Die mächtigste Zahl der Welt: Das Bruttoinlandsprodukt

© Flickr (CC BY-SA 2.0) / Hannu Makarainen

Aus dem Archiv

Die mächtigste Zahl der Welt: Das Bruttoinlandsprodukt

Für Statistiker ist das Bruttoinlandsprodukt der wichtigste Indikator unserer Volkswirtschaft. Für Politiker ist das Berechnungsmodell aber in Wirklichkeit ein mächtiges Werkzeug. Eine Zahl und ihre Geschichte.

Profilbild von Frederik Fischer

Einschaltquoten, Börsenkurse, Bevölkerungszahlen: Zahlen beeinflussen unser Handeln, unseren Wohlstand und unsere Gesundheit. Zahlen, in denen sich ausdrückt, was wir als Gesellschaft und Einzelpersonen wichtig finden. Doch sie täuschen darüber hinweg, dass diese Erfolgsmetriken keine Naturgesetze sind. In ihnen drücken sich Weltanschauungen aus – politisch, wirtschaftlich und kulturell.

Was wir messen beeinflusst was wir tun; und wenn unsere Messungen fehlerhaft sind, treffen wir die falschen Entscheidungen.
Kommission zur Messung wirtschaftlicher Leistung und sozialen Fortschritts

Los geht es mit nicht weniger als „der mächtigsten Zahl der Welt“: dem Bruttoinlandsprodukt (BIP; engl. GDP für „Gross Domestic Product“). Globalisierungskritiker sehen in dem Zahlenwerk ein statistisches Feigenblatt für den Raubbau an Mensch und Natur. Für Statistiker misst die Zahl schlicht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Nation. Die Wahrheit liegt nicht dazwischen, sie liegt in der Geschichte. Das Bruttoinlandsprodukt war zu keiner Zeit eine bloße Zahl. Es war immer auch und in erster Linie ein Werkzeug politischer Interessen. Aber der Reihe nach.

Warum gilt das BIP als die „mächtigste Zahl der Welt“?

Das Bruttoinlandsprodukt ist vergleichbar mit dem eigenen Einkommen - leider nicht in der Höhe, aber immerhin in der Funktion. Wie beim eigenen Einkommen gilt: Je höher es ist, desto billiger die Kredite, desto höher das Ansehen, desto größer der Einfluss.

Ein Länder-Ranking nach BIP pro Kopf (kaufkraftbereinigt)

Ein Länder-Ranking nach BIP pro Kopf (kaufkraftbereinigt)

Ähnlich verhält es sich mit Volkswirtschaften. Das BIP ist dabei gleichzeitig Zuckerbrot und Peitsche. Ein hoher Wert erweitert den Handlungsspielraum von Staaten, eine negative Entwicklung schränkt sie ein.

Erstes Beispiel: Das Maastricht-Kriterium

Es schreibt für EU-Länder ein Haushaltssaldo von maximal 3 Prozent und einen Schuldenstand von höchstens 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor. Das heißt: je höher dieses ist, desto breiter die mögliche Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben, desto höher der tolerierte Schuldenberg. Deutschland hat für 2014 ein BIP von 2.903 Milliarden Euro zu verbuchen. Wir können also 87 Milliarden mehr ausgeben, als wir einnehmen und dürfen ohne Angst vor Rügen aus Brüssel Staatsschulden in Höhe von bis zu 1.741 Milliarden Euro erlauben. Die umgekehrte Situation herrscht in Griechenland: Durch den Sparkurs sank das BIP. Dadurch stiegen die Staatsschulden. Im Zusammenspiel ergibt sich mit 174,7 Prozent so ein neuer Höchststand bei der Staatsschuldenquote (Staatsschulden im Verhältnis zum BIP) - und das, obwohl Athen Ende letzten Jahres den ersten ausgeglichenen Haushalt seit Jahrzehnten präsentierte. So lange sich Athen nicht aus dem Schuldenloch befreit, wird sich der Griff der sogenannten Troika nicht lockern (bestehend aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds).

Zweites Beispiel: Das makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren

Dieses Mammutwort ist eine Konsequenz aus der Eurokrise. Mit dem Frühwarnsystem werden eine Reihe von Indikatoren beobachtet. Über- oder unterschreiten diese Indikatoren bestimmte Werte, greift die EU ein - mit Ratschlägen und Empfehlungen, im Notfall aber auch mit Geldstrafen. Viele dieser Indikatoren basieren auf dem Bruttoinlandsprodukt. Die Privatschulden aller Bürger Deutschlands dürfen beispielsweise nicht mehr als 160 Prozent des BIP betragen. Auch für den Länderfinanzausgleich und den EU-Regionalfond ist es maßgeblich. Mehr dazu in den Anmerkungen neben diesem Absatz.

Den größten Einfluss hat das Bruttoinlandsprodukt aber auf die Psyche - auf die der Wähler und damit ebenso die der Politiker. Besonders deutlich wird dies, wenn von Wirtschaftswachstum oder der Konjunktur die Rede ist. Beides errechnet sich auf Grundlage des BIP. Beides sagt wenig über unseren tatsächlichen Wohlstand aus. Dennoch versinken regelmäßig ganze Länder in kollektiver Depression, wenn vor die Zahlen ein Minus rückt. Dabei zeigt die historische Entwicklung: Die deutsche Wirtschaft wächst seit Jahrzehnten immer langsamer und nähert sich immer mehr der magischen Null. Ärmer sind wir deshalb nicht geworden. Sehr wohl ist aber das Vermögen im Land ungleicher verteilt. Darüber jedoch schweigt sich das BIP aus.

Wirtschaftswachstum in Deutschland 1950-2014

Wirtschaftswachstum in Deutschland 1950-2014 Quelle: Destatis

Diese Entwicklung ist typisch für eine gesättigte Volkswirtschaft. Anders als nach dem Krieg, hat ein Großteil der Bevölkerung ausreichend Möbel, Fernseher und Autos. Die Binnennachfrage erlahmt, nur die Exporte halten uns über Null. Es ist eine der vielen Fehlinterpretationen des BIP, dass dies als negative Entwicklung wahrgenommen wird. Das BIP misst lediglich die wirtschaftliche Leistung.

Mehr von Krautreporter

Wer misst das Bruttoinlandsprodukt und wie?

In Deutschland wird das BIP vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden erhoben.Drei Berechnungswege führen zum Ziel: Die Entstehungsrechnung (wichtig unter anderem für Subventionen ), die Verwendungsrechnung (wichtig für Konjunkturprognosen) und die Verteilungsrechnung (wichtig unter anderem für die Sozialpolitik). Details zu den einzelnen Berechnungswegen stehen in den Anmerkungen neben diesem Absatz.

Keiner dieser Wege erklärt jedoch, warum das Bruttoinlandsprodukt auch als Wohlstandsindikator im Gespräch und als solcher höchst umstritten ist. Und tatsächlich sagt es so wenig über den Wohlstand einer Bevölkerung aus, wie der Jahresumsatz einer Firma über den Wohlstand der Beschäftigten. Als Krücke bedient man sich daher der Berechnung des BIP pro Kopf. Dabei wird einfach das BIP durch die Bevölkerungszahl geteilt. In Deutschland betrug der so errechnete Wert pro Kopf 2014 47.201 US-Dollar. So lässt sich - zumindest in der Theorie - der Wohlstand zwischen Ländern vergleichen.

Wie werden solche BIP-Änderungen beschlossen?

In der Nachkriegszeit konnte noch niemand ahnen, dass Anbieter wie Airbnb tausende Privatpersonen in schwarzarbeitende Teilzeit-Hoteliers verwandeln würden. Wie mit solchen Entwicklungen umzugehen ist, diskutieren Statistiker der Vereinten Nationen in regelmäßigen Gremiensitzungen. Werden Änderungen beschlossen, durchlaufen diese verschiedene Stufen bis zur Umsetzung. An erster Stelle steht das System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Vereinten Nationen (SNA), dem folgt auf EU-Ebene das Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung (ESVG), bevor das Regelwerk schließlich auf nationaler Ebene umgesetzt wird.

Diese sogenannten Generalrevisionen erfolgen in der Regel alle fünf bis zehn Jahre und haben meist zur Folge, dass Wirtschaftszweige mitberücksichtigt werden, die man zuvor ignorierte. So auch im letzten Jahr: Seit 2014 gelten in Deutschland beispielsweise Ausgaben für Forschung und Entwicklung als Investition. Allein diese Änderung lässt das Bruttoinlandsprodukt um rund drei Prozent ansteigen und ist damit satte 87 Milliarden Euro „wert“. Zum Vergleich: Der Jahresumsatz von BMW betrug 2013 „nur“ 76 Milliarden Euro.

Die Geschichte hinter dem Zahlenspiel

Der Brite William Petty hat sich im 17. Jahrhundert erstmals an der Aufgabe abgearbeitet, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer ganzen Nation zu errechnen - mit mäßigem Erfolg. Die folgenden 250 Jahre tat sich wenig auf dem Gebiet. Erst die Große Depression und der Zweite Weltkrieg sorgten in den 1930er Jahren wieder für vergleichbare Betriebsamkeit unter Volkswirten. Der Brite Colin Clark und der russischstämmige Amerikaner Simon Kuznets gelten als die Väter der modernen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR). Die VGR war ein enormer Erfolg. Erstmals konnten Regierungen die wirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Politik messen. Ohne diese Erfindung sähe unsere Gesellschaft heute anders aus. Besser - meinen die Kritiker.

Woran stoßen sich Kritiker?

Aus dem Nichts auftauchende BIP-Booster sind für die Kritiker derweil nur Petitessen. Ihre Wut speist sich vielmehr aus der Erkenntnis, dass das Bruttoinlandsprodukt auf Kosten der Lebensqualität wächst und damit falsche Anreize für Politik und Wirtschaft setzt. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Steigt durch die wachsenden Anforderungen an Arbeitnehmer die Zahl psychischer Erkrankungen, gehen mehr Mitarbeiter in Behandlung. Psychiater und Krankenhäuser machen höhere Umsätze und das Bruttoinlandsprodukt steigt. Seit der letzten Revision fließt zudem der Handel mit Drogen als Schätzung in die Berechnung mit ein. Ähnliches gilt für die Produktion von Militärgerät, den Bau und Unterhalt von privaten Gefängnissen und andere Ausgaben für die innere Sicherheit. Krieg, Krawalle und Kriminelle mögen gesellschaftlich verheerende Folgen haben, dem BIP-Wachstum können sie durchaus zuträglich sein. Umgekehrt ist vieles, was die Lebensqualität unbestritten steigert, wie zum Beispiel öffentliche Parks und Strände, für das Bruttoinlandsprodukt unerheblich - zumindest wenn sie keinen Eintritt kosten. Kurzum: Das BIP ist also nicht nur nicht gleichzusetzen mit einer verbesserten Lebensqualität; ersteres kann sogar zunehmen, während letztere abnimmt - und umgekehrt.

Volkswirte nehmen das zur Kenntnis, wundern aber sich über die Aufregung. Das Bruttoinlandsprodukt war nie als Wohlstands- oder gar Glücksindikator gedacht. Es versucht schlicht, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes abzubilden. Alles andere ist eine Interpretation, die von Politikern und Medien angetrieben wird. Für beide ist das Modell so reizvoll, weil es komplexe Sachverhalte auf eine einfache Zahl eindampft, eine Zahl, die eine Geschichte des Fortschritts und Wachstums oder des Rückschritts und Versagens erzählt. Das versteht jeder.

Aber auch die Kritik ist verständlicher, als sie zunächst erscheint. Das Bruttoinlandsprodukt selbst ist als Wohlstandsindikator zwar ganz offensichtlich unbrauchbar. Das BIP pro Kopf dagegen, wird durchaus von Politikern und Ökonomen als Wohlstandsindikator verkauft. Über das Glück freilich sagt das eine so wenig aus wie das andere.

Welche Alternativen gibt es?

Vom Bruttonationalglück (BNG) in Bhutan über ein grünes BIP in China bis hin zum britischen GDP+ von Nick Clegg, Sarkozy’s Kommission zur Messung der wirtschaftlichen Leistung und des sozialen Fortschritts und dem Index der menschlichen Entwicklung (engl. HDI für Human Development Index) der Vereinten Nationen – Indizes, die sich um die Position der „mächtigsten Zahl der Welt“ bewerben, gibt es zuhauf. Ob diese jemals die Bedeutung des Bruttoinlandsprodukts bekommen werden, hängt von Politik, Medien und Gesellschaft ab. Solange die Wirtschaft eine so herausragende Stellung in unserer Gesellschaft hat, bleibt der Siegeszug von BNG & Co. zumindest fraglich.

Am Schluss empfinde ich fast ein wenig Mitleid mit dem BIP. Von Politik und Medien wird es zu Unrecht überhöht und von Kritikern zu Unrecht erniedrigt.


Wer den Entstehungsprozess dieses Beitrages nachvollziehen möchte, kann die ursprüngliche Version des Textes lesen (Den Link auf das Google-Dokument findet ihr hinter dem „i“). Dort habe ich gemeinsam mit Krautreporter-Mitgliedern an der Geschichte gearbeitet. Folgende Mitglieder haben mir mit ihren Kommentaren, Einschätzungen und Kontakten sehr geholfen: Mario Müller, Simon Moser, Slobodan Sudaric, Sebastian Patrick, David Rühl, Patrick H. Vielen Dank euch allen!