Als erwachsener Mensch wird man ständig darauf überprüft, ob man leidenschaftlich, aufrichtig und durchsetzungsfähig genug ist – „Träumen Sie sich an die Spitze“ oder „Sind Sie negativ“ sind zwei der fast inquisitorischen Fragen, die uns in einer Gesellschaft, die sich mit Grundsätzlichem nicht beschäftigt, sondern höchstens hinter allem und jedem eine konkurrenzwirtschaftliche Strategie vermutet, zwar ständig gestellt werden, aber nerven und Angst machen. Eine ernsthafte Antwort kann nur bedeuten, sich einzugestehen, dass man den Anforderungen einer konsequenten Pflege der eigenen Persönlichkeit nicht gewachsen ist. Zwischen Maßstab und Realität, Selbstdarstellung und Selbstzweifel klafft ein tiefer Abgrund.
Der einzige Raum, in dem diese verinnerlichten Normen außer Kraft treten und wir ohne folgenschwere Konsequenzen tun können, was wir wollen, ist vermutlich der Film. Im Kino können Filmemacher und Zuschauer Extreme durchleben, ohne dafür ins Gefängnis oder unter die Erde zu kommen. Hat man sich diesen Zweck des Kinos als Bewertungsskala für Filmfestivals angeeignet, ist es schwierig, das Programm der Berlinale auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen – obwohl genau das notwendig wäre, um einen stimmigen, verallgemeinernden Text über eben diese abzuliefern.
Fangen wir mit dem Rahmen an – das diesjährige Motto der Berlinale ist „Starke Frauen in Extremsituationen“ – keine Ahnung, wer sich das ausgedacht ist, fest steht nur, dass es ein bisschen zu sehr nach Damenbinde klingt. Drei der 19 im Wettbewerb antretenden Filme wurden von Frauen gedreht, unter anderem der Eröffnungsfilm „Nobody Wants the Night“ von der Spanierin Isbael Coixet, die sich in vorangegangenen Arbeiten vorrangig mit den verschieden auslegbaren „Ichs“ ihrer Protagonistinnen beschäftigt hat. Bei der Pressekonferenz entgegnete sie auf den Vorwurf, ihr neuer Film sei nicht gelungen, dass sie nächstes Jahr wahrscheinlich nur noch als Kartenabreisserin auf die Berlinale eingeladen wird.
Heute läuft „Body“ von der Polin Malgorzata Szumowska (schwarze Komödie über Untersuchungsrichter mit magersüchtiger Tochter, klingt ganz ohne Hintergrundinfos doch nett) – am Donnerstag “Sworn Virgin” von Laura Bispuri, italienisches Drama, in dem sich eine Frau aus der archaischen Berglandschafts Albanien dazu entscheidet, im Kampf um ihre persönliche Freiheit zum Mann zu werden. Unabhängig von der Gender-Debatte handelt es sich bei den Wettbewerbsfilmen um exakt dieselbe Zusammensetzung wie sonst auch – misslungene Großproduktionen bekannter Regiegrößen und besondere Filmen aus Asien oder dem nahen Osten, von deren Verantwortlichen das Durchschnittspublikum noch nie gehört hat. Es ist, als träfen sie sich die verschiedenen Filmemacher auf einer völlig klaren Bewertungsachse – Bekanntheitsgrad und Qualität des Films müssen sich gegenseitig ausgleichen, um an Ende allesamt auf der halbwegs gleichen Ebene zu rangieren.
So hat Terrence Malick, der 1973 „Badlands“ gedreht hat und inzwischen ein zunehmendes Desinteresse an konventionellen Erzählstrukturen zeigt, nach seinen polarisierenden Epen „Tree of Life“ und „To the Wonder“ vorgestern „Knights of Cup“ vorgestellt, eine nicht enden wollende Collage üppiger Bilder über spirituelle Sehnsucht, den Regenwald, Christian Bale und Cate Blanchett, in jeder Sekunde auf der Schwelle zur Selbstparodie.
Im krassen Gegensatz dazu steht der iranische Beitrag „Taxi“ von Jafar Pahani. Er darf gerade eigentlich überhaupt keine Filme machen, eben deshalb hat er sich darauf beschränkt, fast ausschließlich in einem Taxi zu drehen – dort ist er gleichzeitig der Star seines Films, fährt mit mehr oder weniger versteckten Kameras durch die Straßen Teherans und unterhält sich mit Fahrgästen, von denen schwer zu sagen ist, ob sie spontane Laien oder eingeweihte Schauspieler sind. So entsteht eine extrem unterhaltsame Struktur aus acht Kapiteln, die sich mit der Rolle des Videos in der iranischen Gesellschaft und deren rechtlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren auseinandersetzt.
Zurück zu den Frauen – und zwar zu denen, die bisher am ehesten dem oben genannten Motto der Berlinale gerecht wurden. In der Sektion “Perspektive Deutscher Film” premierte am Sonntag der extrem tolle und besondere Film “Wanja” von Carolina Hellsgard, Kamera Kathrin Krottenthaler. Anne Ratte-Polle spielt extrem undeutsch eine Ex-Bankräuberin, die sich in der brandenburgischen Wüste zurück in die Gesellschaft eingliedern will, aus Einsamkeit 15 Enten in ihrer Wohnung hält und sich in eine 16-jährige, auszubildende Pferdewirtin mit Drogenproblem verknallt. Das klingt wild und nach Extremsituation, um eine solche geht es auch tatsächlich – übermorgen stellen wir ein Videointerview mit den Verantwortlichen vor.
Jetzt sehen wir uns die Verfilmung vom Clemens Meyer Roman “Als wir träumten” an – Andreas Dresen hat die gemacht, und zwar, nachdem man in den vergangenen Jahren von ungefähr 20 renommierten Filmemachern gehört hat, wie sehr sie es bereut haben, sich nicht rechtzeitig die Rechte an dem Stoff gesichert zu haben. Es bleibt spannend. Das wahre Motto scheint weniger “starke Frauen” als “Untergänge” zu sein. Und so was kommt ja bekanntlich immer wieder vor: Eine Firma geht bankrott, eine Beziehung bricht auseinander, jemand fällt zum dritten Mal durch die Fahrprüfung oder stellt fest, das er als einziger nicht zum Berlinale-Dinner mit Nicole Kidman und James Franco eingeladen wurde.
Fortsetzung folgt …
Aufmacherbild: Leandro Betancor: Rinko Kikuchi in „Nadie quiere la noche“, Regie: Isabel Coixet.
- Berlinale-Spezial-Texte:
- “Taxi!” – Auftaktbeitrag (Helene Hegemann) - siehe oben
- „Als wir träumten“ (Hanna Hünniger)
- „Fifty Shades of Grey“, „Haftanlage 4614“ (Hanna Hünniger)
- Berlinale-Rückblick (Helene Hegemann)
- Videos mit Berlinale-Gesprächen
- Künstleragentin Heike-Melba Fendel (Hanna Hünniger)
- Regisseurin Maria Mohr (Hanna Hünniger)
- Filmkritiker Frédéric Jaeger (Hanna Hünniger)
- Regisseurin Carolina Hellsgard (Helene Hegemann)
- Schauspielerin Katja Riemann (Hanna Hünniger)
Die Gewinner des Goldenen und der Silbernen Bären