Der Langschläfer hat von allen Problemen mit dem Schlaf das wohl unsympathischste. Der Schlaflose ist weit glamouröser, mit seinen schwarzen Augenringen und der geheimnisvollen Aura. Was er wohl während der ganzen durchwachten Stunden macht? Narkolepsie ist wenigstens exotisch, von Schlafapnoe gar nicht zu sprechen. Aber jemand, der zu lange schläft, erntet im schlimmsten Fall Häme und im besten Fall Spott. Er ist schließlich einfach nur faul – oder?
Ich schlafe zu viel. Das bedeutet keineswegs, dass ich zu den beneidenswerten Personen gehöre, die immer und überall schlafen können. Vor allem, wenn es drauf ankommt. Es ist drei Uhr morgens, ich liege im überraschend bequemen Bett des Schlaflabors der Charité und bekomme kein Auge zu. Aber im Schlaflabor ist man schließlich auch nicht, um sich zu erholen. Sobald genug Daten gesammelt wurden, wird man geweckt – in meinem Fall nach ungefähr sechs Stunden.
Mal abgesehen davon habe ich sechs Kabel am Kopf, zwei an den Beinen und zwei Schläuche in der Nase und bin mit der gesamten Vorrichtung an die Wand angeschlossen. Mit den Kabeln werden meine Hirnströme und Atemzüge gemessen, um dann meine sogenannte Schlafarchitektur darzustellen. Eine Kamera ist auf das Bett gerichtet, damit Vivienne, die Nachtwache an diesem Abend, mich im Blick behalten kann. Vivienne hatte mir vorher erklärt, die meisten Patienten kämen wegen Schlafapnoe, einer Krankheit, bei der ein Atemstillstand eintritt, der so kurz ist, dass die meisten Betroffenen nicht einmal merken, dass sie davon wach werden. Dass ich das nicht habe, könne sie mir regelrecht ansehen.
Der Besuch im Schlaflabor ist in einer Reihe von Bemühungen die letzte, um herauszufinden, was mir eigentlich fehlt. Die Untersuchungen, die vorangingen, hatten immer dasselbe Ergebnis: Nichts zu machen, die junge Dame ist völlig gesund. Dass das Abweichen von der Norm, was den Schlaf angeht, vielleicht keine Krankheit oder Charakterschwäche ist, kommt den meisten von uns erst mal nicht in den Sinn. Dabei ist es recht einleuchtend, dass so etwas Elementares wie das Schlafbedürfnis genauso individuell verschieden ist, wie beispielsweise die Ernährung.
Dem Stigma, das dem Schlaf anhaftet, kann man sich höchstens anekdotisch nähern. Der Wissenschaftsjournalist Peter Spork macht in seinem Buch „Wake Up! Aufbruch in einer ausgeschlafene Gesellschaft“ ebendies. „Wirtschaftsführer und Politiker, sogar vermeintliche oder echte Vorbilder unter Regierenden und Fernsehprominenten, möchten ihre eigene Unentbehrlichkeit noch immer belegen, indem sie ihr geringes Schlafpensum betonen. Thomas Middelhoff, Ex-Geschäftsführer von Bertelsmann, begnügt sich angeblich mit nur drei Stunden Nachtruhe […] ’Vier Stunden Schlaf müssen genügen’, soll auch US-Präsident Barack Obama gesagt haben“, erzählt Spork. Auch unser Sprachgebrauch gibt einiges her, um Langschläfer in ihre Schranken zu weisen. Es wird „unermüdlich“ gearbeitet, man kann „schlafen, wenn man tot ist“, und der „Schläfer“ ist auch nicht gerade eine Vertrauen einflößende Gestalt – vom „frühen Vogel“ will ich gar nicht erst anfangen.
Kollektiver Schlafmangel in unserem System
Man kann aber auch den Kapitalismus für die Stigmatisierung des Schlafs verantwortlich machen, wie es Jonathan Crary in seinem Buch „24/7.Schlaflos im Spätkapitalismus “ macht, das Ende letzten Jahres in Deutschland erschienen ist. Wer schläft, so das Argument, kann nicht überwacht und kontrolliert werden, aber vor allem kann er weder konsumieren noch produzieren. Alle anderen grundlegenden menschlichen Bedürfnisse – Essen, Trinken, Sex – , so Crary, können kommodifiziert werden. Den Schlaf hingegen könne man nicht ökonomisch verwerten. Als „natürliche Hürde“ könne man ihn zwar nicht ganz abschaffen, „aber er kann verschrottet und geplündert werden, und […] die Werkzeuge für diese Aushöhlung sind schon völlig etabliert“. Mit den Werkzeugen, die Crary beschreibt, schlägt er den Bogen von einem Forschungsprojekt des US-Militärs, das sich zum Ziel gesetzt hat, ein nebenwirkungsfreies Medikament als Schlafersatz zu entwickeln, bis hin zur Folter durch Schlafentzug.
Crarys Buch ist eine dringliche Polemik, die die Ursachen des kollektiven Schlafmangels in unserem politischen und wirtschaftlichen System sucht. Auch Spork attestiert unserer Gesellschaft, unausgeschlafen zu sein. Allerdings wird sein Blick von der Chronobiologie geleitet, und seine Schlussfolgerungen haben einen realpolitischen Anspruch. In „Wake Up!“ formuliert er einen Acht-Punkte-Plan, mit dem sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf politische Art und Weise umsetzen ließen. Er fordert unter anderem flexiblere Arbeitszeiten, die Abschaffung der Sommerzeit und veränderte Schulzeiten.
Das würde sowohl den Menschen zugute kommen, die spät ins Bett gehen und spät aufstehen, als auch denen, die einen erhöhten Schlafbedarf haben. In der Chronobiologie gibt es zwei hübsche Begriffe für Früh- und Spätaufsteher: „Lerchen“ und „Eulen“. „Die inneren Uhren der Menschen ticken verschieden“, schreibt Spork. Er weist auf einen Online-Fragebogen hin, den der Münchener Chronobiologe Till Roenneberg mit einer Arbeitsgruppe entwickelt hat, um die Verteilung von Chronotypen zu erheben. Aus diesen Daten ergebe sich, so Spork, „dass es etwa je ein Sechstel starke Eulen und Lerchen sowie zwei Drittel Durchschnittstypen gibt“. Als Langschläferin im Doppelsinn, nämlich als Eule mit erhöhtem Schlafbedarf, finde ich es erst mal beruhigend, dass zumindest mein Rhythmus gar nicht so absonderlich zu sein scheint.
Auf die Frage, ob die Gesellschaft von Lerchen beherrscht sei, sagt mir Spork im Gespräch: „Ja, es ist ja sogar nachgewiesen, dass Eulen im Schnitt schon mal schlechtere Schulnoten schreiben, obwohl sie natürlich nicht dümmer sind. Der andere Punkt ist tatsächlich, dass die ganze Gesellschaft, mit ihren strengen Arbeitszeiten und vor allem mit ihren größtenteils sehr frühen Arbeitszeiten, natürlich einen größeren Druck aufbaut für die Menschen, die eher eulenhaft sind.“Es ist also ein Teufelskreis: Durch die Strukturen, nach denen wir uns organisieren, sind Eulen weniger erfolgreich und sind demnach weniger wahrscheinlich in der Lage, die Strukturen mitzugestalten. Auf der anderen Seite nimmt Spork die Aussagen vieler Führungspersönlichkeiten auch nicht für bare Münze: „Wenn wir uns anschauen, wie viele Manager, Politiker und Medienvertreter, also Menschen, die bei uns Leistungsträger sind – wie viele davon immer behaupten, sie kommen mit nur fünf Stunden Schlaf aus, das sind natürlich viel mehr als zwei Prozent der Bevölkerung, es kann also gar nicht sein, dass die wirklich alle so wenig Schlaf brauchen.“
Über den Schlafmangel von Menschen, die wichtige Entscheidungen treffen, sollten wir uns Sorgen machen. Spork schreibt: „Nach siebzehn Stunden ohne Schlaf schneiden wir in Leistungstests ungefähr so schlecht ab wie mit einem halben Promille Alkohol im Blut.“ Aber auch die Unausgeschlafenheit der Restbevölkerung ist fatal. „Chronischer Schlafmangel lässt uns rascher altern. Er schwächt das Immunsystem. Er hindert Kinder am Wachsen. Er verschlechtert die Stimmung und erhöht die Gefahr für nahezu alle psychischen Leiden. Zudem erhöht er das Risiko für Stoffwechselstörungen aller Art, etwa Diabetes oder Herzinfarkt“, so Spork.
Letztes Refugium gegen die totale Individualisierung
Jonathan Crarys Bedenken gehen noch weiter. Eine Welt, in der alles rund um die Uhr läuft, produziere die Illusion von Unmittelbarkeit, von einer „Zeit ohne Warten“. Damit verlieren wir, sagt Crary, eine Fähigkeit, die für den demokratischen Prozess unerlässlich ist: „Die Geduld, anderen zuzuhören und zu warten, bis man selbst an der Reihe ist, zu sprechen.“ Außerdem sieht Crary den Schlaf als ein letztes Refugium gegen die totale Individualisierung von Bedürfnissen und Lebensformen. „Schlaf ist eine der letzten uns bleibenden Erfahrungen, bei der wir uns, ob wir es wissen oder nicht, in die Obhut anderer begeben.“ Vielleicht kommt unsere kollektive Weigerung, Schlaf als etwas Individuelles zu betrachten und unsere gesellschaftlichen Strukturen dementsprechend anzupassen, auch daher, dass der Schlaf eine gemeinsame menschliche Erfahrung ist.
Ein Projekt, das die Erkenntnisse der Schlafforschung umzusetzen versucht, ist die „Chronocity“, initiiert von dem Wirtschaftsförderer Michael Wieden und dem Chronobiologen Thomas Kantermann. Der Kurort Bad Kissingen ist seit 2013 der erste Ort, an dem das Diktat der uniformen Schlafenszeiten gebrochen werden soll – durch die Erfassung von Chronotypen bei Arbeitnehmern, Tageslichtlampen in Schulen und in Zukunft eventuell auch durch einen späteren Schulbeginn. Viele Hotels dort richten sich nach dem individuellen Chronotypen der Gäste – die ja sowieso im Urlaub sind. Insofern ist ein Kurort wohl der ideale Ort für ein solches Experiment, auf der anderen Seite stellt sich auch die Frage, ob er als Prototyp gelten kann.
Reagiert wird auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse also durchaus, es gibt mittlerweile unzählige Technologien und Gerätschaften, die uns helfen sollen, den allgemeinen Schlafmangel zu bekämpfen. Die Firma Napshell bietet „360° Entspannungsräume“ an, am Flughafen München gibt es Schlafkabinen, und die Selbstoptimierungsbewegung experimentiert schon lange mit Apps, die als persönliches Schlaflabor fungieren sollen. Das ähnelt ein wenig der Idee, Stress ließe sich mit Yoga bewältigen oder das Problem der ständigen Erreichbarkeit mit „Digital Detox“.
Die Datenerhebung über unser Schlafverhalten ist auch für Unternehmen interessant, nicht zuletzt in Hinblick auf kommerzielle Überwachung und Datenhandel. Es kann kein Zufall sein, dass Apple letztes Jahr einen Schlafforscher einstellte. Schließlich zeichnet sich mit der Apple Watch bereits ein Zugeständnis des Unternehmens an die Selbstoptimierungsjünger ab.
Dabei ist die Vorstellung vom „effizienten Schlaf“ ein Oxymoron, ebenso wie der Entspannungsimperativ widersinnig ist. Die neoliberale Tendenz, die Crary in der Stigmatisierung des Schlafs sieht, findet sich in unseren Bewältigungsstrategien wieder. Statt effizient schlafen zu wollen, sollten wir dem Schlaf vielleicht einfach mit mehr Wohlwollen begegnen und aufhören, immer sofort eine Pathologie zu vermuten. Manchmal sind Vielschläfer nämlich auch völlig gesund – nach meinem Besuch im Schlaflabor habe ich das jetzt sogar schriftlich.
Hier findest du ein Gespräch von Sebastian Esser mit Theresia Enzensberger über ihren Text „Die Diktatur der Lerchen“.
Aufmacherfoto: Theresia Enzensberger. Der Text wurde gesprochen von Juliane Neubauer (detektor.fm).