„Ungarn ist schon lange nicht mehr frei“
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„Ungarn ist schon lange nicht mehr frei“

Wie sind die ganz persönlichen Eindrücke zur Lage der Pressefreiheit in Ungarn? Am vergangenen Wochenende haben wir rund 50 Krautreporter-Mitgliedern geschrieben, die Ungarn sind, dort leben oder eng mit Ungarn verbunden sind.

Profilbild von Frederik Fischer

Diese Woche berichten wir verstärkt über die Pressefreiheit in Ungarn. Für uns hatten die Vorfälle beim einstmals unabhängigen Nachrichtenportal Origo eine neue Qualität: Journalisten schreiben über einen Spesenskandal eines mächtigen Politikers - und die Konsequenz? Die Journalisten gehen, der Politiker bleibt. Über die Hintergründe, die zur Gründung des neuen unabhängigen Investigativbüros Direkt36 geführt haben, sind diese Woche mehrere Artikel bei Krautreporter erschienen. In einem ersten Artikel haben wir das Thema anhand der Vorgänge bei Origo beschrieben. Dazu gibt es einen Einblick in die Rolle der Deutschen Telekom - und wie sie bislang darauf reagierte. Einige der betroffenen Journalisten haben zudem am Donnerstag das Crowdfunding für ihr Recherche-Projekt Direkt36 gestartet. Warum Krautreporter investigativen Journalismus in Ungarn unterstützt, kann man hier noch einmal nachlesen.Hier widmen wir uns der Einschätzung unserer Mitglieder.

Die Entwicklung ist seit Jahren im Gang

Das Interessante: Sie halten den Origo-Skandal für einen eher weniger bedeutenden Vorfall in einer langen Reihe von staatlichen Übergriffen auf Kultur- und Bildungseinrichtungen, Hochschulen, Verwaltung und Wirtschaft. Krautreporter-Mitglied Wolfgang Barina schreibt: „Für mich ist die Entwicklung seit Jahren im Gang.“

Genauer: Seit 2010. In diesem Jahr wurde von der Fidesz-Regierung das umstrittene Mediengesetz verabschiedet. KlubRadio wurde mehrmals als Beispiel für die desaströsen Auswirkungen dieses Gesetzes erwähnt. Der Sender mit hohem Wortanteil galt als Sprachrohr der Opposition. 2010 schuf die Regierung Orban auf Grundlage des Mediengesetzes die Staatliche Behörde für Medien- und Nachrichtenübermittlung. Diese Behörde verweigerte KlubRadio 2010 die Sendelizenz. Erst auf massiven internationalen Druck hin wurde sie 2013 wieder erteilt.

Öffentlich-rechtliche Medien waren schon immer Sprachrohre der Regierung

Krautreporter-Mitglied Csaba Veres verweist auf den historischen Kontext: „Alle öffentlich-rechtlichen Sender in ehemaligen kommunistischen Staaten haben eine Vergangenheit als Sprachrohre der Regierung. Daran hat sich bis heute wenig geändert.“ So erklärt sich auch das von mehreren Krautreporter-Mitgliedern vorgebrachte Argument, dass die Öffentlichkeit gar keine unabhängige Berichterstattung von öffentlich-rechtlichen Sendern erwarte. Man muss aber dazu erwähnen, dass die Situation in öffentlich-rechtlichen Medien sich seit dem Amtsantritt von Victor Orbán massiv verschärft hat. Im Jahr 2011 wurde innerhalb von sechs Monaten ein Drittel aller Journalisten in öffentlich-rechtlichen Medien entlassen. Zum Teil war dies tatsächlichen wirtschaftlichen Entwickungen geschuldet. Wenn man sich allerdings die Liste der Betroffenen ansieht, bemerke man laut Krautreporter Keno Verseck eine auffallend hohe Zahl von kritischen Journalisten darunter.

Gekauftes Schweigen

Den Grund für ausbleibende öffentliche Proteste sieht Csaba weniger in der Angst vor Repressalien, als vielmehr „gekaufte“ Zufriedenheit. Einige Steuergeschenke und Reformen kommen tatsächlich bei vielen Menschen an. So sind die Nebenkosten (Gas, Wasser, Strom) in den vergangenen Jahren auf politischen Druck hin gesunken. Die negativen Reaktionen aus dem Ausland wischt die Fidesz-Regierung mit einem Narrativ beiseite, dass vielen Ungarn plausibel erscheint: Demzufolge wird die Kritik aus dem Ausland von beleidigten westlichen Unternehmen geschürt, die unter den liberalen Vorgängerregierungen durch die Privatisierung gute Geschäfte machten – bis Orbán kam und diesem Treiben ein Ende bereitete.

Polemik auf beiden Seiten

Ein weiteres Mitglied, das ungenannt bleiben möchte, warnt davor, deutsche Erwartungen an Journalismus auf Ungarn zu übertragen: „Die Arbeit der ungarischen Presse ist nicht mit der deutscher Kollegen vergleichbar.“ Seine Kritik bezieht sich dabei nicht alleine auf die regierungstreuen Medien. Auch regierungskritische Angebote wie die Pester Lloyd müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, mit reißerischen Überschriften Meinungsmache zu betreiben. Die traditionsreiche Zeitung Pester Lloyd ist übrigens nach wirtschaftlichen Problemen zunächst vom Papier ins Netz und aus politischen Gründen von Budapest nach Wien gewandert. Chefredakteur Marco Schicker hat sich in Ungarn nicht mehr sicher gefühlt.

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Auch das erwähnte Krautreporter-Mitglied fühlt sich in Ungarn nicht mehr sicher und versucht ein unauffälliges Leben zu führen. Das war nicht immer so. Als er vor knapp zehn Jahren nach Ungarn zog, hat er sich noch bemüht, Freunde und Bekannte zu mehr politischer Teilnahme zu motivieren. Die bezahlten ihr Engagement mit juristischen Konsequenzen: „Politisch auffällige Personen werden so lange vom Geheimdienst durchleuchtet, bis die Behörden belastbare Details gefunden haben.“ Und fündig würden sie fast immer. Das liege daran, dass einige Gesetze in Ungarn zwar auf Papier stünden, aber deren Einhaltung nicht kontrolliert werde. Beispiel: Steuergesetz. In Ungarn hinterziehen viele Bürger Steuern. Nicht aus bösem Willen, sondern weil sich viele Haushalte anders gar nicht führen ließen. Da das Mindesteinkommen kaum zum Leben reiche, verdienten sich viele Ungarn den nötigen Rest schwarz dazu. Solche unversteuerten Einkünfte seien ein beliebtes Mittel für Behörden, um die Bevölkerung zur Selbstzensur anzuhalten. Der implizite Deal: Schweig und kassiere oder sprich und zahl!

Das Mitglied berichtet außerdem davon, dass sich die rechtsextreme „Ungarische Garde“ wieder formiert. Die paramilitärische Organisation ist aus der Jobbik-Partei heraus entstanden und wurde 2008 verboten. Seit 2009 tritt sie unter dem Namen „Neue Ungarische Garde“ erneut auf und organisiert Aufmärsche. Ohne Konsequenzen. Auch Statuen des ehemaligen Staatsoberhaupts und Hitler-Kollaborateurs Miklos Horthy sowie des antisemitischen Dichters Albert Wass tauchen wieder im öffentlichen Stadtbild auf.

Ungarn ist die schlechteste Demokratie in der EU

In der Summe festigen die Stimmen unserer Mitglieder ein Bild von einem Ungarn auf dem Weg in die Isolation und einer Medienöffenlichkeit, die wie die Gesellschaft tief gespalten ist. Populismus und Stimmungsmache findet man in beiden Lagern. Diese Entwicklung ist seit Jahren im Gang. Eine Presse nach angelsächsischem Vorbild gab es dabei nie. Dennoch: Wie Orbán seit 2010 das Land umpflügt, hat Ungarn radikal verwandelt. Ungarn ist keine Diktatur. Ungarn ist die schlechteste Demokratie in der EU. Das ist schlimm genug. Umso wichtiger sind Bemühungen um neutrale Berichterstattung von Projekten wie Direkt36 und atlatszo.hu.


Was mich persönlich berührte, ist die Angst vor Überwachung sowie privaten und beruflichen Nachteilen der Mitglieder mit Wohnsitz in Ungarn. Keines dieser Mitglieder wollte namentlich genannt werden. Alle sind mittelbar oder unmittelbar Zeuge staatlicher Verfolgung kritischer Stimmen geworden. Im Gespräch mit Krautreporter-Autor Keno Verseck bestätigte sich dieser Eindruck. Keno hat das Land seit den 1990er Jahren regelmäßig bereist, lebte zeitweise sogar in Ungarn. “Noch nie war es schwerer Interviewpartner zu finden, die ihren Namen abgedruckt sehen wollten. Vor allem Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung schweigen aus der durchaus berechtigten Angst vor nachteiligen Folgen.” Umso mehr bedanke ich mich für die Hilfe unserer Mitglieder.

Aufmacherfoto: Thomas Leuthard, Flickr, (CC BY 2.0)