Mitten in Riga ist Galina Timtschenko mal wieder in Moskau aufgewacht. Seit einem halben Jahr geht das jetzt schon so; gelebte Paradoxie im lettischen Exil. In einem der umgewidmeten Getreidespeicher am Ostufer der Düna, Backsteinfassade, innen viel Holz und weiße Flächen, die Trennwände aus Glas, ein Ort an dem viele jetzt gerne sein wollen, die in dieser Stadt etwas Neues beginnen, schaltet Timtschenko ihren Computer ein. Und wie an jedem Morgen, der hier immer eine Stunde früher beginnt, geht der Blick der russischen Journalistin zuerst zurück nach Osten, nach Moskau, in die Heimat. Dorthin, wo sie bis vor einem Jahr noch Chefredakteurin des Nachrichtenportals Lenta.ru war, damals mit täglich drei Millionen Seitenaufrufen auf dem Zenit der Aufmerksamkeit angelangt. Meistgelesenes Medium Russlands, an fünfter Stelle in Europa sogar – es war ein kurzer Moment des Erfolgs, der für die Redaktion und Chefredakteurin Timtschenko zugleich ein abruptes Ende markierte.
Ein einziger Link beendete Timtschenkos Karriere nach zehn Jahren als Chefredakteurin. Gestanden hatte er in einem Lenta-Artikel und führte zu einem Interview mit Dmytro Jarosch, einem der Wortführer des rechten Sektors in der Ukraine, der darin den damals als Terrorist gesuchten Doku Umarow um Hilfe im Kampf gegen Russland bat. Die russische Internet-Kontrollbehörde Roskomnadsor, die sich bis dahin nicht in die Berichterstattung von Lenta.ru eingemischt hatte, befand das Stück als „extremistisch“ und drohte mit der Schließung der Website. Innerhalb von nur einer Stunde räumte Timtschenko ihr Büro in der Lenta-Redaktion, unweit des Kreml.
Galina Timtschenko sei freiwillig gegangen, sagte Lenta.ru-Inhaber Alexander Mamut kurz nach ihrem Abschied.
Mamut habe lediglich dem Druck des Kreml nachgegeben und sie vor die Tür gesetzt, sagt Timtschenko.
Die meisten Redaktionsmitglieder folgen Timtschenkos Interpretation, 73 von 84 kündigen wenig später. In einem offenen Brief an ihre Leser erklären sie, warum sie unter der neuen Führung nicht mehr arbeiten wollen. Als neuen Chefredakteur hatte Mamut den zuvor für die Kreml-Beziehungen seiner Afisha-Rambler-SUP Holding zuständigen Kommunikationsdirektor Alexej Goreslawski eingesetzt. „Das Übel ist nicht, dass wir den Arbeitsplatz verloren haben. Das Übel ist, dass Sie nichts mehr zu lesen haben“, heißt es in dem Brief, über den eine hitzige Debatte um die Zukunft der freien Medien in Russland entbrannte.
In diesem Klima der Unfreiheit, das vom Carnegie Center Moskau als „Das Ende der freien Presse in Russland“ bezeichnet wurde, verließ Galina Timtschenko Russland. Die unwahrscheinliche Rückkehr passierte nur sieben Monate später – auf dem Bildschirm: Am 7. Oktober 2014 schreibt Timtschenko auf ihrer Facebook-Seite: „Wir haben versprochen, dass wir zurückkommen.“ Dazu ein Link zu Meduza.io, dem russisch- und englischsprachigen Nachrichtenportal, das Timtschenko im lettischen Exil neu gegründet hat. Zu ihrem Team gehören acht ihrer ehemaligen Lenta-Kollegen und sechs weitere Journalisten von namhaften russischen Medien. Allesamt junge Generalisten ohne Spezialgebiete, mit einer Lebensplanung, die diese drastische Veränderung überhaupt erst zuließ. „Jetzt stehen unsere Beine also jeden Morgen in Riga auf, aber mit den Köpfen sind wir noch immer in Moskau“, sagt Timtschenko, an ihrem nach Osten ausgerichteten Schreibtisch sitzend, im Rücken die Rigaer Weststadt und die Düna, grau vorbeiplätschernd, wie eine Grenze zu Resteuropa.
Häufig ist Galina Timtschenko gefragt worden, warum sie sofort zurückgetreten sei, nicht gekämpft habe. Ihre Antwort lautete stets: „Weil Lenta längst verloren war.“ Timtschenko ist nicht das erste, aber vielleicht das prominenteste Opfer eines Feldzugs des Kreml gegen die freie Presse in Russland, der während der ersten Amtszeit von Wladimir Putin als Präsident begann und nach seiner Rückkehr in das Amt 2012 ausuferte. Mehr als hundert die Medien beschränkende Gesetze sind seitdem auf den Weg gebracht worden, und auch der informelle Druck wächst.
Schon seit Jahren arbeitet beispielsweise der unabhängige Fernsehsender Doschd („TV Rain“), der 2011 während der Proteste gegen eine mutmaßliche Wahlfälschung größere Bekanntheit erlangte, unter schwierigsten Bedingungen. Immer wieder werden ihm Sendelizenzen für einzelne Gebiete aberkannt; bereits mehrfach wurden die Verträge für die Studioräume gekündigt. Oder die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti: seit 1961 in Betrieb, wurde sie im April des vergangenen Jahres per Dekret von Wladimir Putin aufgelöst. Zusammen mit Golos Rossii („Stimme Russlands“, früher: „Radio Moskau“) ging sie vollständig in der neuen Super-Agentur Rossija Sewodnja auf, dem neuen Staatsmedium, geführt von einem Ultrakonservativen.
Und nur ein Jahr vor Timtschenkos Kündigung verließen die Chefredakteure von Gazeta.ru und Kommersant FM, beide im selben Verlag beheimatet, am selben Tag ihre Posten. Gazeta-Chefredakteur Michail Kotow habe noch versucht, gegen die Einflussnahme des übermächtigen Inhabers unter Kreml-Einfluss anzukämpfen, sagt Timtschenko. Die täglichen Drohungen und Sanktionen hätten aber vor allem die Moral der Redaktion zermürbt. Spätestens nach Kotows Rücktritt seien die Redakteure in eine Starre versetzt worden, die das Weiterarbeiten unmöglich gemacht habe, sagt Timtschenko, denn jeder habe danach gewusst: „Vielleicht bin ich schon der Nächste.“
Ihren ehemaligen Arbeitgeber Lenta.ru sieht die 52-Jährige heute als eine Art Zombie, der exemplarisch für den Zustand der unabhängigen Presse in Russland steht: „Der Körper ist noch da, aber die Seele nicht mehr.“
Nach Schätzungen der Moskauer Journalistenunion müssen aufgrund neuer Gesetze innerhalb des nächsten Jahres rund ein Fünftel der Medienhäuser in Russland schließen. Nur wenige unabhängige Medien sind übriggeblieben, wie die Moskauer Tageszeitung Wedomosti. Finanziert wird sie von der Financial Times, dem Wall Street Journal und dem finnischen Medienkonzern Sanoma – ein internationales Korsett wirtschaftlicher Macht, das vor dem Kreml-Einfluss schützt. Ein neues Gesetz beschränkt den Anteil an ausländischem Kapital jedoch auf 20 Prozent. Ein unabhängiges Medium ausschließlich mit russischem Kapital zu gründen, sei innerhalb von Russland jedoch aussichtslos, sagt Timtschenko, die für Meduza.io rund eine Million Dollar im Jahr benötigt.
Erste Auflage von Michail Chodorkowski, mit dem Timtschenko als potentiellen Investor verhandelte, war es deshalb, dass sie mit der Redaktion ins europäische Ausland gehen sollte. Zumindest darüber waren sich der von Putin begnadigte Ex-Oligarch und die Journalistin einig. Sie trafen sich in Zürich, redeten lange, doch am Ende war klar, dass Chodorkowski zu viel Einfluss hätte nehmen wollen. „Wir hatten kein Interesse daran, einen Oligarchen gegen den nächsten einzutauschen“, sagt Timtschenko. Über die Namen der russischen Investoren, die heute stattdessen das Meduza-Projekt ermöglichen, schweigt sie. „Ihre Investitionen sind zu gering, als dass sie das politische Risiko tragen wollten, namentlich genannt zu werden“, sagt Timtschenko.
Mit dem Meduza-Projekt beginnt Timtschenko von vorn. Zwar haben ihr die Verhandlungen mit Alexander Chodorkowski viel Aufmerksamkeit gebracht – noch mehr das Scheitern der Verhandlungen – doch vom Höchststand der Leserzahlen aus der Zeit bei Lenta.ru ist sie heute weit entfernt: Meduza.io hat 170.000 Seitenaufrufe am Tag, 2,1 Millionen Unique Visits pro Monat. Die meisten Leser kommen aus Russland, gefolgt von Ländern mit russischsprachiger Bevölkerung oder Diaspora: USA, Ukraine, Deutschland, Weißrussland.
Die russischen Medien würden immer homogener, sagt Timtschenko, 95 Prozent der Bürger informierten sich hauptsächlich durch die Staatsmedien. Erst kürzlich hatte das staatliche Rundfunkzentrum in Sibirien die Übertragung des unabhängigen regionalen Fernsehsenders TV-2 aus Tomsk gestoppt. Einen Grund nannte es nicht. Vor dem Sendergebäude kam es daraufhin zu Protesten, einige hundert Polizisten waren im Einsatz. „Später kommen die Demonstranten dann nach Hause und da warten all die Propagandakanäle auf sie, von denen keiner diese Bilder zeigt“, sagt Timtschenko. Dieses alles zerrüttende Gefühl von Hilflosigkeit sei aber noch lange nicht bei allen Russen angekommen. „Wir brauchen noch sechs weitere Monate Krise, bis die Menschen den Unterschied der Propaganda zu ihrer realen Lebenssituation erkennen und die Lügen nicht mehr glauben“, sagt Timtschenko.
Ihr Sarkasmus ist nie in Trotz umgeschlagen. Sie hat ihn für ihre Sache ausgebeutet und zum Modus Operandi von Meduza.io erhoben. So empfängt den Besucher der sehr übersichtlichen Website an oberster Position eine Übersicht der aktuellen Dollar-, Euro- und Öl-Preise. Und daneben steht ein Link, „Ich will das nicht sehen“, mit dem die Preise ausgeblendet werden können. Diese ironisch aufgeladene Funktion richtet sich in erster Linie an die russischen Leser, die sich von dieser Zahl gewordenen Instantdepression nicht behelligen lassen wollen. Das Angebot von Meduza.io ist in zwei Hauptsparten geteilt: Agenturmeldungen und Nachrichten russischsprachiger Medien, die von der Redaktion ausgewählt und editiert werden, und eine Rubrik mit eigenen Recherchen. Die Agenturmeldungen werden jeweils in einem kurzen Text dargelegt und mit Zitaten und Spiegelpunkten ergänzt, die eine Nachricht allzu oft in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Es sind gewollte Kontrapunkte zur staatlichen Propaganda, in leicht verdaulichen Häppchen, die selbst von den russischen Behörden gerne gelesen werden.
Umso erstaunlicher ist es, dass der Kreml erst nach zehn Jahren an der Spitze von Lenta.ru auf Galina Timtschenko aufmerksam geworden war. „Die russische Propagandamaschinerie ist unglaublich träge“, sagt Timtschenko. Erst 2004 habe man verstanden, dass es das Internet gebe, 2008, dass da etwas Neues im Gange sei, „und 2010 hat man uns in den Kreml eingeladen, um nachzusehen, ob wir Klauen und Hörner haben“, sagt Timtschenko.
Der Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Onlinemedien und dem Kreml war der Anschlag auf den Moskauer Flughafen Domodedowo am 24. Januar 2011. Die Straßen und Eisenbahnlinien zum Flughafen waren gesperrt, die Nachrichtenlage war dünn. Nur die Lenta-Reporter berichteten weiterhin per Smartphone aus dem Flughafen. Ihre Tweets wurden an diesem Tag im Staatsfernsehen vorgelesen, einer nach dem anderen. „Da wusste ich, dass der Kreml verstanden hatte, wo die vierte Gewalt heute liegt“, sagt Timtschenko.
Es ist eines der Ziele von Meduza, die Deutungshoheit in Zukunft auf viele kleine Gruppen zu verteilen. Das Team arbeitet an einem System für Website und App, das kleinen journalistischen Einheiten gratis zur Verfügung gestellt werden soll. Darauf ist mittlerweile auch der Europäische Demokratiefonds (EED) aufmerksam geworden. Timtschenko steht in Verhandlungen über eine strategische Partnerschaft. Es gebe Hunderte kleine journalistische Projekte in Russland, die eine herausragende Arbeit leisteten, denen es jedoch an Geld mangele. Zudem seien einige Hundert Journalisten mit Berufsverboten belegt worden. Die unabhängige Plattform von Meduza soll die Chance zu einem kleinteiligeren Journalismus abseits der großen Kapitalgeber weisen. Für Timtschenko bedeutet es die Zukunft.
Während der Gespräche mit dem EED hatte sie erfahren, dass die EU einen großen gemeinsamen TV-Sender als Gegengewicht zu Russia Today (RT) plane. „Ich dachte nur: Was für eine dumme Idee“, sagt Timtschenko. Es wäre die Rückkehr des großen, trägen Panzers, den man zur Abschreckung vor die Armee des Gegners stellen würde. „Ein Kalter Krieg der Medien, total überholt.“ Und gerade deshalb, weil die russische Propaganda noch immer nach dem Injektionsnadel-Prinzip funktioniert, bei dem ein Sender eine Nachricht verbreitet, die alle Empfänger in vermeintlich gleicher Weise beeinflusst, will Timtschenko viele kleine Gegenöffentlichkeiten schaffen, die der kommunikatorischen Bombe der Kreml-Propaganda eine Wabenstruktur gegenüberstellen. Bienen gegen Bomben – es ist ein Versuch.
Für Timtschenko ist der Kampf für eine freie Presse in Russland die einzige Option. In ihrer Heimatstadt Moskau, eine gute Flugstunde von Riga entfernt, wo ihre Tochter mit ihrem Freund lebt, fühlt sie sich heute unwohl. Und auch im kleinen Lettland, wo immerhin jeder dritte Bürger zur russischen Minderheit gehört, ist sie nicht angekommen.
In Russland gibt es ein geflügeltes Wort, das Wladimir Putin nach dessen Amtseinführung in den Mund gelegt worden war; damals hatten mehrere Zehntausend Menschen in Moskau demonstriert, es gab zahlreiche Verletzte, 450 Festnahmen. Es lautet: „Ihr habt mir meine Amtseinführung vermiest, ich versaue euch euer Leben.“ Galina Timtschenko setzt alles daran, dass dieser bittere Witz nicht zu ihrer persönlichen Putin-Wahrheit wird.