Den Zumutungen der Geschichte gewachsen
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Analyse: Den Zumutungen der Geschichte gewachsen

Wie antwortete Bundeskanzler Schröder auf den 11. September 2001, wie Bundeskanzlerin Merkel auf den 7. Januar 2015? Ein Vergleich, worauf die Reden einstimmen, worauf sie uns vorbereiten und welche Schlüsse wir aus ihnen ziehen können.

Profilbild von Analyse von Hans Hütt

https://www.youtube.com/watch?v=SGSSh8QSVLo

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der gestrige 11.September 2001 wird als ein schwarzer Tag für uns alle in die Geschichte eingehen. Noch heute sind wir fassungslos angesichts eines nie da gewesenen Terroranschlags auf das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält.
Der erste Absatz von Gerhard Schröders Regierungserklärung vom 12. September 2001

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir sind erschüttert und fassungslos über den Tod von 17 unschuldigen Menschen, die am Mittwoch der vergangenen Woche in Paris dem blanken Hass des internationalen Terrorismus zum Opfer gefallen sind. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer, den Verletzten und dem französischen Volk. Ich habe Präsident Hollande das tiefempfundene Beileid der Menschen in Deutschland übermittelt.
Der erste Absatz von Angela Merkels Regierungserklärung vom 15. Januar 2015

Zwei Redenanfänge in historischen Stunden der Bewährung. Gerhard Schröder bekundet, fassungslos zu sein, und greift sogleich zu einem der steilsten Zitate der deutschen Literaturgeschichte. Hierfür ließ er kurz seinen - 2004 so früh verstorbenen - orienterfahrenen Redenschreiber Reinhard Hesse von der Leine. Erst dann findet er Worte für das Mitgefühl und zurück zum Redestil des Advokaten.

Angela Merkel bleibt erst einmal bei den Tatsachen, den von ihnen ausgelösten Gefühlen und benutzt dafür in wenigen Zeilen mehrere Adjektive. Sie holt die Menschen da ab, wo sie sind. Was empfinden wir? Erschütterung, Mitgefühl, Beileid.

Der Unterschied zwischen den beiden Reden ist folgenreicher, als die bisherigen Kommentatoren wahrgenommen haben. Schröder antwortete auf eine Kriegserklärung an den Westen und seine Werte mit militärischen Mitteln. Merkel nimmt dagegen einen langen Anlauf von den Werten der westlichen Kultur, von den Erfahrungen des Kulturbruchs durch die Schoah, und findet am Ende zu einer verhaltenen Ansage, die den „Krieg gegen den Terror“ durch eine Neuauflage des Kulturkampfs ergänzt, vielleicht sogar ersetzt.

Deutschland und Frankreich verbindet eine besondere Freundschaft. Deutschland und Frankreich stehen in diesen schweren Tagen zusammen. Deutschland und Frankreich stehen in dem Bewusstsein zusammen, dass es hier, bei uns in Deutschland, keine Sicherheit gibt, wenn es dort, in Frankreich, keine Sicherheit gibt. Wir stehen in dem Bewusstsein zusammen, dass das deutsche und das französische Schicksal in unserer globalisierten Welt untrennbar miteinander verbunden sind. Wir stehen auch in dem Bewusstsein zusammen, dass der Terror nicht erst mit dem 11. September 2001 in die Welt gekommen ist und dass er auch nicht von heute auf morgen verschwinden wird.
Merkel 2015

Angela Merkel bezeugt die Kraft der deutsch-französischen Freundschaft - wann, wenn nicht jetzt!

Meine Damen und Herren, ich habe dem amerikanischen Präsidenten das tief empfundene Beileid des gesamten deutschen Volkes ausgesprochen. Ich habe ihm auch die uneingeschränkte– ich betone: die uneingeschränkte – Solidarität Deutschlands zugesichert. Ich bin sicher, unser aller Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Ihnen gilt unser Mitgefühl, unsere ganze Anteilnahme.
Schröder 2001

Dieser Absatz irrlichtert seither durch die Geschichte. In ihm finden Übereinstimmung und Dissenz, Mitgefühl und politische Winkelzüge des Advokaten auf irritierende Weise zusammen. Warum betonte Schröder, dass die Solidarität Deutschlands uneingeschränkt sei? Was wäre davon zu halten gewesen, wenn er bloß die Solidarität oder gar - wie später zu besichtigen war - eine eingeschränkte Solidarität beschworen hätte?

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Terror war nie weg. Terror hat immer existiert: in den Konzentrationslagern, in den Gulags, in den Morden an Walther Rathenau oder Matthias Erzberger, in den Morden an Martin Luther King, an Zoran Djindjic, an Hanns Martin Schleyer oder in den schrecklichen Morden des NSU. Diese Aufzählung ist beileibe nicht vollständig, schon gar nicht systematisch; darauf kommt es mir auch gar nicht an.
Merkel 2015

Das ist die folgenreichste Aussage in Merkels Rede. Wir könnten ihn als Fundament einer politischen Anthropologie verstehen. Sie macht den Schrecken heimisch. Seid darauf gefasst, macht euch nichts vor: Terror war nie weg. Das ist ein Satz nur in scheinbarer Nähe zu H.P. Kerkelings „Ich bin dann mal weg“-Satz, nur mit der Folge, dass nach Merkels Satz das Malwegsein gar nicht mehr geht. Wolkenkuckucksheim oder Pilgerpfad, diese Taten lassen niemanden unberührt. Das ist Merkels Ansage.

Gerhard Schröder hat die Anschläge vom 11. September als Kriegserklärung gegen die freie Welt bezeichnet und legitimiert damit die deutsche Teilnahme am wenig später beginnenden Afghanistankrieg .

Wir sind uns in der Bewertung einig, dass diese Terrorakte eine Kriegserklärung an die freie Welt bedeuten.
Schröder 2001

Angela Merkel geht einen mächtigen Schritt weiter: Sie holt den Schrecken näher ran. Mit welchem Ziel? Der „Krieg gegen den Terror“ kann es nicht sein. Findet der nicht weit da draußen statt, lässt uns hier unberührt?

Nun, zu Beginn des neuen Jahres, hat der Terror Paris erschüttert. Er richtete sich gegen drei Gruppen von Menschen: gegen die Journalisten von Charlie Hebdo, ermordet für ihre Zeichnungen, gegen die Polizisten, ermordet in Ausübung ihres Dienstes, gegen die Kunden eines koscheren Supermarkts, ermordet, weil sie Juden waren oder die Mörder davon ausgingen, dort Juden anzutreffen.
Merkel 2015

Merkel holt die Opfer aus ihrem Status als Märtyrer der Freiheit zurück auf die Agora der Zivilgesellschaft: die Verfechter der Meinungsfreiheit, die Schutzleute, die einkaufenden jüdischen Bürger. Als Mordopfer bezeugen und bekräftigen sie den Sinn und die Intention der Verfassungsprinzipien der Pressefreiheit, der Meinungsfreiheit, der Glaubensfreiheit, der Würde jedes Menschen.

Wir in Deutschland, wir in Europa haben wahrlich keinen Grund, mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen, zu leidvoll war das jahrhundertelange Blutvergießen auf unserem Kontinent, bis hin zum von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Schoah. Aber wir können nach all den Schrecken der Vergangenheit davon erzählen, dass wir in Europa endlich einen Umgang mit unserer Vielfalt gelernt haben, der aus dieser Vielfalt das meiste macht. Wir können davon erzählen, dass die Eigenschaft, die uns dazu befähigt hat, die Toleranz ist. Sie ist eine anspruchsvolle Tugend. Sie ist nicht mit Standpunktlosigkeit zu verwechseln, wie auch die Freiheit niemals mit Bindungslosigkeit zu verwechseln ist, sondern stets und für jeden mit Verantwortung verbunden ist. Das gilt für unser persönliches Leben wie für die Politik wie auch für die Medien; das gilt für alle.
Merkel 2015

In dieser Passage ihrer Rede (die übrigens mehr als dreimal so lang wie Schröders Rede von 2001 ist) greift Angela Merkel weit über die bei ihr üblichen eher drögen Register hinaus. Warum tut sie das? Warum verwandelt sie sich in dieser historischen Stunde in eine fast schon mythisch ausgreifende Erzählerin? Tatsächlich beschwört sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den einige ihrer Parteifreunde und konservative Konkurrenten dahinschwinden sehen, vielleicht sogar auch nach Kräften untergraben. Mit ihrer Erinnerung an den Marsch der Millionen in Paris, an die Mahnwachen vor dem Brandenburger Tor gebietet sie diesen politischen Tendenzen Einhalt und bereitet zugleich den Boden für die eigene politische Agenda.

Worin besteht diese Agenda: Kampf den Hasspredigern und Gewalttätern, Einschränkung der Freizügigkeit für Terrorunterstützer, Strafbarkeit der Ausreise in Konfliktgebiete, Kampf dem illegalen Waffenhandel, Befestigung der EU-Außengrenzen, Ausbau der Sicherheitsbehörden, Einführung der Vorratsdatenspeicherung im Rahmen der Vorgaben durch den Europäischen Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht, Ausbau der internationalen Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsdiensten, Unterstützung des Kampfs gegen den Islamischen Staat durch Ausrüstung und Ausbildung, schließlich auch Ausbau der politischen Bildung. Nur: Die meisten Sachen sind erstens alte Hüte und haben zweitens nicht dazu beigetragen, die Anschläge in Paris zu verhindern.

Mit Verzweiflung muss man zur Kenntnis nehmen, dass weder die „Charlie-Hebdo“-Leute noch ihre Leibwächter das tok tok der Schüsse vor ihrem Haus verstanden haben. Hätten sie doch einen Panic Room eingebaut! Nein, Frau Merkel verbirgt und offenbart in der Aufzählung dieser altbekannten Punkte einen Strategiewechsel. Mit den bisherigen Mitteln der Konfliktbekämpfung - krachbummpeng - ist es nicht getan. Wohin die Reise geht, illustriert der folgende Abschnitt.

Die Menschen fragen mich, welcher Islam gemeint ist, wenn ich diesen Gedanken (“der Islam gehört zu Deutschland_”)_ zitiere. Sie wollen wissen, warum Terroristen den Wert eines Menschenlebens so gering schätzen und ihre Untaten stets mit ihrem Glauben verbinden. Sie fragen, wie man dem wieder und wieder gehörten Satz noch folgen kann, dass Mörder, die sich für ihre Taten auf den Islam berufen, nichts mit dem Islam zu tun haben sollen. Ich sage ausdrücklich: Das sind berechtigte Fragen. Ich halte eine Klärung dieser Fragen durch die Geistlichkeit des Islam für wichtig, und ich halte sie für dringlich. Ihr kann nicht länger ausgewichen werden.
Merkel 2015

Das ist das Schmerzzentrum von Angela Merkels Regierungserklärung, in der Regel ist das eine Textsorte, die den Begriff des Schmerzes nicht kennt. Ihr Dreisatz lautet: Der Schrecken war nie weg, ihr habts vielleicht nur nicht gemerkt. Mit den Mitteln der offenen Gesellschaft (einschließlich der Geheimdienste) stellen wir uns dem Schrecken.

Wenn das so nicht gelingt, macht euch auf den nächsten Kulturkampf gefasst. Er könnte weitaus unerfreulicher werden, als wir es uns wünschen könnten.

Die ersten Reaktionen bemängelten den Rückgriff auf das Instrument der Vorratsdatenspeicherung. Tatsächlich greift Merkel in ihrem Strategiewechsel auf andere Vorräte zurück, sozusagen die eisernen Reserven der westlichen politischen Kultur.

Muslimische Theologen, vorneweg die wahhabitisch ausgebildeten Imame, können sich nicht auf die Religionsfreiheit berufen, wenn ihre Predigten und Fatwas Hass säen. Das ist der Strategiewechsel. Dem dient die Einbettung von Merkels Rede in die Werte unserer politischen Kultur. Angela Merkel hat PEGIDA besser verstanden als die Schreihälse in Dresden. Sie macht ein Angebot der Verständigung. Das richtet sich an die Muslime ebenso wie an deutsche Hassprediger.