Ungarns Machthaber fürchten kaum etwas mehr als eine unabhängige Presse – immerhin gehört es seit Jahren zu einem der wichtigsten Vorhaben des national-konservativen Regierungschefs Viktor Orbán und seiner Partei Fidesz, die Medienlandschaft umzukrempeln und unabhängige Journalisten zum Schweigen zu bringen.
Angesichts dessen dürften Orbán und sein Führungszirkel dieser Tage besorgt aufhorchen: In Ungarn startet unter dem Namen Direkt36 ein ambitiöses Projekt für investigativen Journalismus, das sich zum Ziel setzt, tiefgreifende Recherchen zu den Themen Korruption und Machtmissbrauch in Ungarn zu veröffentlichen. Erstmals im postkommunistischen Ungarn geht es dabei um ein Projekt, das großenteils durch Crowdfunding finanziert werden soll. Die Kampagne dafür startete heute auf der Seite direkt36.hu. Weitere Informationen, allerdings auf Ungarisch, gibt es auf der Facebook-Seite von Direkt36, die am 6. Januar dieses Jahres online ging.
„In jeder Gesellschaft mit lebendigen Medien ist Berichterstattung, mit der Rechenschaftspflicht eingefordert wird, ein Grundbestandteil des Journalismus“, heißt es in der Gründungserklärung von Direkt36. „Anders in Ungarn: Durch politischen Druck oder aufgrund ökonomischer Interessen (manchmal beides) hat sich der Spielraum für unabhängige Medien in den letzten Jahren rapide eingeengt. Als Folge haben die Ungarn immer weniger Zugang zu jener Art von kompromisslos kritischem Journalismus, der die Führung des Landes zur Verantwortung zieht.“
Die Gründer des Projektes Direkt36 sind drei bekannte ungarische Journalisten: Gergö Sáling, András Pethö und Balázs Weyer. Sáling arbeitete bis Juni letzten Jahres als Chefredakteur von origo.hu, dem zweitgrößten ungarischen Nachrichtenportal, und musste seinen Posten verlassen, weil sein Stellvertreter András Pethö genau jene Art von Journalismus betrieben hatte, die jetzt auch Direkt36 machen will: Pethö hatte über Monate hinweg zu horrend hohen und offensichtlich ungerechtfertigten Übernachtkosten von János Lázár, dem Kanzleichef des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán, auf Auslandsreisen recherchiert. Mutmaßlich wegen der Veröffentlichungen zu diesen Luxusübernachtungen musste Sáling gehen; Kritiker werfen Lázár vor, dem Eigentümer von Origo, der Magyar Telekom, persönlich nahegelegt zu haben, dem Nachrichtenportal eine regierungsfreundlichere Linie zu verordnen (den gesamten Hintergrund lesen Sie hier.
Im Zuge von Sálings Entlassung kündigten die meisten Origo-Redakteure, darunter auch Sálings Stellvertreter András Pethö. Kurz darauf entwickelten Sáling, Pethö und Weyer, der 1998 einer der Mitbegründer von origo.hu gewesen war, die Idee zu einem unabhängigen Medienprojekt, das investigativen Journalismus betreibt. So entstand im Laufe einiger Monate das Projekt Direkt36 – das in Ungarn in dieser Form bisher einmalig ist.
Ein ungarisches ProPublica
Direkt36 wird zwar seine eigene Webseite haben, begreift sich aber nicht als klassisches Nachrichtenportal, sondern, wie Gergö Sáling und András Pethö sagen, in erster Linie als „kleine Journalisten-Werkstatt, die sich mit sehr arbeitsintensivem, tiefgreifendem Investigativjournalismus beschäftigt“. Werbung wird es bei Direkt36 ebensowenig geben wie finanzstarke Eigentümer und Investoren. Stattdessen will sich Direkt36 vor allem durch Crowdfunding finanzieren, außerdem werden einige institutionelle Geber wie die „Open Society“-Stiftung des aus Ungarn stammenden Börsenmilliardärs George Soros die Arbeit der Journalisten finanziell unterstützen.
„Wir lassen uns nicht von immer kleineren Nachrichten-Zyklen leiten“, schreiben die Direkt36-Macher in ihrer Gründungserklärung. „Unsere Mission ist, systematische journalistische Untersuchungen vorzunehmen, die eine Wirkung auf die ungarische Gesellschaft haben können, weil sie Probleme wie Korruption und Machtmissbrauch enthüllen. Unser Ansatz wird neu sein für den Journalismus in Ungarn, einem Land, in dem investigativer Journalismus im westlichen Sinne – methodische, systematische Untersuchungen von Problemen – noch keine tiefen Wurzeln geschlagen hat.“
Eines ihrer Vorbilder sehen die Macher von Direkt36 dabei in ProPublica, einem journalistischen Non-Profit-Unternehmen in den USA, das 2007 gegründet wurde, um kosten- und arbeitsintensiven investigativen Journalismus in Zeiten immer kleinerer Etats für Journalisten zu fördern. „Wir werden Geschichten eher selten, im Abstand einiger Wochen, publizieren“, sagt András Pethö, „und zuerst wird unser Material bei Partnern, bei einer Zeitung oder in einem Fernsehsender, erscheinen, dann auch auf unserer eigenen Webseite. Wichtig ist uns die möglichst hohe Verbreitung einer Geschichte und nicht, dass sie zuerst auf unserer Webseite erscheint. In diesem Sinne wird Direkt36 eher ein journalistischer Markenname sein als der eines Portals oder eines Mediums.“
Ein ähnliches Projekt wie Direkt36 gibt es in Ungarn bereits: das Antikorruptions-Portal atlatszo.hu. Es wurde 2011 gegründet, ist jedoch weniger eine rein journalistische Initiative als vielmehr eine Mischung aus Nachrichten-Portal, Nicht-Regierungsorganisation und ungarischem Wiki-Leaks. Atlatszo – das ungarische Wort für transparent – hat sich seit 2011 zahlreiche Verdienste bei der Aufdeckung von Korruptionsskandalen erworben, wie auch die Gründer von Direkt36 betonen. „Wir selbst verstehen uns aber nicht als Aktivisten oder als eine Nicht-Regierungsorganisation“, sagen Gergö Sáling und András Pethö. „Wir sind Journalisten, wir konzentrieren uns auf unsere Geschichten und auf Fakten, und unsere Meinung bleibt in unseren Geschichten weitgehend draußen.“
Umgerechnet rund 20.000 Euro wollen die Gründer von Direkt36 während ihrer Crowdfunding-Kampagne sammeln. Das würde einen wesentlichen Teil des Etats, den Direkt36 für dieses Jahr bräuchte, abdecken. Die Aussichten, dass es klappt, stehen nicht schlecht: Die Facebook-Seite von Direkt36 hatte bis zum 20. Januar bereits knapp 15.000 Likes – mit so viel Erfolg in nur zwei Wochen hatten Sáling, Pethö und Weyer selbst in ihren kühnsten Erwartungen nicht gerechnet. Auch von ausländischen Interessierten, die nicht ungarisch sprechen, könnte Geld zusammenkommen, denn Direkt36 will seine Geschichten auch in englischer Sprache publizieren.
Neben der Finanzierung durch individuelle Unterstützer wird Direkt36 auch auf Spenden institutioneller Geldgeber angewiesen sein. Allerdings legen die Projektgründer großen Wert darauf, dass möglichst viele einzelne Personen in Ungarn Direkt36 mit einer kleinen Summe unterstützen. „Wenn wir nur durch Stiftungen wie die Open Society Foundation von Soros unterstützt werden, stempelt uns die ungarische Regierung natürlich als ausländische Agenten ab“, sagen Gergö Sáling und András Pethö. „Außerdem: Wenn wir nicht genügend Leute in Ungarn finden, denen es umgerechnet zehn oder zwanzig Euro im Jahr wert ist, uns darin zu unterstützen, heikle Fragen zu stellen und Themen anzusprechen, die dem Gemeinwohl dienen, dann hat das ganze Projekt vielleicht keinen Sinn.“
Welche Geschichten zu Korruption und Machtmissbrauch Direkt36 als erstes veröffentlichen will, mögen Sáling und Pethö natürlich nicht verraten. Nur soviel: Schon längst sind sie am Recherchieren. Und noch etwas verspricht András Pethö: Die Affäre um die horrenden Hotelkosten, die János Lázár, der Kanzleichef des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán, verursachte – jene Affäre, wegen der er Origo verließ und wegen der er zusammen mit dem entlassenen Origo-Chefredakteur überhaupt auf die Idee für das Projekt Direkt36 kam – ist noch nicht zu Ende. „Die Recherche“, so Pethö, „geht weiter“.
Keno Verseck ist Mitglied beim Journalistennetzwerk n-ost, das die Crowdfunding-Aktion für direkt36 unterstützt. Auf ostpol.de, dem Online-Magazin von n-ost, schreibt Direkt36-Gründer András Petö über die Situation von Journalisten in Ungarn.