieren könnte, weil er das in der Schule gelernt hat?

Die Deutsche Islam Konferenz, ein Dialogforum zwischen dem deutschem Staat und den in Deutschland lebenden Muslimen, beschloss 2008, dass islamischer Religionsunterricht als reguläres Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen eingeführt werden sollte. An der Umsetzung hapert es allerdings noch: Zwar werden in mehreren Bundesländern bereits Modelle für Islamunterricht ausprobiert. Es fehlt jedoch unter anderem an geeigneten Lehrern - zumal in acht Bundesländern Frauen mit Kopftuch nicht unterrichten dürfen.

Außerdem muss Religionsunterricht dem Grundgesetz zufolge “in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften” erteilt werden. Die islamischen Verbände erfüllen aber laut der deutschen Rechtsprechung noch nicht die Anforderungen an eine Religionsgemeinschaft. Sie haben keine einheitlichen Ziele, und manche spiegeln stark die Interessen der ursprünglichen Heimatländer wider. Schließlich gibt es gegen Islamunterricht an Schulen immer auch Widerstände von jenen, die Angst vor Extremismus haben: Lehrer, Eltern, Kirchen, Politiker.

Ihnen ist nicht klar, dass damit möglicherweise das Gegenteil erreicht wird: Denn muslimische Kinder und Jugendliche, die sich für ihre Religion interessieren, landen um so wahrscheinlicher bei islamischen Extremisten, weil die häufig auf Deutsch lehren und über das Internet, über Youtube und soziale Medien, Anhänger zu rekrutieren versuchen.

Ausgrenzung auf dem Schulhof

Das wissen aber selbst ihre Lehrer an der Schule häufig nicht, die Chalid als “meist ältere Herkunftsdeutsche” bezeichnet und die mit den muslimischen Schülern oft Schwierigkeiten haben, eben weil zwischen den Lebenswelten ein Abgrund klafft. Was auch daran liegt, dass manche Lehrer nicht zwischen dem Islam an sich und Fundamentalismus unterscheiden. “Wenn der Lehrer sagt: ‘Wir wollen keinen Islam an der Schule’, das geht ja nicht, dann fühlt sich der Jugendliche ausgeladen. Wenn der Lehrer aber sagen würde: Ich will keine Gewalt, keinen Terror und keine Unterdrückung von Frauen an der Schule, hätte keiner was dagegen”, meint Chalid.

Die Schüler üben ihrerseits das Ausgrenzen anderer auf dem Schulhof. Typische Schimpfnamen, die in den Pausen herumfliegen: “Du Jude”, “Du Terrorist”, “Du Kartoffel” , “ey, Schokobon” und “Weißkäse”. Ein Sozialarbeiter von der Ernst-Reuter-Schule , der an diesem Tag die Schüler begleitet, hört und sieht es täglich: „Die Gruppen bleiben alle unter sich. Die Farbigen tun sich zusammen, die Russen, die Türken … neulich haben sich ein schiitisches und ein sunnitisches Mädchen gestritten, ich ging dahin und fragte, was soll das, ihr glaubt doch an das Gleiche?“, erzählt er. „Sie konnten es mir nicht erklären.“

Noch sind die Begriffe islamistischer Prediger, die jeder durchschnittliche deutsche Medienkonsument kennt, kein Teil der Welt dieser Jugendlichen. “Dschihad heißt übersetzt: ‘Sich anstrengen.’ Damit ist gemeint: Sich anstrengen auf dem Wege Allahs„, erklärt Chalid. “Man soll auch Dawa machen, das kann man mit ‘Mission’ übersetzen, aber man soll dafür nicht kämpfen, sondern sich Wissen aneignen und vom Islam erzählen. Ich labere auch nicht drei Wochen an jemanden hin, bis der Moslem ist. Manche Muslime sagen, dass Christen und Juden Ungläubige sind. Aber in der zweiten Sure des Korans steht: ‘Wer an den gleichen Gott glaubt, braucht nicht traurig sein’.”

Shemi Schabat und Chalid Durmosch

Shemi Schabat und Chalid Durmosch Foto: Frank Suffert

“Christen und Juden sind Mitgläubige, mit denen man im Wettbewerb ist. Wenn jemand einer Oma über die Straße hilft, mache ich das mit 2.000 Omas”, sagt Chalid. Die Kids grinsen, stupsen sich an, wollen mehr wissen. “Ist Zwangsheirat erlaubt?”, fragt Karim.
“Nein!”, rufen die Mädchen entschieden. “Nein”, bestätigt Chalid. Und erzählt, dass er als muslimischer Seelsorger im Gefängnis vor einigen Jahren einem der Mörder von Hatun Sürücü begegnet ist.

Der Fall Sürücü hat sich zu einer traurigen Legende ausgewachsen: Die sechzehnjährige Hatun war zur Heirat mit ihrem Cousin in Istanbul gezwungen worden, zerstritt sich jedoch mit Mann und Familie und kehrte einige Zeit später nach Berlin zurück, wo sie ihren Sohn zur Welt brachte. “Der jüngste Bruder musste die Familienehre wieder herstellen. Er hat ihr sechsmal in den Kopf geschossen”, erzählt Chalid grimmig. “Zwangsheirat ist im Koran verboten. Diese Idee vom Schutz der Familienehre kam nicht aus dem Koran, sondern aus der Kultur dieser Familie, das sind alewitische Kurden. Meine Frau ist auch Kurdin.”

“Passen Sie gut auf Ihre Tochter auf”, sagt Fatma leise.

Am Nachmittag geht es zur Exkursion nach Neukölln, zur Sehitlik-Moschee, neben der eine türkische Fahne weht. Das hat seinen Grund: Türkisches Leben gab es in Berlin schon lange, bevor die Gastarbeiter in den 1960ern kamen. Schon 1866 hat Wilhelm I. das Gelände der Moschee der türkischen Gemeinde übereignet, das jetzt der älteste islamische Friedhof Deutschlands ist.

Zum ersten Mal in der Moschee

Als die Schüler heute durch das Tor treten, scheint die Sonne blass auf die weiße Fassade der Moschee und auf die kantigen, schwarzen und grauen Grabsteine davor. Im Hintergrund knattert ein Presslufthammer. Männer in langen, geknöpften Hemden sitzen an kleinen Tischen neben der Teestube, werfen Zuckerwürfel in kastanienbraunen Tee in gläsernen Tassen. Vor der Moschee liegt ein Toter in einem hellen, hölzernen Sarg.

„Für den wird hier demnächst das Gebet gesprochen. Hier kann er das hören, das ist schön für ihn“, sagt Chalid munter. Die Schüler drücken sich unbehaglich am Sarg vorbei, die Treppe hoch, zum Eingang der Moschee, wo sie ihre Schuhe ausziehen, bevor sie innen auf den türksfarbenen, flauschigen Teppich treten, der die Geräusche ihrer Schritte schluckt. Der Raum ist leer. Still scharen sie sich im Halbkreis um Chalid auf dem Boden. Einige von ihnen waren noch nie in einer Moschee.

Chalid kniet jetzt mittig auf dem Teppich. Er sieht nun aus wie ein Prediger und hört sich auch so an. Ein Außenstehender, nicht-muslimischer Beobachter würde diese Szene vielleicht bedrohlich finden: Ein Mann mit Bart, der in einer Moschee zu fremdländisch wirkenden Jugendlichen spricht?

Es ist das gleiche Bild wie jenes, das man schon hundertmal gesehen zu haben glaubt - aber der Inhalt ist ein anderer. ”Wisst ihr, warum diese Moschee so schön ist?„, fragt Chalid. “Ich habe einmal mit einem Architekten gesprochen, der hat es mir erklärt: ‘Schönheit ist Ordnung.’ Die Moschee folgt der Natur. Oben ist sie weiß und blau, wie der Himmel, unten grünlich, wie das Land, in der Mitte hell. Der Architekt der Natur ist Gott.”

Mit den Händen zeichnet Chalid große Gesten in die Luft, als wolle er den Himmel und die Erde einfangen. Die Kids sind beeindruckt. Ihre Blicke gehen nach oben, zur kompliziert bemalten Kuppel, Blau, Gold und Rot auf weißem Grund, kunstvolle Kalligraphie in Gold auf Schwarz. Der geschnitzte Kronleuchter über ihren Köpfen ist größer als ein Mensch.

© Frank Suffert

Chalid senkt die Stimme. „Warum brauchen wir Glauben?“, fragt er. Die Frage fällt in den Kreis wie ein Stein ins Wasser. Die Gruppe vibriert. Hände schießen hoch: „Weil sonst jeder machen würde, was er will“, sagt Karim, der eine dicke Holzkette mit “Allah”-Schriftzug trägt. “Man kommt sonst nicht ins Paradies”, glaubt Samira. Chalid zeigt auf eine Kachel, bemalt mit arabischer Schrift, die an der Wand über der Kanzel hängt. “Dort steht ‘Der Tod ist die beste Predigt’”, sagt er. “Gott hat uns die Möglichkeit gegeben zu fragen, wo wir herkommen und wo wir hingehen. Und deshalb gibt er uns auch eine Antwort. Das wäre sonst ungerecht.”

Shemi sitzt am Rand, er hält sich aus dieser Diskussion heraus. Im Gegensatz zu Chalid, der tatsächlich gläubig ist, hat Shemi mit seiner Religion nicht viel am Hut. Aber es gehört zum Konzept dieses Workshops, den Schülern Inhalte über den Islam zu vermitteln, das bruchstückhafte Bild ihrer muslimischen Identität mit Werten zu füllen, die sie nicht gegen den Rest der Gesellschaft prallen lassen. Es scheint zu funktionieren: Die Kids zeigen eine Wachheit, eine Konzentration, von denen ihre Lehrer in der Schule wahrscheinlich nur träumen können. Sie sind jetzt acht Schwämme, die Informationen aufsaugen. Man merkt, wie wichtig ihnen dieses Thema ist. Man ahnt auch, was passieren könnte, wenn an Chalids Stelle ein anderer sitzen würde. Genau so charismatisch und redegewandt, aber mit anderen Motiven.

“Hassprediger sind eine Minderheit”, sagt Chalid später in der Teestube, nachdem die Jugendlichen nach Hause gegangen sind. “Aber sie schaffen es durch eine gewisse Gelehrsamkeit, die sie vorgaukeln, durch bestimmte Verse und Aussagen von Propheten, die man aus dem Zusammenhang reißt, die Menschen gefügig zu machen.” Man könnte ihn einen Anti-Hassprediger nennen, denn im Prinzip bedient Chalid sich ähnlicher Mittel: Auch er benutzt gezielt Koranzitate, um sein Publikum zu beeinflussen.

“Ich behaupte, dass viele Muslime, die mit IS sympathisieren, selbst Diskriminierung erlebt haben und mal richtig auf die Kacke hauen wollen. Sie haben aber oft kaum Ahnung von ihrer eigenen Religion.”
Chalid

Chalid rührt in seinem Tee. Vom vielen Reden sieht er müde aus.Dann erzählt er von einem muslimischen Insassen in einem Bremer Gefängnis, der Bart trug und sich im islamischen Stil kleidete. Der Mann redete ständig von den Kafiren, Ungläubigen also, die man bekämpfen müsse. “Beim Nachmittagsgebet fragte er dann, was er jetzt beten muss”, sagt Chalid und schüttelt leicht resigniert den Kopf.

Die Frage, ob der Islam eine friedliche oder eine gewaltstiftende Religion ist, wird oft diskutiert. Letztlich gibt es darauf keine klare Antwort, denn jede heilige Schrift lässt sich auslegen, auch Bibelzitate eignen sich bei entsprechender Auslegung als Kampfschrift. Fakt ist wohl, dass die Kämpfer, die von Europa aus nach Syrien gehen, tendenziell nicht gewiefte Theologen sind, sondern Koranfetzen so interpretieren, wie es zu ihrer Gesinnung passt. Berühmt geworden ist das Beispiel der beiden britischen Kämpfer Yusuf Sarwar und Mohammed Ahmed, die vor ihrer Abreise nach Syrien auf Amazon “Islam for Dummies” bestellten.

“Die Frage ist, warum sind die Jugendlichen für Hassprediger so anfällig, und was tragen wir in der Mehrheitsgesellschaft dazu bei? Wo sind wir gescheitert?”, fragt Shemi.“Sarrazin ist auch ein Hassprediger.”

Wie eine Installation zum Thema “religiöse Toleranz”

Am dritten und letzten Tag des Workshops sind Chalid und Shemi etwas im Stress, weil sie ihr geplantes Programm kurzfristig ändern mussten. Morgens haben sie einen Film eingeschoben, in dem von der Bar Mizwah eines jüdischen Jungen erzählt wird. Die Kids haben darauf bestanden, mehr über das Judentum zu erfahren, sie haben Schemi in den vergangenen beiden Tagen eindeutig ins Herz geschlossen. Der Israeli packt eine Tüte Kippot aus, die Kopfbedeckung religiöser Juden, die den Mützen gläubiger Moslems verdächtig ähnlich sieht. Die Kinder befühlen sie neugierig. Karim zieht sich eine an. Mit der Kippa auf dem Kopf und “Allah”-Kette um den Hals sieht er aus wie eine Installation zum Thema “religiöse Toleranz”.

© Frank Suffert

Noch schnell ein Spiel, bei dem die Schüler unter lautem Kreischen auf Stühlen balancieren, dann wirft Shemis Laptop einen letzten Film an die Wand: “Stand up for your rights”. Er soll die Jugendlichen damit konfrontieren, wie die Mehrheitsgesellschaft den Islam sieht. Demonstranten der islamkritischen Bewegung “Pro NRW” schieben sich durchs Bild, zwei alte Damen in langen Mänteln halten Schilder hoch, auf denen rot durchgestrichene Moscheen zu sehen sind. Die Schüler lachen ungläubig, manche stöhnen. Ein Titelbild des „Spiegels“ erscheint: Die schwarze Silhouette einer Frau mit Kopftuch, darunter steht: “Allahs rechtlose Töchter.” Shemi stoppt den Film und sieht in die Runde. Die Kids sind sauer.

“Schlimm, dass die sowas auf ein Titelbild tun”, sagt Karim. Er scharrt mit den Füßen.

“Es erscheint immer das gleiche Bild von uns in den Medien, so eine Frau mit Aldi-Tüte und bedeckt„, sagt Fatma.“Ich kenne so eine Frau nicht.”

“Manchmal rufen sie mir auf der Straße hinterher”, sagt Samira zornig, die an diesem Tag ein leuchtend pinkfarbenes Kopftuch trägt. “Die, die mir was hinterherrufen, das sind für mich die Terroristen!”

“Die bringen mich zum Ausrasten. Ich würde das werfen!”, ruft Rana und knüllt den Plastikbecher zusammen, aus dem sie eben noch getrunken hat.

Samira packt sie an der Schulter. “Ich würde die Oma umschmeißen, die dieses Schild hochhält. Ich habe nichts gegen Deutsche, aber das können die nicht machen”, knurrt sie. Dann schlägt sie die Hand vor den Mund.

“Oh, bin ich jetzt ein Salafist?”, fragt sie bange.

Chalid mischt sich ein: “Salafisten an sich sind nicht böse. Manche von denen sind auch superlieb. Salafisten sind eine kleine, radikale Strömung im Islam, das sind 0,1 Prozent der Muslime in Deutschland. Die sind nicht das Gleiche wie IS, um Gottes Willen, aber sie vereinfachen den Islam. Und manche von denen sagen, wir müssen zurückschlagen.”

Der Projektor wirft nun Bilder von bärtigen Männern an die Wand, die ihre Fäuste in die Luft recken, Schilder hochhalten, auf denen “Tod der Pro-NRW” steht. Flammen zügeln über die Leinwand. Im Raum sitzen jetzt acht bestürzte Jugendliche.

“Was für ein Quatsch, ey”, flüstert Fatma. „Die machen ja das Gleiche.“
“Die wollen den Islam retten, aber machen ihn schlecht”, sagt Karim und hält seine Holzkette fest. “Ich kenne die schon, von Facebook.”

© Frank Suffert

Shemi wirft Chalid einen Blick zu, der nickt. Jetzt sind sie da, wo sie mit der Gruppe hinwollten. Es ist der Moment, in dem allen im Raum die widersinnige Dynamik klar wird, die Islamgegner und Islamisten erzeugen: Beides sind Minderheiten, beide beeinflussen überproportional stark das Bild, das Muslime und Nicht-Muslime in Deutschland voneinander haben. Das wiederum bringt mehr Islamgegner und mehr Islamisten hervor. Dieser Kreislauf ist, so scheint es, längst zum Selbstläufer geworden. Die Jugendlichen wissen in diesem Moment in diesem Raum mehr darüber, als die meisten ihrer Nachbarn, Eltern, Mitschüler, ja, sogar mancher Lehrer, die beim Anblick eines Kopftuchs Fundamentalismus zu riechen meinen. Um so seltsamer scheint es, dass einem Projekt wie „Maxime“ nach drei Jahren die Unterstützung vom Familienministerium entzogen wurde - obwohl das „Institut für Bildung in der Informationsgesellschaft“ dem Projekt einen sehr positiven Evaluationsbericht schrieb. Mittlerweile kommt das Geld für „Maxime“ hauptsächlich von der Lottostiftung.

Klar, man fragt sich: Was sollen diese acht Kids tun, selbst wenn sie etwas verstanden haben? Chalid und Shemi nutzen die letzte Stunde und die Stimmung im Raum, um mit den Schülern fix ein ziemlich anspruchsvolles Programm auf den Flipchart zu werfen, mit Vorschlägen dafür, wie die Jugendlichen nach diesem Workshop fürs muslimisch-nichtmuslimische Miteinander werben könnten. Ideen gibt es genug, manche klein, wie Flyer verteilen, manche größer, wie die von Karim: “Der Typ, dem der Wedding gehört, der Bürgermeister, könnte ein Straßenfest veranstalten.”

Die Jugendlichen machen mit, aber sie sind hibbelig. Auch Chalid und Shemi stehen unter Druck. Die Teilnehmer haben mitgekriegt, dass der Workshop sich dem Ende nähert, sie wollen in die Freiheit, und vielleicht fühlen sie sich auch etwas überfordert. Sie sind immer noch Teenager, und sie haben schon länger nicht mehr ihre Facebook-Nachrichten gesehen. Als es dann plötzlich vorbei ist, sind sie trotzdem traurig. Sie fragen, ob es mehr Workshops geben wird, ob Shemi und Chalid an ihre Schule kommen können. Rana sagt einen Satz, den VPN später in die neue Projekt-Broschüre drucken wird, weil er so bilderbuchmäßig perfekt ist, dass man meinen könnte, jemand hätte ihn ihr souffliert. Sie sagt ihn wie nebenbei: „Ich habe verstanden, dass man mit Reden alles regeln kann. Ich war vorher nicht so.“

Kurz scheint es, als würden sich alle umarmen wollen. Dann aber stehen sie nur unschlüssig im Raum herum. Samira räumt den Abfalleimer in der Ecke leer, die zerknüllten Plastikbecher stapeln sich zu hoch, fallen immer wieder runter, sie hebt sie immer wieder auf. Schließlich bedanken sich alle höflich, verlassen nach und nach den Raum. Manche fotografieren noch schnell mit den Handys den Flipchart, bevor sie ihre Facebook-Seite aufrufen.

Und während sie über ein Stockwerk unter dem Seminarraum über den Hof gehen, drängt sich das Gefühl auf, dass es ein kleiner Skandal ist, dass manche Dinge erst so spät passieren, zu spät für manche. Dass es vielleicht tatsächlich möglich gewesen wäre, manche Bilder zu verhindern, die man im Kopf hat, wenn man die Nachrichten sieht, Zeitung liest, die Bilder bärtiger Typen, die im Nahen Osten stehen, die Flagge des islamischen Staates in die Luft recken. Vielleicht hätte man viel mehr dagegen tun können, vielleicht wäre es gar nicht so schwer gewesen.

 


Da nicht alle Jugendlichen mit Namen in diesem Artikel erscheinen wollten, wurden die Namen der Schüler geändert. Aus dem gleichen Grund sieht man auf den Fotos auch nicht die Gesichter aller Schüler. Ein Fotoset der Reportage können eingeloggte Mitglieder über den Link in der Anmerkung neben diesem Absatz sehen.