Ich stehe vor einer alten Lagerhalle in Villa Española, einem Viertel im Norden Montevideos. Ein paar Jugendliche lehnen lässig an der Mauer und beäugen mich. Ich denke an den Taxifahrer, der mich hier gerade abgesetzt hat. Für die Rückfahrt soll ich ihn auf jeden Fall vor 23 Uhr anrufen. Danach komme niemand mehr in dieses Viertel. Komplizierte Gegend, sagt er.
Am Telefon hatte mir ein Mann gesagt, ich solle am Mittwochabend hierher kommen, zum „Club Industria“. Dort probt die Murga Cayó la Cabra.
„Da drüben im Hinterhof“, sagt einer der jungen Männer an der Mauer. Er fragt, woher ich komme - und wie ich heiße. Mein Montevideo-Feeling war für einen Moment durch die Bemerkung des Taxifahrers ins Wanken gekommen. Nun ist es zurück. Montevideo-Feeling, das ist Ruhe und Beschaulichkeit, relative Pünktlichkeit, freundliche Menschen und Autofahrer, die auf Fußgänger Rücksicht nehmen. Also ganz und gar un-südamerikanisch.
Im Hinterhof spielen ein paar Männer Basketball. Gleich daneben ein großer, schmuckloser Raum und eine kleine Kneipe. Der Barmann erkennt mich gleich als die Deutsche vom Telefon. „Du kannst mit Emiliano sprechen, der ist schon da“, sagt er. Emiliano kommt mir mit Mate-Kalabasse und Thermoskanne entgegen. Er ist gleich von der Arbeit hierher gekommen.
Emiliano ist 29 Jahre alt und arbeitet im Hafen. Ein stumpfsinniger Job, sagt er. Die Murga sei für ihn ein Ausgleich. Hier mache er, was ihm Spaß macht, hier sei er er selbst. Inmitten einer großen Familie oder besser: eines Stammes. „Wir sind wie ein Indianerstamm, nur ohne Häuptling“, sagt er.
Es sind zwanzig Männer und Frauen, alle jünger als 30 Jahre. Sie machen Musik mit sozialkritischem Inhalt. Sie nehmen alles aufs Korn: das Gesundheitssystem, die Konsumgesellschaft, die Legalisierung von Marihuana. Cayó la Cabra ist die angesagte Murga in Montevideo. Jetzt zur Karnevalszeit haben sie Hochsaison. Jeden Abend treten sie auf: in Straßen, auf Plätzen, auf kleinen und großen Bühnen wie dem „Teatro de Verano“, Montevideos Open-Air-Theater mit 4.000 Plätzen. Heute ist der Auftritt wegen Regen ausgefallen. Deshalb proben sie.
Die Murga, jene Musikform, der sie sich verschrieben haben, kam vor mehr als 100 Jahren aus dem spanischen Cadiz nach Uruguay. Auf der Bühne agieren 17 phantasievoll geschminkte und kostümierte Personen. Die Zusammensetzung ist in jeder Murga gleich: ein Bühnendirektor, dreizehn Sänger und drei Schlagzeuger.
Cayó la Cabra ist eine sogenannte Murga Joven. Anders als die Karnevals-Murga funktioniert sie das ganze Jahr über. Um als Murga Joven zu gelten, müssen die Mitglieder alle unter 30 sein. Zurzeit gibt es rund sechzig Murga Joven in Uruguay. Sie sind kritisch, satirisch und immer aktuell. Und erfreuen sich wachsender Beliebtheit unter den Jugendlichen.
„Wir sind ein kleines Land mit drei Millionen Einwohnern, eingebettet zwischen zwei Giganten, Argentinien und Brasilien“, sagt Emiliano. „Klar will man da wissen, was abgeht. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum wir Uruguayer so politisch sind. Es gibt eigentlich niemanden, der sich nicht für Politik interessiert.“
Emilianos Interesse an Politik ist durch seine Arbeit in der Murga gewachsen. Auch sein Interesse an gesellschaftlicher Veränderung. Deshalb macht er nun auf dem zweiten Bildungsweg eine Ausbildung zum Sozialarbeiter für Jugendliche. Er will auch außerhalb der Murga etwas bewegen.
Mayra, 24 Jahre alt, ebenfalls Mitglied der Gruppe, hat sich zu uns gesetzt und trinkt einen Schluck aus Emilianos Mate-Bombilla, ein Strohhalm aus Metall, der gleichzeitig als Filter für die Matebrühe dient. „Da gibt es noch eine Kleinigkeit“, sagt sie. „Wir haben Wahlpflicht in Uruguay. Sich zu informieren und auf dem Laufenden zu sein, ist wie Hausaufgaben machen. Wen willst du wählen, wenn du nicht Bescheid weißt?“
Mayra wohnt noch bei ihren Eltern, zusammen mit zwei Geschwistern. Sie würde gerne ausziehen, aber das ist undenkbar, solange sie in der Ausbildung ist. Mayra studiert Psychomotorik und Logopädie. In einem Zentrum für Familien arbeitet sie mit Kleinkindern bis drei Jahren. In den vergangenen Jahren seien immer mehr dieser Zentren entstanden, um den Kindern sozial benachteiligter Familien bessere Bildungschancen zu geben. Es habe sich viel getan in den letzten zehn Jahren, sagt sie. Die Legalisierung der Abtreibung, ein geradezu revolutionäres Gesetz in einem südamerikanischen Land, habe dazu beigetragen, dass Abtreibungen nicht mehr in Hinterhöfen stattfinden, sondern medizinisch betreut werden. Für die Frauen bedeute das einen Riesenschritt nach vorne. Jetzt können sie sich frei und ohne Druck für oder gegen ein Kind entscheiden. „Für die Männer ist das auch besser“, sagt Emiliano. „Wenn Frauen in der Vergangenheit ihre Gesundheit oder vielleicht sogar ihr Leben riskierten, weil sie illegal abtrieben, dann betraf das schließlich auch den Mann.“
Auch die gleichgeschlechtliche Ehe habe in Uruguay zu weitreichenden Veränderungen geführt, sagt Mayra. „Es ist ja nicht nur so, dass Männer inzwischen Männer und Frauen eine Frau heiraten dürfen. Heterosexuelle Paare können jetzt wählen, ob sie den Familiennamen der Frau oder des Mannes wählen wollen. Das ist eine Konsequenz aus dem Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Ich glaube, dass solche tiefgreifenden Veränderungen mit der Zeit eben andere Bewegungen mit sich bringen, also die Gesellschaft insgesamt verändern.“
Veränderung, das ist ihr Thema. Auch die Murga hat sich verändert, sagt Mayra. Als sie noch ein Kind war, ging sie mit ihren Eltern zur Murga. Damals war die Kritik rüder. Mit der Linksregierung sind die Feindbilder ausgegangen. „Wir können ja schlecht kritisieren, was wir jahrelang eingefordert haben“, sagt Mayra. „Heute funktioniert die Murga so: Du nimmst das auf, was dir in deinem Leben auffällt, und hinterfragst es mit Humor. Wir sagen nicht: So ist es richtig und so ist es falsch. Wir hinterfragen Alltägliches: Konsumgewohnheiten, Kommunikation, Arbeitsalltag. Politik ist schließlich auch, wie die Gesellschaft mit den Ergebnissen von Politik umgeht. Das ist auch der Grund, warum so viele junge Leute auf die Murga abfahren. Sie identifizieren sich mit den Themen. Wir wollen anregen, über Themen nachzudenken.“
2013 war das Thema ihrer Murga die Arbeitswelt. Ähnlich wie Generation Y in Deutschland, sind die jungen Uruguayer der Meinung, die Qualität der Arbeit sei wichtiger als das finanzielle Ergebnis. „Es kann doch nicht sein“, sagt ein Mitglied der Gruppe, „dass wir nur auf das Wochenende hinleben, um dann all das Geld auszugeben, was wir im Laufe der tristen Woche mit stumpfsinniger Arbeit verdient haben. Oder dass wir das ganze Jahr nur auf den Urlaub hinarbeiten. Wir verpassen unser Leben dabei.“
So ähnlich hat es auch Präsident Jose Mujica anlässlich der UNO Generalversammlung im September 2013 in New York beschrieben:
Der durchschnittliche kleine Mann aus der Stadt wandelt zwischen Finanzfragen und langweiliger, manchmal durch Klimaanlagen unterkühlter Büroroutine. Er träumt von Freiheit und Ferien. Er träumt davon, seine Rechnungen und Kredite abzuzahlen, bis eines Tages das Herz anhält und: Adiós! Es wird einen anderen Soldaten geben, der den Schlund des Marktes füllt und das Wirtschaftswachstum sichert.
Weniger haben und mehr sein. Das ist die Devise. Eine, die den jungen Uruguayern auf einzigartige Weise vorgelebt wird. Noch-Präsident Mujica, der im März abtreten wird, erregt weltweit Aufmerksamkeit mit der konsequenten Umsetzung dieser Philosophie. Statt im luxuriösen Präsidentenpalast in Montevideo zu residieren, lebt er weiterhin in seinem bescheidenen Haus in einem Vorort, ohne Bedienstete. Der Ex-Guerillero, der auch „El Pepe“ genannt wird, lehnt jede Form des Überflusses ab. Von seinem Gehalt spendet er rund 90 Prozent. Ein Teil geht an die ihm nahestehenden politischen Parteien und Organisationen. Etwa ein Drittel seines Einkommens fließt an das genossenschaftliche Wohnprojekt „El Plan Juntos“, mit dem vor allem alleinerziehende Mütter unterstützt werden.
Mayra erzählt, Cayó la Cabra habe bei einer Einweihungsfeier dieser Wohnungen gesungen. Sie hätten zwar gewusst, dass ihr Präsident das Modell der gegenseitigen Hilfe finanziell unterstützt, aber erst vor Ort sei ihnen klar geworden, wie real das eigentlich ist. Emiliano meint, für die junge Generation sei dieser Präsident total normal. Und viele würden nicht verstehen, warum die ganze Welt über ihn spricht, warum Uruguay erst zum Begriff wurde, als Jose Mujica 2010 sein Amt antrat. Aber in 100 Jahren werde seine Amtszeit wahrscheinlich die Geschichtsbücher füllen, und dann werde auch der Uruguayer zu schätzen wissen, was dieser Ausnahme-Politiker auf den Weg gebracht hat.
Einstweilen ist es für Myra und Emiliano einfach die Normalität. Man kennt ihn nicht anders, diesen Präsidenten, als jenen „El Pepe“, der nur einer wie alle sein will, der am liebsten auf Bodyguards verzichtet, und den man häufig zufällig irgendwo antrifft. Dieser Mann, der Krawatten ebenso ablehnt wie Protokolle, der privat einen alten hellblauen VW-Käfer fährt, der 14 Jahre als politischer Gefangener einsaß, gefoltert und gedemütigt wurde, und der heute die Mächtigen dieser Welt mit seinen Reden zutiefst beeindruckt.
Wir haben die alten immateriellen Götter geopfert und den Tempel mit “Gott Markt” erschaffen. Dieser organisiert für uns die Wirtschaft, die Politik, die Gewohnheiten, das Leben, und vermittelt uns mit Preislisten und Kreditkarten ein Gefühl von Glück. Wie es aussieht, wurden wir nur geboren, um zu konsumieren und zu konsumieren und, wenn wir das nicht können, bleibt die Frustration, die Armut und die Ausgrenzung
Pepe Mujica, September 2013, New York
Konsumkritik und Jugendwahn sind auch zentrale Themen der Murgas. In einem „cuple“, einer Szene, der Murga 2014 von Cayó la Cabra heißt es:
Es ist Mode, jung zu sein.
Alle Moden fangen mit der Jugend an.
Wenn wir Kinder sind, imitieren wir sie.
Das Problem ist: Auch die Alten imitieren sie.
Mein Großvater hat sich ein Smartphone gekauft.
Er macht gern einen auf chic.
Jetzt liest er die Tageszeitung im Internet
und macht beim Blättern die Finger nass.
Die Mode nutzt die Jugend aus,
ohne Zweifel ihre besten Kunden,
sie sind für jeden Trend bereit
und kaufen alles, was du ihnen verkaufst.
Die Murgas haben es nicht leicht heute. Da es kein klares Feindbild gibt und die Kritik an der Konsumgesellschaft sich mit der Haltung des Präsidenten deckt, kommt schnell der Vorwurf auf, man sei der offiziellen Seite zu nah. Aber die Murga kritisiert nun mal nicht nur die Regierung, sondern die Gesellschaft. Die Murga kritisiert, was sie kritisieren muss. Sagt Mayra.
Inzwischen hat die Probe begonnen. Es ist eine gelöste und doch konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Mayra und Emiliano sitzen mit den anderen im Kreis. Sie singen Passagen und diskutieren ihre Interpretation.
Im Hintergrund sitzen Frauen und arbeiten an den Kostümen. Für die Texte sind drei Leute zuständig, aber alles wird immer im großen Kreis diskutiert. So fließt die Lebenswirklichkeit aller Beteiligter ein. „Wir müssen schließlich alle dahinterstehen, wenn wir auf der Bühne stehen“, sagt Mayra. Als Kooperative organisiert, hat jedes Mitglied die gleichen Rechte. Für einzelne Tätigkeiten gibt es Punkte, die am Ende in Geld ausbezahlt werden. Manche stehen nur auf der Bühne, andere haben zusätzliche Aufgaben: Texte schreiben, Musik arrangieren, Kostüme nähen.
Kooperativen sind in Uruguay sehr verbreitet. Wieder so ein Modell, das von PräsidentMujica befürwortet wird. Er sagt, das einzig menschliche Arbeitsmodell sei eines, wo Arbeit nicht ausgebeutet werde sondern Kapital, wo Maschinen und Werkzeug zum Wohle aller geteilt würden, wo zusammen gearbeitet werde. Mujicas Großvater, ein italienischer Einwanderer, war ein engagierter Kooperativist und soll das Verständnis von Arbeit bei seinem Enkel wesentlich geprägt haben. Im modernen Uruguay schließen sich vor allem junge Leute zu Kooperativen zusammen, sei es um eine Pension, ein Restaurant oder einen Bauernhof zu bewirtschaften.
Einige Tage später besuche ich Cayó la Cabra in der Altstadt von Montevideo. Ihr Auftritt beginnt kurz vor Mitternacht. Zuvor treten zwei weitere Murgas auf. Die Freiluftbühne wird – wie die meisten kulturellen Veranstaltungen – von Stadt und Staat stark subventioniert. Der Eintritt kostet gerade mal 50 Pesos, also weniger als zwei Euro. Ein Espresso in einem Cafe in Montevideo ist teurer.
Mariela, eine Mitarbeiterin, erklärt, diese Murgas seien eine Art Nachbarschaftsveranstaltung. Alle kennen sich, viele Zuschauer sind jung. Die Bars und Diskotheken sind für die meisten unerschwinglich. Das Mindesteinkommen betrug 2014 rund 400 US-Dollar (rund 350 Euro), bei Lebensmittelpreisen, die den deutschen sehr nahe kommen. Eine Murga hingegen kann sich jeder leisten. Freizeitvergnügen für alle, die Plätze der Arena sind komplett besetzt. Mancher Zuschauer kommt jeden Abend.
Die Texte ernten zahlreiche Lacher. Es geht um lange Wartezeiten für den Facharzt, um stalken statt ansprechen, um übermäßigen Computerkonsum, um Kredite und Kreditkarten und um die Frage, ob das alles „normal“ ist. Am Ende der Saison werden Jurys die besten Murgas auszeichnen. Wer immer am Ende der Saison gewinnt: An diesem Abend gibt es Standing Ovation für Cayó la Cabra.
Aufmacherbild: Gitti Müller