„Kasse Nummer sieben bitte“, sagt eine mechanisch klingende Frauenstimme vom Band. Eine junge Kundin läuft an den ihr zugewiesenen Platz und schaufelt einen großen Kleiderberg auf den Tresen. „Kasse Nummer eins bitte“, sagt eine mechanisch klingende Männerstimme vom Band, und ein Pärchen verpasst seinen Einsatz, weil es noch in die Sonderangebote entlang der Kassenschlange vertieft ist. „Kasse Nummer sechs bitte“, sagt wieder die Frauenstimme. So geht es den ganzen Tag lang. Anderswo ist „Sale“. Beim Restehändler TK Maxx ist: ein Samstag wie jeder andere.
„Immer bis zu 60% günstiger“, lautet das Versprechen an die Kunden, und wer danach noch nicht im Kaufrausch ist, sondern den Sternchentext auf den rot-orangefarbenen Brüllplakaten liest, der weiß auch, dass sich das „auf den UVP“* bezieht.
*Den „Unverbindlichen Verkaufspreis“.
TK Maxx hat den Schlussverkauf zum Dauerzustand erklärt. Der zum Konzern TJX Companies gehörende Händler kauft Restposten und Überproduktionen bekannter Markenhersteller – Hemden, Sweatshirts, Hosen, Anzüge, Socken, Unterwäsche – und verkauft sie für einen Bruchteil des ursprünglichen Preises an seine Kunden. 1976 eröffnete der erste Laden im Heimatland USA unter dem Namen TJ Maxx, in Großbritannien ist die Kette seit über 20 Jahren aktiv. Jetzt ist der Rest Europas dran, und an erster Stelle steht: Deutschland. Mehr als vier Milliarden Euro verdiente die Billigkette in Europa laut Geschäftsbericht 2013. Das Wort, das die Amerikaner für das Wachstum in Deutschland darin gefunden haben, lautet: „terrific“. Fantastisch. Die Zahl der Läden solle verdoppelt werden. In Berlin, Hamburg und Köln ist TK Maxx schon vertreten. Zunehmend machen auch Filialen in mittelgroßen Städten auf: Göttingen, Recklinghausen, Detmold.
Neben Textilien und Schuhen stehen auch Haushalts- und Dekoartikel in den Regalen: Eierschneider, Glitzerengel, Frotteehandtücher, handbemaltes Geschirr aus Portugal oder Polen, Kaffeekännchen mit Goldrand, Heckenscheren, Pfannen, pinke Globusse, was man halt so alles braucht. Eingekauft wird wie im Supermarkt, mit Einkaufswagen oder randvollem Plastikkorb. Weil ja alles so billig ist. Oder zumindest so präsentiert wird.
TK Maxx ist Sinnbild eines neuen Ladentyps, der sich in deutschen Innenstädten breitmacht. Während große Kaufhausketten schwächeln und viele Kunden Schuhe und Klamotten online bestellen, haben Billigketten das Geschäft in den Zentren für sich entdeckt. Textildiscounter gibt es zwar schon länger: Kik, Takko, Bonprix. Und Woolworth hat sich hierzulande schon vor Jahren als Billigwarenhaus versucht. Doch die neue Discount-Generation zielt direkt auf den Mainstream.
Helden der selbst gesuchten Zielgruppe
Innerhalb weniger Jahre ist der irischen Kette Primark der Imagewandel zum hippen Taschengeldmagneten gelungen, zum Erben von H&M. Die schwedische Textilkette hatte ihren Kunden vorgemacht, dass aktuelle Mode und niedrige Preise sich nicht ausschließen. Gerade meldete der Konzern einen Gewinnsprung und kündigte an, hunderte weitere Filialen aufzumachen. Primark hat sich dieses Prinzip abgeschaut und unterbietet H&M bei den Preisen noch. Wer in einer Stadt mit Primark-Filiale unterwegs ist, stößt automatisch auf Teenagergruppen mit riesigen braunen Papiertüten und dem hellblauen Logo der Discountkette. Für 50 Euro gibt es nicht ein oder zwei Teile, sondern fünf oder sechs – und eine Tasche obendrauf.
Manche Sachen werden, wenn überhaupt, nur ein paar Mal angezogen. Primark hat die Wegwerfmode erfunden. Den schlechten Ruf, begründet durch zweifelhafte Bedingungen und miserable Löhne für die Arbeiter in den Herstellerländern, nimmt die Kette in Kauf oder versucht notdürftig gegenzusteuern.
„Primark ist erfolgreich, weil es sich an eine sehr spitze Zielgruppe richtet“, sagt Christian Ziegfeld von der Unternehmensberatung OC&C. Natürlich könne das Unternehmen auch hochwertigere Teile und Taschen aus echtem Leder anbieten. „Dann würde es sich womöglich auch rentieren zu expandieren, weil das Einzugsgebiet der Filialen nicht mehr so groß sein muss. Aber das Konzept würde verwässern.“ Einmal im Jahr überprüft OC&C, wie beliebt deutsche Händler bei ihren Kunden sind. In der Gesamtbewertung standen 2014 dm, Amazon und die Warenhauskette Breuninger ganz oben. Auffällig ist, wie weit nach vorn es Firmen geschafft haben, die in Deutschland verhältnismäßig neu sind. Primark rangiert auf Position 73, TK Maxx erreichte Platz 46 – vor bekannten Unternehmen wie Real, Netto, der Telekom, Karstadt und O2. Mit bundesweit weniger als 80 Läden. Das 60-Prozent-Rabatt-Versprechen scheint zu funktionieren.
Mit ihren Geschäftsmodellen verändern die Textildiscounter den ganzen Markt, der zunehmend unter Druck steht. „Waren damals [in den 90er Jahren, Anm. d. Red.] noch vier bis sechs Kollektionswechsel pro Jahr ein Novum, wird das Angebot heutzutage bis zu zwölf Mal komplett ausgetauscht“, analysierte die Wochenzeitung „Jungle World“ Mitte des vergangenen Jahres in einer „Kritik an der globalen Textilindustrie“.
Gerrit Heinemann, Professor für Trade und Retail an der Hochschule Niederrhein, erklärt: „Das wichtigste Thema ist derzeit die ‘Vertikalisierung’. Das heißt: Ein Hersteller tritt gleichzeitig auch als Händler auf. Mit dieser Struktur ist es möglich, Mode preisgünstig anzubieten, weil international hohe Stückzahlen gefertigt werden und Margen für die Zwischenhändler wegfallen.“ So wie bei H&M und Primark.
Jung, schick, mitten in der Stadt
Die Iren heben sich von den Schweden dadurch ab, dass sie quasi kein Geld mehr für klassische Werbung ausgeben und sich stattdessen auf Social-Media-Strategien verlassen, um die Zielgruppe dort zu erreichen, wo sie sich sowieso ständig aufhält. Neueröffnungen werden auf Facebook schon Wochen vorher inszeniert. Der erste Verkaufstag ist als Happening in Szene gesetzt, das Ergebnis ist später auf Youtube zu begutachten und befeuert den Mythos vom begehrten Billigeinkaufsparadies.
TK Maxx geht einen Mittelweg. Unter dem Motto „Me. By Me“ wirbt die Kette im Fernsehen mit angeblich „echten TK-Maxx“-Kunden, die ihre Schnäppchen vor der Kamera präsentieren. In der Vox-Show „Shooping Queen“ lieferte der Händler „Styling Tipps“. Und im vergangenen Frühjahr wurden Mode- und Lifestyle-Bloggerinnen zur Aktion „Nachts im Kaufhaus“ eingeladen, die nachher von ihrem Test-Shopping positiver zu berichten wussten, als es die Presseabteilung jemals hinbekommen hätte. In der Werbung ist TK Maxx jung, schick, stylish und gibt sich erst im Laden, wo es drauf ankommt, als Discounter zu erkennen.
Handelsspezialist Heinemann sagt: „TK Maxx bringt das Prinzip der boomenden Factory-Outlets in die Stadt.“ Und zwar mittenrein. Nirgendwo lässt sich der Anspruch der Herausforderer besser erkennen als am Berliner Alexanderplatz. Dort ist Galeria Kaufhof mit einem Prachtwarenhaus seit einigen Monaten umzingelt von den Neuen. Im Frühsommer 2014 eröffnete Primark direkt daneben seinen zweiten Laden in der Hauptstadt. Kurz darauf quartierte sich TK Maxx auf der gegenüberliegenden Seite hinter dem S-Bahnhof mit seinem deutschen „Flagshipstore“ in einen Shopping-Neubau ein. Drei Etagen, fast 4.000 Quadratmeter. „LOVE Berlin“, steht in den beleuchteten Schaufenstern. Mit schrabbeligen Geschäften in drittklassigen Randlagen geben sich die Textildiscounter nicht mehr zufrieden.
Im neuen Einkaufszentrum mit dem beknackten Namen „K in Lautern“ ist TK Maxx als Großflächenmieter eingeplant; in Berlin-Moabit zieht die Kette – zu Kaufland – ins neue Schultheiss-Quartier; in Kiel setzen sich die Amerikaner an den Anfang der Fußgängerzone ins umgebaute „Leik“-Center – gleich auf drei Etagen, damit die Konkurrenz Bescheid weiß. Primark kommt auch in die Stadt, dafür muss laut „Immobilien Zeitung“ ausgerechnet die Billigkette Woolworth weichen.
Dass die Discounter sich plötzlich genauso positionieren wie etablierte Händler, setzt vor allem dem sowieso schon angeschlagenen Mittelfeld zu: Kaufhäusern mit ihren hohen Logistikkosten. Und Modeherstellern, die ihre Kollektionen über eigene Läden und Dritte zugleich vertreiben. Mexx ist das zwischenzeitlich zum Verhängnis geworden. Ende des vergangenen Jahres meldete der Hersteller Insolvenz an, im Januar übernahm ein türkischer Investor, der die Geschäfte fortführen will.
Auch Esprit muss kämpfen. Zwischen Juli und Dezember 2014 halbierte sich der Nettogewinn des chinesischen Unternehmens, das den Mainstream-Geschmack im mittleren Preissegment bedient. Im wichtigsten Markt Deutschland gingen die Umsätze um 16 Prozent zurück. Gerade gab das Unternehmen weitere Filialschließungen bekannt.
Alle wollen „vertikaler“ werden
Um auf den Wandel im Markt zu reagieren, hat Esprit im vergangenen Jahr seinen Kollektionsrhythmus umgestellt. Anstatt wie bisher im Zwölfmonatstakt (mit einem monatlich neuen „Thema“ über alle Warengruppen hinweg) wird nun mit vier saisonalen Kollektionen (Frühling, Sommer, Herbst, Winter) geworben, die mehrere „Themen“ haben und durch Zwischenkollektionen ergänzt werden. „Diese Umstellung ist ein Schritt auf unserem Weg, unser Geschäftsmodell zu vertikalisieren, um dadurch Geschwindigkeit und Effizienz zu steigern“, heißt es bei dem Unternehmen mit Sitz in Ratingen und Hongkong. Der Zeitraum von Produktentwicklung bis zur Auslieferung auf die Verkaufsfläche lasse sich durch die neue Strategie stark verkürzen. „Die Kunden sind es heutzutage gewohnt, auch kurzfristige Trends zum Beispiel in Farben oder Schnitten zeitnah im Angebot zu finden.“ (Weitere Details stehen rechts in den Anmerkungen - für eingeloggte Mitglieder)
Am Ende bleibt aber auch der überzeugteste Markenkäufer nur dann treuer Kunde, wenn es ihm wichtig ist, immer modisch auf dem neusten modischen Stand zu sein. Alle anderen fragen sich: Warum nicht ein halbes Jahr warten, wenn das Markenhemd beim Textildiscounter nur noch die Hälfte kostet?
Deshalb sind die Discounter den etablierten Marken oft ein Dorn im Auge. Esprit erklärt, die eigene Ware solle grundsätzlich in eigenen Shops oder bei selbst ausgesuchten Partnern verkauft werden. Weil die Inszenierung der Ware zum Kauferlebnis dazugehöre. „Das Discounterumfeld passt nicht zu dieser Markenpositionierung und ist für uns wie viele andere Mode- und Lifestyle-Marken daher keine Alternative.“ Taucht Markenware doch bei Discountern auf, etwa durch Grau-Importe, handele es sich um „Ausnahmen“. „Und wir haben große Anstrengungen unternommen, diesen Warenfluss zukünftig nicht mehr zu ermöglichen“, sagt eine Esprit-Sprecherin.
Läden für Kunden, die nichts mehr brauchen
Dabei sind die Billigketten im Grunde genommen bloß eine Reaktion auf den Zustand in unseren Kleiderschränken. „Wenn es morgen nur noch die Hälfte der Textilfläche gäbe, würde trotzdem jeder von uns noch was zum Anziehen finden“, sagt Ziegfeld. Die meisten Leute haben sowieso schon mehr als genug. Wollen sich neue Ketten durchsetzen, müssen sie eine Lösung für dieses Problem finden.
Zum Beispiel mit Läden, die ganz auf Kunden ausgelegt sind, die eigentlich gar nichts Neues mehr brauchen.
„Zu C&A gehen meist Leute mit einem konkreten Bedarf: Sie wollen zum Beispiel eine Hose kaufen – und kommen dann mit dieser Hose nachher auch aus dem Laden heraus“, erklärt Ziegfeld. Bei Primark läuft es anders. Die Kunden halten sich eine zeitlang im Laden auf und suchen nach Schnäppchen. „Gekauft wird eher aus einem Impuls heraus. Was das ist, ergibt sich erst durch das Angebot.“ TK Maxx steigert dieses Prinzip noch und wirbt sogar damit. Jeder Artikel ist Restposten, aber die Kette verkauft ihn als Einzelstück. „Was weg ist, ist weg“, steht an den Regalen. Das komplette Prinzip des Ladens lässt sich auf diesen einen Satz reduzieren. Die Kunden sollen bloß nicht zögern.
In den Läden selbst ist nur die meterlange rote Kassentheke fest installiert. Der Rest kann morgen schon komplett anders aussehen. Es gibt keine Abteilungen, keine Zwischenwände oder vorgegebene Laufwege. Überall kann jederzeit ein neuer Restetisch oder eine Kleiderstange hingeschoben werden. Klamotten sind ausschließlich nach Größen geordnet. Nachschub wird in großen schwarzen Wannen herbeigefahren. Kaufen die Kunden schneller, als Neuware reinkommt, bleiben Flächen im Laden auch mal leer. Wenn grad nix da ist, ist nix da.
Eine andere Art von Einkauf
Handelsberater Ziegfeld meint: „Mit seinem sehr einfachen Ladenbau demonstriert TK Maxx, dass man anders tickt als klassische Modegeschäfte. Dadurch verstehen die Kunden automatisch, dass sie nicht in derselben Situation sind wie im normalen Kaufhaus.“ Es geht nicht mehr um einen konkreten Bedarf, sondern darum, etwas Besonderes zu entdecken und abends im Freundeskreis davon zu erzählen, dass man das neue Markenteil für ein Drittel des Originalpreises geschossen hat. „Das ist eine andere Art von Einkauf.“
Deshalb rangieren die Ketten in der Gunst der Kunden auch so weit oben – weil sie aus einem Pflichtkauf ein Satisfaktionserlebnis gemacht haben. Mit schlecht verarbeiteter Massenware und Restposten.
Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein glaubt, dass sich spezialisierte Händler aus dem Mittelfeld mit guter Beratung gegen diesen Trend stemmen können – er prognostiziert aber auch, dass der Discount-Anteil im Textilhandel weiter wachsen wird: „Der Markt für Service-orientierte Händler ist deutlich kleiner als der für preisorientierte. Die Mitte wird weiter existieren, aber immer weiter ausgedünnt.“ Auch Christian Ziegfeld von OC&C geht von einem grundlegenden Wandel aus. „Früher haben Händler diskutiert, wie sie es schaffen, im nächsten Jahr 80 neue Läden aufzumachen. Heute geht es eher darum, im nächsten Jahr möglichst wenige Kunden zu verlieren.“
Was wir anziehen, womit wir uns kleiden, ist wesentlicher Teil unseres Selbstausdrucks. Kleidung verrät, wer wir sind – oder wer wir sein wollen. Aber wir kaufen sie ein wie beim Marktschreier am Wurststand: tütenweise. „Jetzt zugreifen, bevor es andere tun“, steht auf den rot-orangefarbenen Schildern bei TK Maxx. Und dann: „Kasse Nummer sieben bitte.“
Aufmacherbild: TK Maxx (Eröffnung des Flagshipstores am Berliner Alexanderplatz)
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https://soundcloud.com/krautreporter/peer-schader-was-weg-ist-ist-weg/s-tEZjQ
Text wurde gesprochen von Alexander Hertel (detektor.fm)