Peter Greenaway, der seit Anfang der Achtziger immer wieder den britischen Film revolutioniert hat und als „Philosoph des Kinos“ bezeichnet wird, hat auf der Berlinale im Wettbewerb sein monumentales Avantgarde-Bio-Pic „Eisenstein in Guanajuato“ vorgestellt; Eisenstein hieß mit Vornamen Sergej und war ein sowjetischer Ausnahmeregisseur, Guanajuato ist eine Stadt in Zentralmexiko mit Mumienmuseum, in der der „Urvater des Weltkinos“ vor knapp 80 Jahren einen Film über den mexikanischen Totenkult machen wollte und stattdessen seine sexuelle Erweckung durchlebt hat.
Es geht um Sex, Tod, Exzentrik und Stalinismus, der Film hat wenig mit traditionellem Erzählkino zu tun und ist trotzdem eine große Geschichte. Man muss die Regeln beherrschen, um sie brechen zu können. Greenaway, inzwischen Anfang 70, stellt bei der Pressekonferenz die recht zeitgemäße Frage, ob Niederlagen nicht interessanter seien als Erfolge. Außerdem beschwert er sich sinngemäß über die mangelnde Experimentierfreude „junger Filmemacher“, über die Angst vor Kompromisslosigkeit, darüber, dass es in der Kunst nicht mehr unbedingt um Wildheit, sondern um marktkompatible Selbstdisziplinierung und PR-Gespür geht.
Das ist keine weltbewegende Neuigkeit, wird von Greenaway aber so grundnaiv
und angenehm formuliert, dass man sich intensiv zu fragen beginnt, ob und wie Experimente überhaupt noch funktionieren können. Die Diskussion über die Qualität der Berlinale hängt sich in der öffentlichen Wahrnehmung an Menschen auf, deren Daseinsberechtigung als Filmschaffende schon seit Jahrzehnten nicht mehr angezweifelt wird.
Wim Wenders 3-D-Drama „Everything will be Fine“ muss man spätestens verlassen, wenn James Franco in Minute 20 als depressiver, völlig humorloser Schriftsteller einen schlecht ausgeleuchteten Selbstmordversuch mit Alkohol und Tabletten im Motelzimmer überlebt hat; Werner Herzog hat Nicole Kidman auf verschiedenen Dromedaren durch das osmanische Reich reiten lassen, Terrence Malicks Film finde ich bekanntermaßen einfach ein bisschen kacke. Hört man diesen Regisseuren dabei zu, wie sie von ihrer Arbeit sprechen, schwingt eine gewisse Verwunderung darüber mit, dass sie sich noch immer nicht vorstellen können, wer sie in Zukunft ersetzen soll.
Denn Experimente gelten „heutzutage“ als zum Scheitern verurteilt - etwas, das nicht
nach gängigen Standards funktioniert und deshalb nicht schon im Voraus als verlässlich profitabel eingeschätzt werden kann, ist gefährlich und muss deshalb zu einem experimentellen Nischenprodukt degradiert werden, vor allem in unserer Gesellschaft - die fast nur noch auf konkurrenzwirtschaftlichen Stratgien beruht. Das System und seine radikalen, mörderischen Standards werden nicht infrage gestellt, solange die Filme und Menschen, die das tun, an ihrem experimentellen Außenseitertum scheitern.
Nun ist Filmemachen extrem teuer, der Aufwand im Vergleich zum Endergebnis oft so unverhältnismäßig , dass man während der finanziellen Kalkulation des Schreibens, des Drehs nur eine einzige große Angst hat - die Angst, Fehler zu begehen, etwas falsch zu machen, und daran dann zu scheitern. Wenn man einmal scheitert, hängt man vielleicht für den Rest seines Lebens joblos überm Zaun, und das muss, wenn es im Leben nicht mehr um Reflexion, sondern um Selbstverwirklichung geht, unbedingt vermieden werden.
Im Widerspruch dazu steht, dass die wichtigsten und erfolgreichsten Filme, die es je gab, auf Fehlern basierten. Und darauf, dass die Regisseure mutig genug waren, glanzvoll an bestehenden Konventionen zu scheitern und ihre eigenen, neuen, zu erfinden. Ich rede hier nicht über versautes, performatives Nischenkino, sondern über „Taxi Driver“ und „Pulp Fiction“. Und über Rainer Werner Fassbinder, über den die Dokumentation „Lieben ohne zu fordern“ in der Sektion „Panorama Dokumente“ lief.
Der dänische Filmregisseur und -historiker Christian Braad Thomsen war seit 1969 eng, wenn auch respektvoll distanziert mit Fassbinder befreundet, hat immer wieder Interviews mit ihm und seinen Schauspielern geführt, auf der Basis von Gesprächen aus den Siebzigern ist nun 30 Jahre später ein Film entstanden, in dem unter anderen Irm Hermann zu absoluter Hochform aufläuft. Sie erzählt, wie sie Fassbinder immer wieder 1.000 Mark für Sex mit ihm angeboten und er das Geld weder angenommen noch je mit ihr geschlafen hat. Trotzdem hat er sie immer wieder mit dem Versprechen auf Sex zu erpressen versucht, wenn sie eine Szene nicht so spielen wollte, wie er es gern gehabt hätte. Am Ende des Films sagt Fassbinder, er könne nur dann ein ganzer Mensch sein, wenn es ihn zweimal gäbe und somit eine weitere Version von ihm in totaler Entgegensetzung existiere. Und Thomsen erklärt, dass er von allem, was er über Fassbinder sagen kann, auch das Gegenteil behaupten könnte.
Die Tatsache, dass diese Toleranz für Widersprüche, für den Selbstzweifel und das Experiment fast überhaupt nicht vorkommt während der Berlinale, ist vielleicht erwähnenswerter, als jede Diskussion über Qualität und Quoten.
Aufmacherbild: Peter Greenaway © Internationale Filmfestspiele Berlin
Die Gewinner des Goldenen und der Silbernen Bären
- Berlinale-Spezial-Texte:
- “Taxi!” – Auftaktbeitrag (Helene Hegemann)
- „Als wir träumten“ (Hanna Hünniger)
- „Fifty Shades of Grey“, „Haftanlage 4614“ (Hanna Hünniger)
- Berlinale-Zusammenfassung (Helene Hegemann) - siehe oben
- Videos mit Berlinale-Gesprächen
- Künstleragentin Heike-Melba Fendel (Hanna Hünniger)
- Regisseurin Maria Mohr (Hanna Hünniger)
- Filmkritiker Frédéric Jaeger (Hanna Hünniger)
- Regisseurin Carolina Hellsgard (Helene Hegemann)
- Schauspielerin Katja Riemann (Hanna Hünniger)