„Und essen Sie vor dem Sterben nicht zu üppig, trinken Sie keinen Schwarztee, keinen Kaffee, keinen Fruchtsaft. - Aber Champagner?, fragt Konietzka.“
„Eigentlich eine Liebesgeschichte“ von Erwin Koch (taz 2012)
Eigentlich sind viele Sätze, die Erwin Koch schreibt, unglaublich. Ein bisschen wie letzte Sätze: zum Heulen und zum Lachen. Ich würde gern erklären können, woran das liegt. Womöglich würde ich dann behaupten, dass neben seinen ganzen Postleitzahlen kein Platz für Pathos ist. Dass da jemand wohl versteht, was man so erlebt. Als Fußballprofi, als Krebskranker, als dessen Frau. Aber ich habe keine Ahnung. Nur ein Gefühl: Erwin Koch mag keine Urteile. Er mag die Menschen, die er trifft.
Noch ein Star. Und eigentlich ist „Nüchtern“ von Benjamin von Stuckrad-Barre (Welt am Sonntag 2012) nicht mal eine Reportage. Oder? Wir sagen „Prost!“, wir sagen „Cheers!“, er sagt „Nein, danke“. Jaja, Wasser, für ihn nur Wasser. Stuckrad-Barre über sein letztes Bier im Bordrestaurant und die langweiligen, trockenen Stehründchen danach: Ich weiß nicht, welcher journalistischen Form dieser Text angehört, und das gefällt mir. Manchmal muss ich daran denken: Wie er den Partyrausch beschrieben hat, der alle Gäste scheinbar simultan überfällt – alle außer ihn. Wie er sich morgens beim Joggen wie ein Loser vorkommt, wenn ihm noch Trunkene aus der Nacht entgegentaumeln, und man nicht sagen kann, wer er lieber wäre: die oder er. Und dass das letztlich keine Rolle spielt, nüchtern, verkatert, „ihr habt recht, ich habe recht“ – zusammen sind sie bloß die Sinnlosgesellschaft, die sich zufällig im Park trifft.
Der alte Nachbar aus der Eisenbahnstraße, Pissarius, erzählt immer, im Krieg habe er drei Juden versteckt. Die Studentin, der er das erzählt, glaubt es nur halb. „Wie soll das gehen?“, fragt sie. „Mit dem Essen, den Bomben und allem?“ Die Studentin ist Waltraud Schwab und wird Journalistin. Sie schreibt einen Text über die Eisenbahnstraße, der ein Text über den alten Pissarius wird – da ist Pissarius seit zwölf Jahren tot. 23 Jahre ist er tot, als sich plötzlich eine Frau aus Amerika meldet: Sie habe diesen Artikel im Internet gefunden. Darin von drei Juden gelesen, die ihre Großeltern und ihr Vater gewesen sein müssen. „Oh my God.“ Sie würde gern nach Deutschland kommen, in die Eisenbahnstraße. Zeigen Sie sie mir? „Also war es doch wahr“, schreibt Waltraud Schwab in „Drei Winter lang“ (taz 2012). Vielleicht ist auch wahr, was sie dauernd sagt: „Es gibt keine Geschichten wie früher.“
Annabelle Seubert, geboren 1985 in Bad Mergentheim, ist Redakteurin der „taz. am wochenende“ im Ressort Gesellschaft. Ihr Text „Landkarten sind für Muschis“ war 2014 für den „Henry-Nonsens-Preis“ nominiert.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration: Veronika Neubauer