Die junge Generation der Palästinenser vertritt inzwischen radikalere Ansichten als ihre Eltern.
Aus dem Archiv

Bis zum nächsten Knall

Der dritte Krieg in sechs Jahren hat in Gaza nicht nur tausende Häuser zerstört, sondern auch die Hoffnung auf Frieden mit Israel. Die junge Generation der Palästinenser vertritt inzwischen radikalere Ansichten als ihre Eltern. Eine Lösung kann sie sich nur noch mit den Raketen der Hamas vorstellen. Warum? Eine Spurensuche bei Waffenstillstand.

Profilbild von von Theresa Breuer und Martina Kix

Als keine Bomben mehr fallen, scheint die Sonne in Gaza-Stadt. Die cremefarbenen Hochhäuser leuchten golden, der Himmel strahlt blau. Auf den Straßen fahren Autos und hupen laut, Neuwagen überholen alte VW, mittendrin peitscht ein Mann auf einem Holzkarren seinen Esel. Am Rand der Hauptstraße sitzt eine Gruppe von Männern auf Plastikhockern und trinkt schwarzen Tee aus kleinen Gläsern. Eine Frau geht vorbei, sie trägt Einkäufe in Plastiktüten. Vor einem Geschäft wehen lange schwarze Kleider in der Luft, rosafarbene Rucksäcke liegen in der Auslage.

Zwei Tage nach Waffenstillstand scheint die Normalität nach Gaza zurückgekehrt. Es wirkt, als hätten die Menschen sich an den Ausnahmezustand gewöhnt, als falle ihnen die Wiederherstellung des Alltags leicht.

Fünfzig Tage haben die Kämpfe zwischen Israel und der Hamas gedauert. Mehr denn je hat Israel in diesem Krieg Wohnhäuser von Zivilisten angegriffen. Die Begründung lautete, Kämpfer wären darin verschanzt gewesen oder es hätten sich Tunnel der Hamas darunter befunden. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen haben 120.000 Menschen in Gaza ihr Zuhause verloren. Rund 2.100 Menschen sind in der Zeit auf palästinensischer Seite gestorben, die meisten von ihnen Zivilisten. Auf der israelischen Seite waren es 73 Tote, die meisten von ihnen Soldaten.

Der Krieg war der dritte seit 2008, kein Jahrzehnt in Gaza war so gewalttätig wie das vergangene. Für die 1,8 Millionen Einwohner des kleinen Landstrichs, der kaum größer ist als das Bundesland Bremen, gibt es keine geordneten Zustände. Von außen lähmt Israel Gaza wirtschaftlich durch eine Blockade. Innenpolitisch unterdrückt die Hamas das Volk. Wie wirkt sich dies auf die junge Generation aus, die unter diesen Umständen aufwächst? Wer in diesen Tagen mit ihr spricht, bekommt den Eindruck, dass Gaza so weit vom Frieden entfernt ist wie noch nie.

Da ist Farah Baker, die während des Krieges mit ihren Tweets weltweite Aufmerksamkeit erlangte. Ayman Mghames, ein Rapper, der den Soundtrack zum Krieg geschrieben hat. Abu Yazan, dessen Jugendbewegung „Gaza Youth Breaks Out“ einst die Hamas stürzen wollte. Fidaa Hanin, die sich für die Rechte palästinensischer Frauen starkmacht. Sie kennen einander nicht, aber es verbindet sie, in Gaza drei Kriege überlebt zu haben. Es verbindet sie, noch nie mit einem Israeli gesprochen zu haben. Und sie verbindet, dass sie die Radikalität, der die Hamas mit ihren Raketen Ausdruck verleiht, fest in ihren Köpfen verankert haben. Die besagt: Israel muss von der Landkarte verschwinden.

Farah Baker

Farah Baker Theresa Breuer

Wochenlang hatte Farah Baker ihr Haus nicht verlassen. Sich nicht einmal auf den Balkon gewagt, aus Angst vor den israelischen F-16-Kampfjets, die Gaza aus der Luft bombardierten. Jetzt kann Farah, 16 Jahre alt, wieder im Garten ihres Elternhauses in Gaza-Stadt sitzen. Zum ersten Mal seit Wochen starrt sie nicht nur auf ihr Handy, sie genießt die Sonnenstrahlen, die frische Luft, sogar das Rauschen des Verkehrs auf der Straße.

Doch die Wunden des Krieges sind noch frisch. Nur wenige Meter von der Hauptstraße entfernt liegt ein Trümmerberg an einer Straßenecke. Noch vor wenigen Wochen stand dort ein Wohnhaus. Zwei Bomben und dreizehn Sekunden brauchte es, um das zwölfstöckige Gebäude zum Einsturz zu bringen. Nachbarn filmten den Angriff mit dem Handy. Das Video haben sie bei YouTube hochgeladen, teilten es bei Twitter und Facebook. Die flackernden Bilder mit der riesigen schwarzen Rauchwolke und dem Feuer sind zum Symbol geworden. Die Betonbrocken, die Bruchstücke von Wänden mit Tapetenresten, zersprungene Toilettenschüsseln sind übrig geblieben. Die Wohnungen, die für Familien ein Zuhause waren, lassen sich nicht einmal mehr erahnen. Während die Nachbarn wieder zur Arbeit gehen, können diese Familien nicht mehr zurück. Sie sind bei Verwandten untergekommen oder in einer der vielen Flüchtlingseinrichtungen. Für sie bedeutet das Ende des Kriegs, bei null zu beginnen.

Die schrecklichste Nacht in Farahs Leben sollte sie berühmt machen: Am 28. Juli twitterte sie ihre Angst im Minutentakt in 140 Zeichen in die Welt.Bomben schlugen in ihrer Nachbarschaft ein. Die Decken in ihrem Haus zitterten.Farah hörte Menschen schreien. „Das ist meine Nachbarschaft. Ich kann nicht aufhören zu weinen. Ich könnte heute Nacht sterben“, schrieb sie unter ihrem Twitternamen @Farah_Gazan eine Minute vor Mitternacht. Über 17.000 Mal wurde ihr Tweet geteilt.

https://twitter.com/Farah_Gazan/status/493878477968642048

In den 50 Kriegstagen ist Farahs Anhängerschaft von einigen Hundert auf über 200.000 gewachsen. Weil sie auf Englisch twittert und nicht, wie viele Menschen in Gaza, auf Arabisch, erreichte sie Timelines auf der ganzen Welt. Ein Follower hat sie als moderne Anne Frank bezeichnet. Farah gefällt der Vergleich. Sie hat das Tagebuch gelesen, während die Bomben auf Gaza fielen.„Aber im Gegensatz zu ihr habe ich das Glück, dass ich noch lebe.“

https://twitter.com/Farah_Gazan/status/504405616698617856

Farah wirkt wie ein normaler Teenager. Sie hat fröhliche, blaue Augen, dunkle Locken und ein pausbäckiges Gesicht, das sie mehr als Kind denn als Frau erscheinen lässt. Sie träumt davon zu reisen, nach Spanien und nach Großbritannien. Ihr Englisch ist sehr gut, sie geht auf eine der besten Schulen in Gaza. In ihrem Zimmer, zwischen rosafarbenem Bett und Schrank, hängt ein großes Poster vom Eiffelturm. Eines der ersten Dinge, die sie nach dem Waffenstillstand gemacht hat: Eis essen mit Freundinnen.

Farah ist Teil einer Generation, die fernab eines normalen Teenager-Daseins aufwächst. Einer Generation, die noch nicht volljährig ist, aber schon drei Kriege überlebt hat. Während des Krieges hat Farah ihr mit ihren Tweets eine Stimme verliehen. Und die klingt auf beängstigende Weise radikal. „Ich unterstütze den bewaffneten Widerstand, auch wenn meine Waffe das Wort ist“, sagt sie. Bewaffneter Widerstand, das sind die Raketen der Hamas, die die Radikal-Islamisten tausendfach nach Israel feuern. Wie die Hamas erkennt sie das Existenzrecht Israels nicht an, und wie die meisten Jugendlichen in Gaza will sie keine Zwei-Staaten-Lösung. “Ich will das Land zurück, das Israel 1948 von uns gestohlen hat.”

Wie lassen sich Farahs Ansichten verstehen? Geboren 1998, ranken sich ihre ersten Erinnerungen um die zweite Intifada in Gaza. Es sind blutige Kindheitserinnerungen von israelischen Soldaten und verletzten Demonstranten.Sie war noch nicht mit der Grundschule fertig, als der Krieg Ende 2008 begann. Ihr Vater, Arzt am Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt, berichtete damals von den Verletzten, die er täglich behandelte. Und von jenen, für die jede Hilfe zu spät kam. Nicht einmal vier Jahre später folgte der nächste Krieg. Und diesen Sommer schon wieder.

Farah hat keine Erinnerung an den Friedensprozess in Oslo, der Mitte der neunziger Jahre Menschen weltweit erstmals Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten machte. Sie kennt keine Politiker, die Visionen haben, die sich eine Aussöhnung der beiden Völker wünschen. Als es sie gab, die Hoffnung, die Visionäre, da war sie noch nicht auf der Welt.

https://twitter.com/Farah_Gazan/status/519190913609117696

Zahlreiche Friedensverhandlungen sind in den vergangenen zwanzig Jahren gescheitert. Die Streitpunkte bleiben dieselben: Die Palästinenser fordern einen unabhängigen Staat, die Räumung der Siedlungen im Westjordanland und ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge von 1948. Israel fordert im Gegenzug Sicherheit für seine Bürger und seine Anerkennung als souveränen Staat von allen palästinensischen Gruppierungen. Außerdem fordern beide Seiten Jerusalem als ihre Hauptstadt.

Nach fast drei Jahren Funkstille war vergangenen Sommer wieder einmal Bewegung in den Nahost-Friedensprozess gekommen. Der amerikanische Außenminister John Kerry reiste wiederholt nach Israel und in die palästinensischen Gebiete, um beide Seiten zu Gesprächen zu bewegen. Sein Plan war es, innerhalb von neun Monaten ein Friedensabkommen zu erreichen.

Die Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis. Anfang 2014 beendeten die palästinensischen Gruppen Hamas und Fatah ihren Bruderkrieg und bildeten eine Einheitsregierung. Israel brach daraufhin alle Gespräche ab, weil die radikal-islamische Hamas das Existenzrecht Israels bis heute nicht anerkennt.

Dann wurden im Juni drei israelische Jugendliche im Westjordanland entführt und umgebracht. Radikale Israelis rächten sich mit der Ermordung eines palästinensischen Jungen. Israel reagierte mit Massenfestnahmen und Hausdurchsuchungen im Westjordanland, die Hamas mit Raketenbeschuss aus Gaza. Anfang Juli eskalierte die Gewalt auf beiden Seiten und mündete in einen Krieg.Er endete mit einem Waffenstillstand, der Ende August in Kairo vereinbart wurde. Eine echte Lösung ist auch nach Jahrzehnten der Gewalt nicht in Sicht.

Ayman Mghames (links) und ein Band-Mitglied

Ayman Mghames (links) und ein Band-Mitglied Theresa Breuer

Auch Ayman Mghames sieht keine Chance mehr auf Aussöhnung. Der 29 Jahre alte Palästinenser sitzt an einem Freitagabend in dem Café des Marna House Hotels in Gaza-Stadt. Er raucht Wasserpfeife mit Apfeltabak, ein paarTische weiter spielen Männer Karten. Es wirkt, als könnte das Café mit den Rattan-Stühlen auch in Berlin-Kreuzberg sein.

Ayman trägt Jeans und ein gestreiftes T-Shirt. Seine braunen Augen sehen müde aus. Ayman ist Sänger der Rap-Gruppe Watar. Im Krieg hat er zusammen mit Freunden den Song „We teach life, Sir“ aufgenommen. Weil es während der Angriffe unmöglich war, die fünfköpfige Band in einem Studio zusammenzubringen, hat Ayman seinen Part des Songs in seinem Wohnzimmer aufgenommen und dann an einen Bandkollegen geschickt, der alles zu einem Stück gemischt hat. Ein anderer Freund hat das Video geschnitten, in dem abwechselnd Sequenzen mit Bombeneinschlägen und lachende Kinder zu sehen sind.

Für viele Palästinenser ist das Lied der Soundtrack zum Krieg geworden. Der Text basiert auf einem Gedicht, das die palästinensische Aktivistin Rafeef Ziadah, die in London lebt, im Krieg 2008 geschrieben hat. Es ist die Antwort auf eine Frage, die ihr ein Journalist damals stellte: „Warum lehrt ihr Palästinenser euren Kindern Hass?“. „Wir lehren nicht Hass, wir lehren das Leben“, entgegnete sie.

https://www.youtube.com/watch?v=axF0m5iSbIo

20.000 Mal wurde das Video bei YouTube bislang aufgerufen. Für Ayman ein großer Erfolg, wenn man bedenkt, dass die Hamas in Gaza jegliche Musik unterdrückt, die sie als subversiv erachtet. Seit ihrer gewaltsamen Machtübernahme im Jahr 2007 haben die Radikal-Islamisten systematisch kulturelle Einrichtungen und Veranstaltungsräume geschlossen. Nur selten spricht die Hamas eine Erlaubnis für Konzerte aus. Kinos und Theater gibt es in Gaza keine.

„Die Hamas macht es unmöglich, sich hier künstlerisch zu entfalten“,sagt Ayman. Trotzdem möchte er nirgendwo anders leben. „Für meine Familie war es ein langer Kampf, nach Palästina zurückzukehren.“ Ayman ist in einem Flüchtlingslager im Libanon geboren, später in Tunesien aufgewachsen. 1996 durfte seine Familie im Zuge der Oslo-Verhandlungen nach Gaza zurück. „Ich erinnere mich noch, wie glücklich ich war, zum ersten Mal den Boden unseres eigenen Landes zu betreten.“ Das Glück währte nur wenige Sekunden: „Das erste, was ich sah, war ein israelischer Soldat. Ein Mensch, der nicht hierher gehört.“

Da habe er realisiert, dass Palästina nicht das Paradies sei, von dem seine Eltern ihm immer vorgeschwärmt hatten. Selbst als die Israelis 2005 Gaza verlassen und alle Siedlungen geräumt haben, hörte Aymans Kampf nicht auf.„Sie nennen mich hier 07“, sagt er. 07, das ist die Nummer, mit der sein Ausweis beginnt. Sie signalisiert, dass er ein Flüchtling ist, kein ursprünglicher Einwohner Gazas. Andere Palästinenser haben ihn in der Vergangenheit deswegen beschimpft. Ayman hat den Flüchtlingsstempel nie ganz wegbekommen.

Mehr zum Thema

Als Teenager begann er, seinen Frust über die Situation und die Besatzung in Liedtexten niederzuschreiben. Mit sozialer Arbeit in einem Jugendzentrum versuchte er, seinen Teil für eine Veränderung in der Gesellschaft zu leisten. Mit Jugendlichen machte er dort Musik, brachte ihnen Breakdancing bei. Bis die Einrichtung von der Hamas geschlossen wurde. Die Reglementierungen, das unterdrückte kulturelle Leben haben Ayman mehrfach seinen Arbeitsplatz gekostet. Trotzdem sagt er: „Ich unterstütze den bewaffneten Widerstand.“

Der Grund dafür liegt in seiner persönlichen Geschichte: Während des Krieges 2011 attackierte Israel das Haus seiner Eltern. Eine Bombe schlug im Wohnzimmer ein und tötete seinen Vater. „An meinem Geburtstag habe ich ihn zu Grabe getragen“, sagt er und blickt auf den Boden. In diesem Krieg ist einer seiner Cousins umgekommen. Aymans Geschichte ist nichts Besonderes. In fast jeder Familie ist in den vergangenen Jahren ein Mitglied im Krieg gestorben, ein Freund oder ein entfernter Verwandter. “So sehr ich den politischen Arm der Hamas hasse, die Raketen auf das so genannte Israel heiße ich gut. Sie nehmen uns sonst gar nicht wahr“, sagt er.

Aufräumarbeiten im Gaza-Streifen

Aufräumarbeiten im Gaza-Streifen Theresa Breuer

Die Wut kommt aus den Trümmern. Al-Bureij im Süden, Shujaiya im Osten,Beit Lahiya im Norden: Die Bomben haben sie in Ruinenlandschaften verwandelt.Auch in Beit Hanun, im Norden an der Grenze zu Israel, steht kaum noch ein Haus. An den meisten Gebäuden fehlen Dächer und Wände, viele Häuser sind vollständig in sich zusammengefallen. Eine Schule der Vereinten Nationen am Stadtrand ist von Einschusslöchern übersät. Mindestens 15 Menschen sind bei einem Angriff auf die Schule am 24. Juli gestorben, in die sie gekommen waren, um Schutz zu suchen. In der Abenddämmerung wühlen Familien in den Trümmern nach ihren Besitztümern. Kinder klettern über die Ruinen. Männer sitzen schweigend davor und warten darauf, dass jemand kommt und ihnen sagt, wie es nun weitergeht.

Am Ende einer kleinen Straße, in der nur wenige Häuser stehen, wohnt Fidaa Haanin. Sie und ihre Familie haben Glück gehabt. Ihr Haus ist eines der wenigen, das noch steht. Die weiße Villa ist von hohen Mauern umgeben. Im Innenhof wachsen Weintrauben, im Schatten grüner Pflanzen steht eine Hollywoodschaukel. Fidaa, 25, lange, braune Haare und wache, dunkle Augen, pflückt einige Trauben. Vergisst man für einen Moment, dass man in Gaza ist, könnte man glauben, das Anwesen sei eine Ferienresidenz in der Toskana.

Diesen Sommer wurde es zur ihrer Bastion. Ende Juli kündigte das israelische Militär an, Beit Hanun zu bombardieren. Es hieß, in der Gegend befänden sich Tunnel, über die die Hamas Attentäter und Waffen nach Israel schleuse. Die meisten Bewohner flohen aus der Stadt. Fidaa blieb, gemeinsam mit ihrem Vater. „Bist du wahnsinnig“, fragten ihre Mutter und ihre Geschwister, „sie werden dich umbringen“. „Und wenn die Israelis kommen?“, entgegnete Fidaa, „dann werden sie unser Zuhause besetzen, wie sie es 1948 getan haben“.

Sie erzählt, wie sie nachts im unteren Stockwerk des Hauses saß und die Einschläge zählte. Tagsüber, wenn die Bombardements aussetzten, sei sie durch das Viertel gegangen. Es hatte sich in eine Geisterstadt verwandelt. Die sorgenvollen Telefonanrufe bei ihren Nachbarn blieben unbeantwortet. Niemand, dem sein Leben lieb war, war mehr da.

Fidaa wohnt erst seit Ende Mai wieder in Beit Hanun. Vorher hat sie mit einem Stipendium der Vereinten Nationen Gender Studies in Island studiert.Das Fach erforscht, wie das Geschlecht von der Gesellschaft geformt wird und wiederum menschliche Gemeinschaften prägt. Fidaa bezeichnet sich als Feministin. „Wir Frauen in Gaza werden von den Männern unterdrückt. Es fängt damit an, dass wir nicht anziehen dürfen, was wir wollen, und es hört damit auf, dass Frauen hier von Familienmitgliedern ermordet werden, weil sie angeblich die Ehre beschmutzt haben.“ Vor ihrem Studium hat Fidaa für verschiedene Organisationen gearbeitet, die sich für Frauenrechte einsetzen. „Die meisten davon hat die Hamas inzwischen geschlossen“, sagt sie.

Ihre Abschlussarbeit an der Universität hat sie über häusliche Gewalt in Gaza geschrieben. Wenn sie über die Rolle der Frau und männliche Dominanz in ihrem Land spricht, klingt sie wie eine Wissenschaftlerin, die auf sachlicher Ebene Ursache und Wirkung sozialer Probleme erforscht. Sie ist ruhig und besonnen, sagt Dinge wie: „In einer von Gewalt und Militär geprägten Gesellschaft wirkt sich das zwangsläufig auch auf das Familienleben aus.“

Doch sobald das Thema Israel zur Sprache kommt, erhebt sich ihre Stimme, weiten sich ihre Augen, schreit sie beinahe. „Meine Mutter stammt aus Haifa, wir haben ein Recht darauf, dorthin zurückzukehren“, sagt sie mit geballten Fäusten. Fragt man genauer nach, stellt sich heraus: Ihre Mutter hat die Stadt im Norden Israels nie betreten. Fidaas Großeltern sind 1948 in den Irak geflohen, die Mutter ist in Bagdad geboren. Während der Oslo-Verhandlungen wurde es der Familie gestattet, nach Gaza zurückzukehren, wo ihr Vater geboren ist. „Aber den Schlüssel zu unserem alten Haus besitzen wir noch immer.“

Viele Palästinenser tun das. Es ist ihr Beweis dafür, dass sie Flüchtlinge sind, denen Israel das Recht auf ihre Heimat verweigert. Ihr Beweis, dass ihrem Volk großes Unrecht widerfahren ist, für das es seit über 60 Jahren keine Gerechtigkeit erfährt. Dass auch Israel in den vergangenen Jahrzehnten Gewalt von der palästinensischen Seite erfahren hat, blendet Fidaa aus. Die Selbstmordattentäter, die israelische Busse und Marktplätze in die Luft gesprengt haben, existieren in ihren Geschichten nicht. Die gewalttätige Rhetorik und die Raketen der Hamas ebenso wenig. Fidaas Fähigkeit, Ursache und Wirkung von menschlichem Handeln und politischen Konflikten zu analysieren, endet mit der Erwähnung Israels. Für sie steht fest: Israel ist der Aggressor, die Palästinenser die Opfer. So hat sie es von klein auf gelernt und seit ihrerJugend erlebt.

Wie Fidaa ist auch Abu Yazan für sein Studium ins Ausland gegangen – allerdings unter weniger freiwilligen Umständen. „Es war Flucht“, sagt er. Abu Yazan, 27, heißt nicht wirklich so. Er hat sich den Namen gegeben, um sich zu schützen, wenn er über seine politische Haltung spricht. Er raucht eine Zigarette nach der anderen, sein Gesicht ist schmal, seine Augen sind ernst. Als Ort für das Gespräch hat er die Wohnung eines Bekannten gewählt. In der Öffentlichkeit will er sich mit ausländischen Journalisten nicht zeigen.

Abu Yazan

Abu Yazan Theresa Breuer

Seit drei Jahren lebt Abu Yazan nicht mehr in seiner Heimat, weil die Hamas ihn aufgrund seiner politischen Aktivitäten bei der Gruppe „Gaza Youth Breaks Out“ verfolgt hat. Im Frühjahr 2011, als der arabische Frühling begann, hat er sie gegründet. Damals trafen sich Abu Yazan und sieben Freunde in einem Café. Sie taten das, was nicht gern gesehen wird in Gaza: Sie redeten über Politik. Sie redeten darüber, dass sie keine Arbeit fänden, dass sie nicht genug Geld verdienten, um eine Hochzeit zu bezahlen und darüber, dass sie ihre Meinung nicht frei äußern könnten.

Schnell waren sie sich einig, dass etwas getan werden muss, und so begannen sie zu schreiben. Entstanden ist ein Manifest, das mit den Worten “Fuck Hamas. Fuck Israel. Fuck Fatah. Fuck UN. Fuck UNWRA. Fuck USA“ begann. Er war eine Schrift der Verzweiflung, eine Sehnsucht nach Neuanfang. Ihre Zeilen verbreiteten sich schnell im Internet. Bei Facebook teilten junge Palästinenser die Streitschrift.

In Gaza-Stadt gingen Hunderte auf die Straßen und folgten der aufflammenden Bewegung. Doch die Hamas schaffte es mit Waffengewalt, die Jugendlichen einzuschüchtern. Sie fanden heraus, wer hinter dem Manifest steckt. „Mehr als vierzig Mal hat mich die Hamas seitdem festgenommen“, sagt Abu Yazan. Sie steckten ihn in winzige Zellen, in denen es ihm nicht möglich war, zu sitzen oder zu liegen. Die Wärter setzten ihm vergammeltes Essen vor, Schergen des Regimes verhörten ihn immer wieder.

Irgendwann wurde es ihm zu gefährlich. Über Ägypten gelangte Abu Yazan nach Deutschland. Dort hat er bis zum Sommer 2014 Englisch und Sozialkunde auf Lehramt studiert. Dann brach der Krieg aus, und noch mehr als die Hamas fürchtete er um seine Familie. „Die Bilder in den Nachrichten von den Bombeneinschlägen, meine weinende Mutter am Telefon – ich konnte sie unmöglich alleine lassen“, sagt er.

Also kehrte Abu Yazan zurück. Wenige Tage nach seiner Ankunft erfuhr er, dass das israelische Militär plante, das Wohnhaus seiner Mutter zu bombardieren. Sie hatte einen entsprechenden Anruf vom israelischen Militär erhalten. Doch anstatt das Nötigste zu packen und das Haus zu verlassen, rief sie Freunde und Bekannte an. „Wenn sich genug Menschen in einem Gebäude versammeln, schreckt Israel vor einer Bombardierung zurück“, sagt Abu Yazan. Rund 1.000 Leute kamen zusammen. Das Haus steht noch. „Widerstand ist die einzige Lösung“, sagt Abu Yazan knapp.

Auf der Facebook-Seite von „Gaza Youth Breaks Out“ kritisiert er inzwischen nicht mehr die Hamas, sondern schreibt, dass er stolz auf die Widerstandskämpfer sei, die tagelang im Einsatz sind, um Raketen auf Israel zu feuern. „Ich habe die Hamas jetzt verstanden“, sagt er, „Israel will keinen Frieden, deshalb müssen wir uns wehren“.


Das Leben im Gazastreifen hat die junge Generation mürbe gemacht. Frieden ist für sie ein abstraktes Konstrukt, das höchstens als Abwesenheit von Gewalt verstanden wird. Sie dämonisieren Israel, weil es keinen Austausch zwischen den Gesellschaften, keinen Dialog, keine Aussöhnung gibt. Farah Baker und Fidaa Haanin ist der Arabisch-Israelische Krieg von 1948 näher als die Jugendproteste 2011. Ayman Mghames und Abu Yazan haben versucht, sich gegen die Hamas zu wenden und sind durch ihr persönliches Schicksal gebrochen worden.

Wenn nicht sie sich für eine friedliche Lösung einsetzen, wer dann? Wer wird ein Vorbild für die Kinder sein, die in diesem Sommer ihren ersten Krieg erlebt haben? Gaza gleicht einer griechischen Tragödie, in der die Menschen scheitern, egal, wie sie handeln, egal, auf wessen Seite sie stehen. Weder die Hamas noch Israel bietet der Jugend eine Zukunft. Und so leben sie mit den Traumata ihrer Vergangenheit. Bis zum nächsten Knall.


Diese Reportage erscheint als Kooperation von Weeklys und Krautreporter.
Aufmacherbild: Theresa Breuer