Es ist ein kühler Mittwochmorgen in Santa Fe, USA. Deborah Sundahl, Expertin für ein erotisches Niemandsland, sitzt mit einer sehr großen Kaffeetasse vor ihrem Computer und hat ein merkwürdiges Bild vor sich. Drei Skype-Fenster, in denen kein Mensch zu sehen ist, nur Sofakanten in schrägen Winkeln, ein leerer Sessel und etwas, das eine Küchenzeile sein könnte. “Tief durchatmen. Lasst euch Zeit. Benutzt den Spiegel”, sagt Sundahl mit ruhiger, heller Stimme. “Könnt ihr ihn sehen?” Der Strahl einer Taschenlampe geistert durch eines der Fenster. Man hört ein Seufzen. Eine Frauenstimme meldet sich. Sie klingt leise, triumphierend. ”Ich sehe ihn”, sagt sie.
Deborah Sundahl liebt diese Momente. Andernfalls würde sie diesen Job wohl kaum seit Jahrzehnten machen. Sie redet und schreibt über den G-Punkt und darüber, wie man ihn findet, welche Rolle er dafür spielt, wie Frauen ihre Sexualität und ihre Körper erleben. Manchmal tut sie das mit Frauen, die mit ihr im gleichen Zimmer sitzen, sie gibt aber auch Online-Seminare per Skype.Während der praktischen Übungen kann sie die Frauen dann nicht sehen, weil die den Bildschirm wegdrehen. “Manche Frauen sind schockiert, wenn sie ihren G-Punkt finden”, sagt Sundahl, eine zierliche Sechzigjährige mit blonden Locken, die früher als riesige Korkenziehermähne um ihren Kopf standen und jetzt langsam grau werden.
“Zum Teil sind die Frauen sogar sauer. Sie fragen mich: ‘Wie kann es sein, dass ich das seit 45 Jahren in meinem Körper habe und nichts davon wusste?’” Darauf gibt es eine einfache Antwort: Was Sundahl lehrt, kommt in der Sexerziehung Europas und Amerikas nicht oder kaum vor. Ihre Inhalte sind wissenschaftlich umstritten und kulturell tabuisiert. Zumal sie nicht nur über den G-Punkt spricht, sondern auch darüber, was er mit dem Phänomen weiblicher Ejakulation zu tun hat. Ein Begriff, der für viele seltsam klingt, oder sogar falsch. Weil man Ejakulation mit Männerkörpern in Verbindung bringt.
Sundahl selbst ging das früher genau so. Dann aber, im Jahr 1984, ein Schlüsselerlebnis: Sie schläft mit einem Mann und etwas ist anders als sonst. Plötzlich und unerwartet, so beschreibt sie es später in ihrem Buch Weibliche Ejakulation und der G-Punkt, brach mitten im Liebesspiel “eine Flüssigkeit aus meinem Körper hervor und ergoss sich über den Holzfußboden! Natürlich roch ich sofort daran, denn ich hatte so eine Art intuitive Eingebung, dass das keineswegs Urin war. Tatsächlich hatte die Flüssigkeit keinen wahrnehmbaren Geruch.” Sundahl bemerkt außerdem, dass sie sich zutiefst befriedigt und entspannt fühlte. Sie hat keine Ahnung, was passiert ist, aber sie will es unbedingt verstehen.
Zu dieser Zeit ist sie Mitherausgeberin der erotischen Frauenzeitschrift On Our Backs (Auf unseren Rücken), das Geld für die Produktion verdient sie als Stripperin in einem Nachtclub. Sie ist genervt davon, dass es keine weiblichen Stimmen gibt, die über Sexualität reden. Also macht sie es selbst. In ihren Seminaren, in denen sie erotisches Tanzen lehrt, beschreibt sie den Teilnehmerinnen ihr Erlebnis auf dem Holzfußboden. Viele berichten ihr von ähnlichen Erlebnissen. Sie erinnert sich an die “ungeheure Aufregung der Frauen bei ihrer ersten Ejakulation. Es war offensichtlich, dass es sich dabei um unvergessliche Erinnerungen an einen ganz besonderen, bedeutsamen Moment in ihrem Leben handelte.”
Zwei Jahre vorher haben die Sexualforscher Beverly Whipple, John D. Perry und Alice Ladas das Buch “Der G-Punkt. Das stärkste erotische Zentrum der Frau” herausgebracht. Darin beschreiben die Forscher den G-Punkt als einen empfindsamen Bereich, der an der Vorderwand der Vagina zwischen Schambein und Muttermund ertastet werden kann. Auch die weibliche Ejakulation erwähnen sie. Schnell avanciert das Buch zu einem internationalen Bestseller, es wird in 19 Sprachen übersetzt. Das Interesse am G-Punkt, benannt nach dem deutschen Arzt Ernst Gräfenberg, der ihn schon 1950 beschrieben hat, wächst enorm, er wird zum Nonplusultra der weiblichen Lust erklärt. Das Interesse an der Ejakulation hingegen hält sich in Grenzen. Sundahl geht es anders. “Ich konnte die kleine Pfütze auf dem Boden nicht einfach vergessen.”
Bei den ersten Gesprächen in ihren Tanzgruppen weiß sie noch nicht, dass sie es mit einem Thema zu tun hat, dass sich zu ihrem Lebenswerk auswachsen wird. Gut dreißig Jahre nach dem Erlebnis auf dem Holzfußboden hat sie ein Buch darüber geschrieben, vier Videos produziert und mehr Vorträge und Kurse gegeben, als sie zählen kann. Sie ist damit international bekannt geworden, man kann über dieses Thema kaum sprechen, ohne ihren Namen zu erwähnen. Sundahl lehrt, dass der G-Punkt kein einzelner Fleck sei, sondern das Pendant zur männlichen Prostata — dem Organ also, das bei Männern einen Großteil des Ejakulats produziert. Die weibliche Prostata, sagt sie, liege um die Harnröhre herum und fülle sich, wenn man sie stimuliere, mit Flüssigkeit. Wenn diese Flüssigkeit freigesetzt werde, sei das eine weibliche Ejakulation. Das könne mit einem Orgasmus einhergehen, müsse aber nicht. Das klingt nicht besonders kompliziert. Trotzdem: “Meine Arbeit war und ist nicht immer leicht”, sagt Sundahl.
Denn das Thema polarisiert. Auf der einen Seite gibt es Wissenschaftler, die Sundahls Erklärungen zumindest in Teilen zustimmen würden. “Man darf sich diese empfindsame Region nicht als einen Punkt vorstellen”, sagt die Sexologin und Gynäkologin Karoline Bischof auf die Frage, ob es den G-Punkt gibt. “Im wesentlichen handelt es sich dabei um die Scheidenvorderwand mit Harnröhre - und die haben alle Frauen. Allerdings ist die nicht automatisch erregend, sondern erst nach der entsprechenden Übung, und darum erleben das nicht alle Frauen gleich. Dasselbe gilt für alle anderen erogenen Zonen am weiblichen Geschlecht.” Erwiesen ist auch, dass um die weibliche Harnröhre herum kleine Drüsen sitzen, die Ähnlichkeit mit den männlichen Prostatadrüsen haben. Diese Drüsen können Ejakulat produzieren, wenn man sie stimuliert - nicht viel, allerdings, Bischof spricht von ein bis zwei Esslöffeln. Die meisten Frauen bemerken das gar nicht.
Andere Forscher wiederum halten die Idee weiblicher Ejakulation für absurd und behandeln die Beschäftigung mit dem G-Punkt wie eine esoterische Strömung. Der amerikanische Bioethiker Jeffrey Spike hat einmal geäußert, der G-Punkt gehöre in die gleiche Kategorie wie Engel und Einhörner. Andere bezeichnen ihn als das “gynäkologische UFO”, weil immer wieder Menschen ihre Stimme erheben, die ihn gesehen haben wollen, aber keine überzeugenden Beweise liefern können. Tatsächlich hat bisher niemand den G-Punkt eindeutig anatomisch identifizieren können. Vor drei Jahren glaubte ein amerikanischer Arzt, ihn endlich entdeckt zu haben. Das Thema schlug mächtige mediale Wellen, die sich aber schnell wieder beruhigten, weil der Arzt seine Entdeckung auf die Obduktion einer einzigen Frauenleiche zurückführte.
Frauen und Sex, das ist immer auch ein Politikum. Deswegen werden der G-Punkt und die weibliche Ejakulation auch feministisch diskutiert. Hanna Rosin, Autorin des vielbeachteten Buchs “Das Ende der Männer”, schrieb im Slate-Magazin einen kurzen, wütenden Text, weil britische Filmzensoren eine Szene mit einer ejakulierenden Frau aus einem Film schnitten, da sie glaubten, es handele sich bei der Flüssigkeit um Urin. Rosin meinte, schuld daran sei das “medizinische Establishment”, das die Existenz einer weiblichen Ejakulation trotz aller Beweise nicht anerkennen wolle, “weil, nun, Frauen eben nicht in allem gleichberechtigt sein können”. Die britische Zensurbehörde ließ sich davon nicht beeindrucken: Ende letzten Jahres verfügte sie, dass nun auch im online verfügbaren Bezahlporno keine ejakulierenden Frauen mehr gezeigt werden durften. Damit stellte sie de facto einen natürlichen und kaum kontrollierbaren körperlichen Vorgang in eine Reihe mit Sex-Praktiken wie hartes Auspeitschen, Fisting und Erdrosseln.
Vielleicht hat Rosin recht, möglicherweise wäre das Thema weniger kontrovers, wenn man nicht von “Ejakulation” sprechen würde. Konservative Denker mögen die Idee empörend finden, dass Frauen, nachdem sie jetzt schon Hosen tragen und Unternehmen führen, nun auch beim Sex „wie Männer“ spritzen sollen. Vielleicht herrscht bei diesem Thema aber auch einfach grundlegende Verwirrung. Solange es keinen wissenschaftlichen Konsens gibt, wird sich das auch kaum ändern. Zur Klarheit trägt nicht bei, dass weibliche Ejakulation mittlerweile eine eigene Kategorie im Porno ist (“Squirting”) und man dort Frauen sieht, die wie Rasensprenger Flüssigkeit im Raum verteilen. Hierbei handelt es sich oft - nicht immer - um Tricks mit Wasser oder tatsächlich einfach um Urin.
Deborah Sundahl ist der Meinung, dass Frauen tatsächlich mehr als zwei Esslöffel Flüssigkeit ejakulieren können. Trotzdem macht es sie nicht glücklich, dass “Squirting” im Porno an Popularität gewinnt. “Neuerdings erzählen mir Frauen, dass ihre Partner das von ihnen im Bett erwarten”, sagt sie seufzend bei einem Besuch in Deutschland, in einem Café in Berlin. “In meinen Seminaren geht es nicht um einen Zirkustrick, sondern um unseren erotischen Körper — und das meine ich nicht als philosophischen Begriff, dass das klar ist.“Vor ihr auf dem Tisch stehen ein Teller mit Zitronenkuchen und ein aufgeklappter Laptop. Darauf leuchtet eine Präsentation, die Sundahl bei ihren Vorträgen zeigt. Kuchen gabelnd klickt sie durch Bilder und Texte, die zeigen sollen, dass weibliche Ejakulation kein neues Phänomen ist, sondern altbekannt. Im Kamasutra wird sie als “quirlende Ergießung” beschrieben, alte japanische Holzschnitte stellen sie ebenfalls dar.
Im 17. Jahrhundert schrieb der Arzt und Anatom Regnier de Graaf von reichlich “weiblicher Samenflüssigkeit”, die während des sexuellen Aktes ausgeschieden werde. Erst seit dem 20. Jahrhundert wird der Begriff der „Ejakulation“ rein männlich konnotiert. Sundahl hält diese Entwicklung für ein Zeugnis einer tiefsitzenden kulturellen Ambivalenz gegenüber dem weiblichen Körper und Sexualität an sich: Alles, was nicht zur Fortpflanzung nötig sei, also eigentlich alle Lust, die Frauen empfinden, sei seit Entdeckung des Befruchtungsvorgangs wissenschaftlich marginalisiert worden. Das verflache den Sex. „Die meisten Leute kennen ihren erotischen Körper nicht. Sie behandeln ihn wie irgendeine Maschine, bei der man die richtigen Knöpfe drücken muss.“
Vor einem Jahrzehnt hat eine Aufsehen erregende Zwillingsstudie eines Forscherteams am St. Thomas Hospital in London ergeben, dass nur 14 Prozent der 4.037 teilnehmenden Frauen beim Sex immer einen Orgasmus hatten. Die Forscher vermuteten, dass diese Fähigkeit teilweise genetisch bedingt sei. Deborah Sundahl glaubt, dass Frauen und Männer die Möglichkeiten ihrer Lust einfach nicht kennen. Sie ist überzeugt davon, dass jede Frau eine weibliche Prostata hat, daher auch einen G-Punkt, den sie mit ein bisschen Aufmerksamkeit schrittweise sensibilisieren kann. “Wenn wir die Anatomie unserer Genitalien kennen, ist Ejakulation einfach ein Nebenprodukt. Woher ich das weiß? Weil ich nicht nur theoretisch darüber nachdenke, sondern mit echten, lebendigen Frauen arbeite!” Sie hält die Präsentation an: Auf dem Bildschirm ist jetzt die Großaufnahme einer Vagina zu sehen. Zwischen sauber rasierten Schamlippen lugt etwas hervor, das wie eine kleine, nasse, gerunzelte Stirn aussieht. “Das ist der G-Punkt”, sagt sie fest. “Die Frau, die keinen G-Punkt hat, muss mir erst noch begegnen.”
“Wie kann es sein, dass die menschliche Biologie, die im 21. Jahrhundert bis hin zur genetischen Ebene untersucht worden ist, die Existenz weiblicher Ejakulation noch immer zur Diskussion steht?”, schrieb der amerikanische Neurogenetiker Sharon Moalem 2007 in einem Essay im “New Scientist”. Eine Antwort konnte er nicht geben. Aber da es keinen wissenschaftlichen Konsens gibt, lernen Schüler im Sexualkundeunterricht nichts darüber, Erwachsene müssen sich ihre Informationen über G-Punkt, weibliche Prostata und Ejakulation irgendwie zusammensuchen - falls sie überhaupt davon hören.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung jedenfalls, die für eine bundesweit einheitliche Sexualaufklärung sorgen soll, gibt an, dass ihr zu diesem Thema keine Informationen vorliegen.