Einhundertelf Jahre ist es her, dass Dr. Johannes Steindamm sich gezwungen sah, endlich vor dem schädlichen Einfluss der großen Kaufpaläste zu warnen, die in Mode gekommen waren. In „Beiträge zur Warenhausfrage“ schrieb der Staatsrechtler im Jahr 1904:
Die Warenhäuser veranlassen nicht nur zum Diebstahle am Gute des Warenhausbesitzers, sondern sie bewirken gewissermassen einen Eingriff in das Vermögen des Käufers, oder, besser gesagt, der Käuferin, indem sie zu unnützen Einkäufen verleiten (…).
Die „Pracht des Ausgestellten“ sei dazu geeignet, „die klare Vernunft zu verwirren und eine wilde Kaufsucht zu erwecken“: „Mitunter erst wenn der süsse Rausch verflogen, die Ernüchterung gekommen ist, wenn der, leider, ach, so kühle Verstand die neuerworbenen Herrlichkeiten zu betrachten anfängt, dann kommt, allerdings zu spät, die bittere Erkenntnis: ‘Wie töricht war das doch!’“ Warenhäuser galten Steindamm nicht nur wegen ihres Einflusses auf „moralisch wenig gefestete Individuen“ als gefährlich, sondern auch wegen ihrer Wirkung auf die Konkurrenz:
Es ist eine unleugbare Tatsache, dass den kleinen Geschäften von den Warenhäusern ein gewaltiger Abbruch getan wird (…).
Ein Jahrhundert später sind viele der damals „sozialpolitisch unerwünschten Betriebe“ (Steindamm) vollständig verschwunden: Hertie, Wertheim, Horten. Einem weiteren lässt sich seit Jahren beim Verfall zusehen. „Gegründet 1881“, steht stolz auf den Türen vieler Karstadt-Häuser. Seit Monaten wird spekuliert, wie viele der verbliebenen 83 Filialen der neue Eigentümer René Benko mit seiner Signa-Gruppe zumachen wird, weil sie sich nicht mehr rentieren. Gerade berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ aus internen Dokumenten des Konzerns: Mehr als 1.200 Mitarbeiter sollen entlassen werden, in vielen Abteilungen könne es nur noch Selbstbedienung geben, Schaufenster sollen weniger aufwändig dekoriert werden. Um zu retten, was noch zu retten ist.
In all den Berichten darüber, wie es mit Karstadt weitergehen soll, bleibt eine Frage jedoch meist unbeantwortet: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Was ist falsch gelaufen in einem der einstmals mächtigsten Warenhauskonzerne, bei dem jetzt permanent „Wow-Sale“ ist?
Krautreporter-Mitglied Paul Moll hat da so eine Ahnung. 1958 fing er als Lehrling beim Wettbewerber Kaufhof an und stieg bis zum Zentraleinkäufer auf. In den 80er Jahren kam er zu Hertie, wo er als Einkaufsdirektor für Hartwaren zuständig war (alles außer Textilien und Lebensmitteln). Moll war auch an Bord, als Hertie von Karstadt übernommen wurde, bis zu seiner Pensionierung 1997. Ich hab mich mit ihm über die Fehler unterhalten, die die Warenhäuser im Allgemeinen – und Karstadt im Speziellen – seiner Meinung nach gemacht haben.
1. Karstadt hat sich seine Vielfalt (zu) teuer erkauft
Vom Kleiderschrank über Schuhe bis zur Büchsenmilch – in einem durchschnittlich 20.000 Quadratmeter großen Warenhaus gab es für gewöhnlich bis zu 200.000 Artikel. Um die zu beschaffen, war eine komplizierte Logistik vonnöten. Der dafür zuständige Zentraleinkauf legte ein Sortiment fest, das von den Abteilungsleitern nach Bedarf für ihre Filialen bestellt wurde. Über Einkaufsbüros in China, Japan, Südamerika, Italien und Frankreich kam die Ware in große Zentrallager und von dort in die einzelnen Häuser. Gleichzeitig kauften die Filialen bei regionalen Anbietern zusätzlich Posten oder Sortimentsergänzungen. Und genau das hat die Angelegenheit kompliziert gemacht.
„[Diese Aufteilung] hatte ursprünglich den Sinn, dass man in guten Zeiten auch noch die letzte Umsatz-Mark mitnehmen wollte, damit zum Beispiel die Münchner auf jeden Fall auch Teile vom lokalen Lederhosenspezialisten kaufen konnten“, erklärt Moll. „Dadurch entstanden aber riesige Organisations- und Logistikkosten.“
Der Verkauf argumentierte, er brauche regionale Produkte, um sich am Standort zu profilieren. Der Zentraleinkauf hielt dagegen und wollte Budgets bündeln, um bessere Konditionen für die Waren zu bekommen. Eine eindeutige Entscheidung für eines der Modelle ist bei Karstadt nie gefallen: Weder setzte sich der Zentraleinkauf durch, der Standardsortimente zu günstigeren Preisen hätte liefern können; noch entschied sich das Management dafür, die Filialen konsequent zu spezialisieren, um sich an anspruchsvollere (und besser betuchte) Kunden zu richten. Karstadt wollte beides. Die Rechnung ist nicht aufgegangen.
2. Karstadt hat zu spät auf neue Konkurrenten reagiert
Als Ende der 70er Jahre Spezialgeschäfte eröffneten, die sich wieder auf bestimmte Sortimente konzentrierten, verloren vor allem kleine Kaufhäuser schnell an Attraktivität. Karstadt-Mitbewerber Kaufhof wurde in den 80er Jahren vom Handelsspezialisten Metro übernommen, der früh entschied, unrentable Kleinfilialen zu schließen. (Karstadt hat das Problem bis heute verschoben). Moll erklärt, welchen Strategiewechsel Kaufhof danach verfolgte: „Warenhäuser, die aufgegeben und anschließend zu Einkaufszentren umgebaut wurden, funktionierten plötzlich wieder. Also hat Kaufhof das Galeria-Konzept entwickelt, bei dem Shop-in-Shops eine große Rolle spielen“ – also Flächen, auf denen Modehersteller ihre Kollektionen nach eigenen Wünschen präsentieren (und zum Teil sogar einräumen) konnten. Heute sind Shop-in-Shops in vielen Häusern Standard. „Karstadt ist das nur halbherzig angegangen“, erinnert sich Moll. Filialleiter wollten bei der Gestaltung der Konzessionsflächen mitreden; das passte den Herstellern aber nicht in den Kram.
3. Karstadt hat am falschen Ende gespart
„Die Urform des Warenhauses bestand eigentlich darin, viele kleine Fachgeschäfte aneinanderzusetzen. In jeder Abteilung gab es Mitarbeiter, die die Kunden empfingen, berieten und ihnen die Waren verkauften“, sagt Moll. „Als angefangen wurde zu sparen, passierte das nicht bei der Logistik, wo es notwendig gewesen wäre, sondern beim Verkaufspersonal.“ Dabei hätte sich Karstadt schon früh genau damit von den zahlreichen Spezialanbietern abheben können. Das Kuriose ist: „Karstadt macht diesen Fehler heute wieder.“ Oder: immer noch.
Laut „SZ“ sollen zahlreiche Mitarbeiter demnächst von Beratern zu Verräumern werden. Das bedeutet, dass Mitarbeiter nicht mehr dafür da sind, Kunden bei der richtigen Auswahl zu helfen, sondern nur noch, um Regale aufzufüllen. Für den Konzern habe das den Vorteil, die Angestellten nur noch nach den (niedrigeren) Tarifen der Logistikbranche bezahlen zu müssen. (Nachtrag vom 5. Februar: Karstadt widerspricht dieser Darstellung.)
4. Karstadt hat die Verjüngung verschlafen
Unter dem lustigen Möchtergern-Hipness-Namen „K Town“ funktionierte Karstadt im Jahr 2012 zwei seiner Häuser in Göttingen und Köln zu Filialen um, in denen es ausschließlich junge Modemarken zu kaufen gab. „Dieses neue Shopkonzept ist ein wesentlicher Bestandteil der Strategie ‘Karstadt 2015’. K Town trägt weiter zur Modernisierung und Differenzierung von Karstadt bei“, hieß es damals in einer Pressemitteilung.
Verspätet versuchte der Konzern das nachzuholen, was vorher jahrelang verpasst worden war – und sah dabei gar nicht schlecht aus. Die Häuser waren deutlich moderner, die Kollektionen stimmten. „Es gab aber kaum Mittel für Werbung, die Läden wurden stillschweigend eröffnet, es fehlte an Schwung“, sagt Moll. Noch dazu sollten Mitarbeiter, die im Haus vorher für Bücher oder Haushaltsgegenstände zuständig waren, plötzlich junge Mode verkaufen. Das Konzept war nicht konsequent zu Ende gedacht. Im vergangenen Oktober gab der aktuelle Karstadt-Geschäftsführer Stephan Fanderl das Ende von K Town bekannt.
5. Karstadt war nicht flexibel genug
Nicht nur bei der Umstellung auf das Shop-in-Shop-Prinzip hatte Kaufhof dem Konkurrenten Karstadt etwas voraus. „Als sich herausstellte, dass Häuser unter 8.000 Quadratmetern kaum noch rentabel waren, nahm Metro ihre [ebenfalls zugekauften] Elektronikmärkte Saturn oder Media Markt dort hinein“, sagt Moll. In einigen Fällen wurden auch nur die Elektronikabteilungen von Kaufhof-Filialen an die Spezialisten abgegeben. Karstadt hätte eine ähnliche Chance gehabt: Als der Konzern 1994 Hertie übernahm, gehörten ihm mit einem Schlag auch die Elektronikfachmärkte der norddeutschen Kette Schaulandt. (Sowie die Musikfachmärkte „WOM – World of Music“). „Karstadt war sich sicher, weiter mit der alten Warenhaus-Idee reüssieren zu können. Also haben sie die Läden zugemacht“, erinnert sich Moll. Damit überließ man der wachsenden Konkurrenz das Geschäft – und konnte sich gegen die nie mehr durchsetzen.
Unter dem vor-vorigen Karstadt-Chef Andrew Jennings wurden die verbliebenen Technikabteilungen in den vergangenen Jahren nach und nach geschlossen. Jennings Idee war, stattdessen den Modeanteil zu stärken. Der Plan klingt konsequent, sorgte aber dafür, dass Karstadt noch mehr Kunden abhanden kamen – „weil vielen Familien der Anziehungspunkt beim gemeinsamen Einkaufen fehlte“, erklärt Moll.
Aufmacherfoto: Peer Schader