Nachdem sie jahrzehntelang als Heilige porträtiert worden war, schwang 1995 das Pendel um und eine Handvoll amerikanischer, britischer und deutscher Journalisten rechneten mit Mutter Teresa ab: dass sie die Sterbenden als Mittel für ihre Frömmigkeit missbraucht und lieber sterben lässt, als sie medizinisch zu versorgen; dass sie auf ihren Spenden sitzt, anstatt das Geld sinnvoll einzusetzen; dass ihr Orden ganz schlecht gemanagt wurde. Und zwischen all diesen hämischen und zynischen Verrissen erschien die Reportage „Unsere gute Frau in Kalkutta“ (GEO 6/1995) von Alexander Smoltczyk,der ebenso präzise wie zärtlich beschrieb, wie sich diese kleine Frau mit den Wurzelfingern ihren naiven Glauben bewahrt und ihn gegen jegliche Form von Bürokratie und Organisation verteidigt hat. Klug und berührend.
Wenn ich donnerstags die drei Pfund Zellulose auf den Tisch geknallt bekomme, schau ich als Erstes, ob sich darin Texte von Henning Sussebach oder Heike Faller verstecken. Die beiden sind für mich die feinsten Beobachter des deutschen Alltags. Hier hab ich allerdings einen älteren Text von Heike ausgesucht, „Macht Reisen muffig, Paul Theroux?“ (Zeit 2000), weil da schon alles aufscheint: diese spielerische Leichtigkeit und Aufrichtigkeit – sich, dem Porträtierten und dem Leser gegenüber. Und diese feine Selbstironie.
Sieben Jahre lang hat Suketu Mehta an dem Buch „Maximum City. Bombay lost and found“ geschrieben, das ein (mit den Lesern gnädiger) Lektor dann von mehr als 2.000 Seiten auf 584 eingekürzt hat, und er verwebt darin die Leben seiner Bewohner – ein Barmädchen, das vom Ende der Welt träumt; ein Bollywood-Schauspieler, der zum Terroristen wird; ein Juwelenhändler, der allen Reichtum verschenkt; ein Gangster, der ihm die Pistole an den Kopf hält – zu einem Panorama der brutalen, herzzerbrechenden und wahnwitzigen menschlichen Natur in diesem größten und schillerndsten Babylon unserer Tage. Ein Buch mit tausend Rüsseln und Armen, das einen nicht mehr loslässt. Den Auftrag dazu bekam Mehta aufgrund einer sehr viel kürzeren Reportage in Granta (57 – India, the golden Jubilee). Großartig!
Florian Hanig, 1968 in Gräfeling geboren, ist Reporter bei der GEO. Seine Reportagen wurden mit dem Axel-Springer-Preis ausgezeichnet und waren für den Kisch- und den Reporter-Preis nominiert. Hanig schreibt außerdem Drehbücher, zuletzt für den ARD-Film „Monsoon Baby“,der gerade für den Grimme-Preis nominiert wurde.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration:Veronika Neubauer