Profit machen ist eines der kniffligsten Dinge im neuen Job von Anthony Verlaine. Wenn irgendwo auf der Welt etwas Schlimmes passiert, gehen in seiner Küche die Bestellungen ein.
Das war zum Beispiel so nach dem Tod des 18-jährigen Michael Brown in Ferguson, Missouri, als sich in den Vereinigten Staaten eine neue Anti-Rassismus-Bewegung bildete. Dutzende Amerikaner klickten auf das Produkt, auf dem in weißer Schrift in einer schwarzen Box „Same Blood Color“ steht. Gleiche Blutfarbe. Ein politisches Statement.
Und dann kamen die Attentate in Paris. Hunderte von Anfragen flogen vor zwei Wochen ins Postfach, jeder wollte, dass auch er „Je suis Charlie“ druckt. Weiße Schrift, schwarze Box – das Design der drei Worte, die binnen Stunden zum weltweiten Symbol der Solidarität und der republikanischen Idee der Pressefreiheit geworden sind, erinnert an die “Unfuck your Brain”-Kollektion, die Anthony Verlaine unter dem Label Verlaine & Rimbaud vor einem halben Jahr auf den Markt gebracht hat.
Drei, vier Tage sei er ernsthaft im Dilemma gewesen. Dann entschied er sich dagegen. Doch man sieht ihm an, dass er sich nicht sicher ist, ob das so richtig war.
Der 29-Jährige lehnt an der abgeranzten Holztür der Bar Ourcq, seinem Lieblingsort in Paris. Der Quai de la Loire, die Promenade am Kanal, ist direkt gegenüber, und bei schönem Wetter, sagt er, kann man sich in der Bar Klappstühle leihen und am Kanal die Sonne genießen - ein Geheimtipp. Das war sein eigentlicher Plan. Doch die Sonne kann sich nicht so recht entscheiden, ob sie scheinen will, und die Ourcq ist noch geschlossen. Wir trippeln auf der Stelle, um uns die Füße warm zu halten.
„Ich will solche Ereignisse nicht für mich ausnutzen“, sagt er. Weder um Profit zu machen, noch um seinen Bekanntheitsstatus zu erhöhen. Er macht eine kleine Pause. „Aber es ist schwierig, neu zu sein. Es gibt so viele Modeleute in Paris, die haben eine Millionen Likes auf Facebook. Und machen Prints wie ‘Fuck all Bitches’“.
Er hat 1.800 Likes, keine schlechte Bilanz für sieben Monate Existenz.
Anthony Verlaine sieht nicht aus wie ein verrückter Modedesigner. Unauffällig mit Dreitagebart, beigen Hosen, Sneakers. Das mag daran liegen, dass er eigentlich eine ganz andere Karriere verfolgte. Mit Mode hatte er nichts zu tun.
2012 hatte er einen schweren Unfall und war fast zwei Jahre lang ans Krankenhausbett gefesselt. Fünf Stunden Reha am Tag. Langweile.
„Ich wollte schon immer irgendwas selber machen, und jetzt lag ich da und hatte Zeit.“ Es hatte ihn schon länger gestört, dass man in der Politik nur scheinbar Einfluss hat, und dass er die Jugendlichen nicht direkt für seine Leidenschaften Politik und Ökologie motivieren kann. Zum Zeitpunkt des Unfalls assistierte er den Parlamentsabgeordneten der französischen Linken Parti de Gauche (PG), wo er das wahre Gesicht der Politk kennenlernte: „Wir gingen mittags mit den Extremrechten um Marine Le Pen essen. Was eine Heuchelei.“ Er lacht empört auf.
Nun saß er also im Krankenhaus und dachte nach. „Musik? Kann ich nicht. Mode? Kann ich auch nicht, könnte ich aber mal probieren.“ Heraus kam Politmode mit dem Titel: Unfuck your brain.
Nähen, Drucken, Layouten, Websitedesign, Vermarktung, alles brachte er sich per Online-Tutorial selbst bei. Er kreierte sein eigene Marke, Verlaine & Rimbaud, eine aus seinem Nachnamen entsprungene Anspielung an die Liebesaffäre der großen französischen Dichter Paul Verlaine und Arthur Rimbaud. Sein Label zeigt das Gemälde „Freiheit für das Volk“ von Eugène Delacroix. Seine Mode geht per Onlineshop in 66 Länder.
Video von „Precieuses“
Seine Slogans wurzeln in Dingen, die ihn wütend machen. Und das ist vieles in dieser Welt. Neben „Same Blood Color“ hat er Sprüche wie „Le Pen - no gain“ in der Kollektion - Le Pen, kein Gewinn - eine Anspielung auf die immer populärer werdende extrem rechte Partei der Politikerin Marine le Pen. Oder „I am Jew and I love Arabs“ und „I am Arab and I love Jews“.
Letzteres verkaufe sich in Frankreich gar nicht. Er lacht. „Ist das nicht komisch?“ Genau das will er ja bekämpfen. Dann wird er ernst. „Auch wenn es mir schwerfällt, das zu sagen: Wir in Frankreich sind eine radikale Gesellschaft.“
Er erinnert sich an einen Vorfall in seiner Kindheit, als er von einem radikalen Muslim angegriffen wurde, weil er auf der Straße eine Wurst aus Schweinefleisch aß. Ebenso habe er im jüdischen Viertel von Paris, Le Marais, einmal beobachtet, wie eine Gruppe radikaler Juden der Befreiungsfront einen Touristen angriffen, weil der eine Kiffije trug. Für den Print „I am Jew and I love Arabs“ und umgekehrt bekommt der 29-Jährige sogar regelmäßig Morddrohungen, wobei er nicht sicher ist, dass die Mails aus Frankreich kommen.
Die meisten Abnehmer für dieses Design kämen ironischerweise aus Tel Aviv. Anthony weiß, es ist einfach, ein T-Shirt übers Internet zu kaufen. Viel einfacher, als wirklich den Nahostkonflikt zu lösen, den Regenwald zu retten oder einen indigenen Stamm in Nordamerika vor der Zwangsumsiedlung zu bewahren. Das hat er am eigenen Leib erfahren, als er 2008 versuchte, mit seiner Masterarbeit etwas zum Wasserkonflikt zwischen Las Vegas und dem Snake Valley beizutragen. Aus der Wüstengegend sollte Wasser in Richtung Vegas abgezogen werden.
„Money wins“, sagt er kopfschüttelnd. Seine Mühe blieb ohne Erfolg.
Er weiß, dass er die Welt mit Mode nicht retten wird. Parolenmode ist in, erst im vergangenen Frühling brachten Topdesigner Buchstaben zurück auf die Brust - Love life. You bug me. Earth sucks. Slogans, mit denen man sich besser fühlen soll.
„Aber ich glaube, dass Menschen mit Mode ausdrücken wollen, wer sie sind und für was sie stehen“, sagt er. Er stochert mit dem Strohhalm im dampfenden Ingwertee - die Bar hat mittlerweile geöffnet.
Sein Konflikt zwischen Geschäft und Wirklich-etwas-bewirken-wollen scheint keine moralapostelige Marketingstrategie zu sein, um sich glaubwürdiger zu machen. Es ist ein Thema, das von der ersten bis zur letzten Minute unser Gespräche durchzieht. Das beginnt schon mit seiner Biografie.
Er wurde in Grenoble geboren, wuchs dann als Waise in einer Familie von der Elfenbeinküste in La Villeneuve auf. Eine, wie er selbst sagt, „dieser abgefuckten Gegenden, von denen jetzt alle reden“. Sein Kindheitsidol war Nelson Mandela, dessen Aufstieg zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas er als Neunjähriger fasziniert verfolgte. Es überrascht also nicht, wenn Anthony Verlaine von Namibia schwärmt, wo er nach seinem Kampf in Las Vegas, einem weiteren Uni-Abschluss im kanadischen Montreal und mehreren Reisen nach Israel, Palästina und Jordanien, eineinhalb Jahre als Juniordiplomat arbeitete.
Und darin wurzelt wahrscheinlich auch seine Empörung darüber, dass in Frankreich IT-Girls wie Nabilla - die französische Version von Kim Kardashian - es zu mehr Likes auf Facebook bringen als seinerzeit Mandela. Was unter anderem auch zu einem seiner ersten Prints führte:„Mandela > Nabilla“. Mandela ist größer als Nabilla.
„Unfuck your Brain“ ist für Anthony Verlaine ein temporäres Projekt, bevor er wieder nach Afrika ziehen will, um dort etwas mit Wasser zu machen. Bis dahin versucht er jedoch, nicht nur Weltrettungsslogans zu verbreiten, sondern auch für eine nachhaltige Modebranche zu werben.
So hat er bisher Anfragen großer Pariser Modeläden abgelehnt, die seine Shirts nur vertreiben wollen, wenn er den Preis von 29 Euro auf 80 bis 120 Euro anhebt, so wie es sich auf den Champs Élysées gehört. „Ein T-Shirt kostet diese Firmen, die in Äthiopien und Bangladesch produzieren, am Ende maximal 2,50 Euro.“
Er ist Mitglied von Fair Wear, eine von den Vereinten Nationen unterstützte Stiftung, die sich für faire Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie einsetzt.
Er rechnet. Material, Miete des kleinen Druckateliers bei République, Druckkosten, Fäden und so weiter, mit allem zusammen komme er auf 14 Euro Fixkosten pro Stück. Drei Euro pro T-Shirt gibt er alle drei Monate an Amnesty International, Greenpeace und WWF. 29 Euro Verkaufspreis finde er fair, sagt er. Schließlich muss er ja auch Miete zahlen, schiebt er ein bisschen peinlich berührt hinterher.
In der vergangenen Woche war er bei der Pariser Fashion Week, um zu netzwerken. Auch wenn ihm die Welt der Louis Vuittons und Hermès’ fern liegt - er ist clever genug, seine Kontakte zu nutzen, um den langfristigen Plan zu erfüllen.