Lässt sich etwas Positives vermelden von diesem Bürgerforum, auf dem die Meinungen zur Olympiabewerbung Berlins aufeinander prallten? Dass es überhaupt zu so einem Termin kam, ist für Berliner Verhältnisse bemerkenswert. Allein der Senat hat seit August 2014, als rudimentäre Bewerbungsunterlagen beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) abgegeben wurden, bereits zehn schlecht besuchte Olympiawerbeveranstaltungen durchgeführt: für Unterstützer aus Wirtschaft und Politik, für Abgeordnete und immer wieder für Sportvereine und Funktionäre. Bis Donnerstag aber nie für diejenigen, die ein Olympiaabenteuer bezahlen: Die BürgerInnen Berlins.
Halbwegs positiv war gewiss, dass es bis auf eine kleine Handgreiflichkeit, zwei Dutzend Schreihälse und eine Stinkbombe einigermaßen gesittet ablief. Anfang der 1990er Jahre, als die Olympiabewerber für die Sommerspiele 2000 wahnwitzige 51 Millionen Mark aus öffentlichen Kassen verschleuderten und die Olympiagegner mitunter 10.000 Menschen auf die Straße brachten, wäre so ein Bürgerforum vielleicht in einer Massenschlägerei zwischen Autonomen und Polizeikräften kulminiert. Im Jahr 2015 aber geht es alles in allem zivilisierter zur Sache – wenngleich das niemanden zufrieden stellt.
Ich habe jüngst in einem einführenden Beitrag zur Olympiabewerbung versucht zu erklären, was der große Unterschied zwischen dieser und vorherigen Bewerbungen ist: Sport und Politik mussten begreifen, dass es gegen den Willen der Bürger nicht mehr geht, derlei Milliardenprojekte durchzusetzen. Wie schwer das fällt, lässt sich an vermeintlichen Kleinigkeiten wie jenen beiden Olympia-Webseiten ablesen, die der Berliner Senat derzeit alimentiert. Die Bewerberseite heißt „Wir wollen die Spiele“ und unterstellt also schon im Titel, was jene Webseite, die als „Online-Bürgerbüro“ und für die Diskussion mit den Einwohnern der Stadt gedacht ist, angeblich erst noch erfragt: „Was will Berlin?“
Ob einem der Olympiaplaner dieser Widerspruch aufgefallen ist?
Bei deutschen Olympiabewerbungen werden immer erst Tatsachen geschaffen. Das heißt auch: Es werden erst Millionen ausgegeben, bevor Bürger befragt werden. Zum Absurden dieser 2024er Kampagne zählt zudem, dass der DOSB ohne Kompass und einen nachprüfbaren Katalog technischer Kriterien, mithin sogar ohne fairen Wettbewerb der Argumente und Fakten, zwischen Hamburg und Berlin auswählt und am 21. März den deutschen Kandidaten bestimmt. Das ist ein Skandal für sich, der viel zu selten thematisiert wird, allerdings auch nicht mehr zu beeinflussen ist, weil der Sport sein eigenes Reich bildet, eine Parallelgesellschaft.
Die Bürger, in Hamburg oder Berlin, bekommen erst im Herbst das Recht, die vom DOSB präferierte Bewerbung abzulehnen oder durchzuwinken. Weil die Zustimmungsraten in Hamburg deutlich höher sind, deutet vieles auf die Hansestadt hin. Dort wiederum wird am Sonntag die neue Bürgerschaft gewählt, das Olympiathema spielte im Wahlkampf kaum eine Rolle – was sich kolossal mit den Behauptungen des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD) und seiner Olympia-Verbündeten beißt, wonach mit Olympia Zukunft gestaltet werde.
Notizen auf Tischdecken
So ähnlich erzählen sie es auch in Berlin. Ein Teil der Besucher im E-Werk hat dazu die richtigen Fragen gestellt: Wenn ihr die Stadt entwickeln, Wohnungsbau und die Sport-Infrastruktur fördern wollt, warum macht ihr das nicht einfach? Ganz ohne Olympia? Derlei Fragen musste sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) in jenen knapp 80 Minuten anhören, die er im E-Werk ausharrte. Konkreter wurden die Fragen im Laufe der dreistündigen Veranstaltung und gingen an einige hochrangige Mitarbeiter von Müller, wie Thomas Alexander Letz, der in der Senatskanzlei für politische Grundsatzfragen und Planungsangelegenheiten zuständig ist. Letz versuchte sich mit Parolen über das zu erwartende Geld vom IOC und einem arrogant wirkenden Dauergrinsen über die Zeit zu retten.
Doch seine inhaltlichen Schwächen wurden von einigen Fragestellern routiniert offengelegt.
Es war erstaunlich, wie kompetent Redner die Botschaften der Olympiabewerber zerpflückten, mit welcher Sachkenntnis über den Berliner Wohnungsmarkt, das Transportsystem, die Sportstättensituation und andere Themen debattiert wurde.
Ein Problem dieses Bürgerforums bestand allerdings darin, dass dieser Austausch viel zu kurz kam. Es war eine nette Idee der Organisatoren von der Agentur Zebralog, darum zu bitten, Fragen, Ideen, Einwände, Kritiken mit Edding auf Papiertischdecken zu schreiben (ich habe die meisten in meinem Blog veröffentlicht), die danach eingesammelt und für die Nachwelt archiviert werden sollten. Fachfragen, heißt es, sollen demnächst in sogenannten Bürgerwerkstätten diskutiert werden. Gespräche an den Achter-Tischen kamen zu kurz, sie wurden vom straffen Präsentations-Programm und den störenden Nebengeräuschen der Extrem-Oppositionellen verhindert. Die Dauerbrüller raubten jenen, die an Information und Diskussion interessiert waren, wertvolle Zeit und Nerven. Dennoch bin ich weit davon entfernt, den Abend als verlorene Zeit einzuordnen. Für Berliner Verhältnisse war es durchaus etwas Besonderes. Die Mischung der Besucher fand ich erstaunlich. Ich hätte viel mehr Claqueure erwartet, so wie ich das bei ähnlichen Veranstaltungen oft erlebt habe.
Inhaltlich waren die beiden Moderatoren zwar eher selten auf der Höhe, sie hatten aber auch einen schweren Job. Einer der Moderatoren, Oliver Märker, Geschäftsführer von Zebralog, legte dafür ein erfrischendes Bekenntnis ab, als es ihm zu bunt wurde:
„Mir ist es ziemlich egal, ob Berlin sich bewirbt oder nicht. Aber mir ist es nicht egal, wenn hier so gestört wird, dass keine Diskussion möglich ist.“
Es liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache, das eine echte, tiefgründige Diskussion über Sinn und Unsinn einer Olympiabewerbung gar nicht aufkommen kann. Hardliner gibt es auf beiden Seiten, bei Olympiaplanern und Olympiagegnern. Die einen schreien, die anderen betreiben Propaganda.
Hanebüchene Unwahrheiten
Zum Beispiel Heiner Brandi, Direktor des Landessportbundes Berlin (LSB), der wiederholt gröbsten Unsinn erzählte, was zwei Interpretationsmöglichkeiten lässt: Entweder ist Brandi wirklich so ahnungslos – oder er lügt. LSB-Präsident Klaus Böger (SPD), langjähriger Sportsenator der Stadt, sollte nicht länger im Hintergrund bleiben (wie am Donnerstag an seinem Tisch rechtsaußen), wenn sein oberster Angestellter auf Podien herumdilettiert und die Unwahrheit sagt. Er sollte Brandi nicht mehr öffentlich auftreten lassen oder ihn wenigstens verpflichten, sich an die Fakten zu halten. Denn Böger weiß es besser.
LSB-Mann Heiner Brandi erntete einige Male empörte Lacher und ungläubiges Kopfschütteln. Zu Recht.
Einmal behauptete Brandi, unter den Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) habe es in der Vergangenheit „eigentlich nur einen Korruptionsfall“ gegeben. Ich möchte da nicht zu sehr ins Detail gehen, verweise nur kurz und unvollständig auf die gerichtlich belegten Korruptionsfälle der jüngsten Vergangenheit João Havelange, Guy Drut, Lee Kun-Hee (ja, der Übervater des Samsung-Konzerns), Lamine Diack, Mohamad Bob Hasan, Issa Hayatou, Kim Un-Yong, Park Yong-Sung, auf die wegen Bestechlichkeit aus dem IOC ausgeschlossenen Iwan Slawkow, Jean-Claude Ganga, Augustin Carlos Arroyo, Abdel Gadir, Paul Seuili Wallwork, Lamine Keita, Sergio Santander Frantini, auf die unter der Last der Belege ausgetretenen Charles Mukora, Pirjo Häggman, David Simbandze, Bashir Attarabulsi und viele andere mehr. Ich habe über all diese Fälle ausgiebig berichtet.
Reicht das, Herr Brandi?
Wobei die letzten zehn Namen im Rahmen der Bestechungskrise um den ehemaligen Olympia-Ausrichter Salt Lake City auffällig geworden sind. Wenn ich Brandi richtig verstanden habe, hat er diese Typen als „einen Korruptionsfall“ gezählt.
Korruption ist der Missbrauch von anvertrauter Macht zu privatem Vorteil – bei korrekter Anwendung dieser Definition von Transparency International, ließe sich meine flüchtige Aufzählung um Dutzende Namen verlängern. Ich lasse dabei die Korruptions-Dunkelziffer außer Acht, die Kriminalisten bei 95 bis 98 Prozent beziffern. Halten wir also fest: Der oberste Angestellte des Berliner Sports, gemäß jüngster Bestandserhebung verantwortlich für 607.809 Vereinsmitglieder, irrlichtert über „einen Korruptionsfall“ im IOC.
Das Märchen von den Fast-Umsonst-Spielen
Unwahrheiten über das IOC sind vergleichsweise leicht zu verschmerzen. Viel ärgerlicher sind die Aussagen Brandis zu den Kosten Olympischer Spiele, die sich mit jüngsten Postulaten von Senatsmitgliedern decken. Mit derlei verbalen Nebelkerzen führen Brandi und Co. nicht nur LSB-Mitglieder hinters Licht, sondern auch 2,9 Millionen weitere Berliner. Brandi behauptete am Donnerstag zum Beispiel, die Ausrichtung Olympischer Spiele „kostet Berlin keinen Cent“.
Das ist ziemlich finster.
Brandi bezog sich auf den sogenannten Organisationsetat (OCOG). Den Beweis, dass in diesen Etat „kein Cent“ aus Berliner Kassen fließt, müsste er natürlich erst erbringen.
Es wird ihm nicht gelingen.
Bei der Bewerbung und Austragung Olympischer Spiele muss man zwischen vier, besser sogar fünf Etats unterscheiden.
- Bewerbungsbudget: Hier für den Zeitraum von März 2015 bis zur IOC-Entscheidung im Sommer 2017 in Lima. Berlin sagt: ungefähr 50 Millionen Euro.
- OCOG-Etat: Organisation der Wettbewerbe und Zeremonien. Begrenzt auf den olympischen Zeitraum, den das IOC festlegt, der einige Wochen länger dauert als die Wettkämpfe. Berlin sagt: etwa 2,5 Milliarden Euro - mit Null Cent aus öffentlichen Mitteln.
- Non-OCOG-Etat Sportinfrastruktur: Enthält angeblich nicht-olympiabedingte Ausgaben für Sportstätten (also unlogischer Weise auch für ein Olympisches Dorf, dessen Appartments danach die Wohnungsnot lindern sollen). Berlin sagt: maximal 1,5 Milliarden - und nur einen kleinen Teil davon müsse die Stadt bezahlen.
- Non-OCOG-Etat allgemeine Infrastruktur: Der mit Abstand größte Etat. Hat angeblich nichts mit den Olympischen Spielen zu tun, gern als Sowieso-Etat bezeichnet, weshalb Berlin auch behauptet, das kommt doch alles ohnehin, auch ohne Olympia. Berlin wäre damit die erste Stadt der Welt, die dieses Kunststück fertigbringt. Meist betragen diese Kosten eine zweistellige Milliardensumme. (Bei der letzten deutschen Sommerbewerbung von Leipzig 2012 war es so: Der Non-OCOG-Etat, die Summe der Sport- und allgemeinen Infrastrukturkosten, wurde der Öffentlichkeit verschwiegen: Denn die Planer in Bundesinnenministerium und sächsischer Staatskanzlei hatten Gesamtkosten von 9 bis 13 Milliarden Euro überschlagen. Diese vorab geschätzte Wahrheit wollte man den Bürgern nicht zumuten.)
- Hidden Budget: Mein Begriff für alles, was sonst noch kostet und was die Sportkameraden und Politiker nicht richtig zuordnen können, wollen oder verheimlichen. Bei vielen Ausrichtern von Mega-Events sind das beispielsweise die Sicherheitskosten, die sich derzeit bei etwa 1,5 Milliarden einpegeln.
Spätestens hier ist es nötig, mit der Mär aufzuräumen, Olympische Spiele ließen sich mit einem reellen Überschuss austragen. Wenn man alle Budgets und tatsächlichen Ausgaben zusammen zählt, ist das unmöglich. Wenn man aber, wie die Sport-Propagandisten, den OCOG-Etat schönt, dann lässt sich im Organisationsbudget ein leichtes Plus erzaubern. Das haben Wladimir Putins Sportverwalter sogar in Sotschi geschafft, obgleich das gesamte Projekt 51 Milliarden Dollar kostete. Diese angeblichen Gewinne der Organisationskomitees beruhen auf wenig mehr als auf Buchungstricks.
Im Grunde ist es ziemlich einfach: Olympiaorganisatoren bezeichnen viele kostenintensive Projekte gern als „nicht-olympiabedingte Kosten“ und verschieben sie in einen anderen Etat. Auf jeden Fall raus aus dem Organisationsetat, denn der muss aus Propagandagründen ein leichtes Plus aufweisen. So wurden, um nur zwei Beispiele zu nennen, mitunter Kosten für Olympiastadien als „nicht-olympiabedingt“ ausgewiesen, und auch die tatsächlichen Sicherheitskosten haben angeblich nichts mit Olympia zu tun. Die Sicherheitskosten tauchten übrigens auch in keinem der vier rudimentären Etats auf, die Brandi am Donnerstag auf eine Leinwand projizieren ließ.
Auch im OCOG-Etat ist immer ein kleiner Posten Sicherheit enthalten. Dabei handelt es sich im Grunde nur um die Kosten für Ordnungsdienste in Olympia-Arenen. Diese Ordner sind kaum mehr als Platzanweiser, sie greifen vielleicht mal einen Flitzer auf, mit den ernsthaften olympiabedingten Sicherheitsmaßnahmen – Polizei, Armee, Geheimdienst etc. pp. – hat das aber nichts zu tun. Dafür wurden bei den vergangenen Olympischen Spielen gigantische Summen aufgebracht: Bei den Sommerspielen 2004 in Athen rund 1,5 Milliarden Dollar, bei den Winterspielen 2006 in Turin 1,4 Milliarden, 2008 in Peking geschätzte 6,5 Milliarden, 2012 in London erstklassig dokumentierte 1,6 Milliarden – und bei den Winterspielen 2014 in Sotschi geschätzte zwei bis drei Milliarden Dollar. Allein diese tatsächlichen Sicherheitskosten können also den reinen Organisationsetat übersteigen, der sich bei Sommerspielen meist bei etwa 2,5 Milliarden einpendelt.
Nach Sicherheitskosten wurde im E-Werk mehrfach gefragt. Wenigstens darauf antworteten Brandi und andere sogenannte Experten auf dem Podium halbwegs wahrheitsgetreu und verwiesen auf die Milliardensumme von London. Ansonsten aber war gerade dieser dritte Diskussionsblock „Finanzierung“ (zuvor war über „Bürgerbeteiligung“ und den „Mehrwert für die Stadt“ geredet worden) durchweg ärgerlich. Es stimmt natürlich nicht, wie mehrfach behauptet, dass es noch nicht möglich sei, ein seriöses Finanzierungskonzept vorzulegen.
Man kann das schon, wenn man nur will. Das ist keine Raketenwissenschaft.
Im Berliner Sport und im Senat allerdings propagiert man wenige Tage vor der repräsentativen Umfrage, die der DOSB in Auftrag gibt, und die darüber entscheiden wird, ob Hamburg oder Berlin als deutscher Olympiakandidat benannt werden, die absurde These, die Olympischen Spiele seien fast umsonst zu haben. Im OCOG-Bereich koste Olympia Berlin keinen Cent. Und im olympiabedingten Non-OCOG-Bereich maximal eine halbe Milliarde. Den Rest holt man sich aus anderen Steuertöpfen des Bundes. Immer wieder wiesen die Stadtplaner darauf hin.
Einer, der Erfahrung hat in solchen Dingen, Bau-Staatssekretär Engelbert Lütke Daldrup, stand diesmal nicht auf dem Podium, sondern schlich nur im Flanellmantel durch die Reihen. Er hatte in einem früheren Job einst als rechte Hand von Wolfgang Tiefensee in der von Skandälchen geprägten Leipziger Olympiabewerbung dazu beigetragen, schon in der ersten Bewerbungsphase Fremdmittel von mehr als einer Viertelmilliarde Euro einzutreiben.
Das Motto des Bürgerforums „Was will Berlin?“ interpretiert die Berliner Landesregierung demnach so: Wir wollen mal wieder fett Fördermittel abgreifen.
Wer mag, kann das als Olympiakonzept bezeichnen.