Michael Graeter war während seiner Glanzzeit ein bisschen wie „Bild“ – keiner hat ihn gelesen, aber viele wussten, was er geschrieben hat. In der Kultserie von Helmut Dietl, Kir Royal, war er das Vorbild für die Hauptfigur: den rast- und skrupellosen Wer-mit-wem-Reporter „Baby Schimmerlos“.
Irgendwann begann dann Graeters Abstieg. Die Blätter, für die er schrieb, wurden kleiner. Mehrere Lokale, die er betrieb, waren geschäftliche Misserfolge. Schließlich landete er 2008 wegen nicht gezahlter Sozialbeiträge für ein knappes Jahr im Gefängnis.
Doch dem Motto folgend, dass nur der wirklich gescheitert ist, der sich das Scheitern eingesteht, macht Graeter einfach weiter. Er heuert wieder beim Boulevard an, betreibt ein Blog, schaut zu den Events der vorgeblich Wichtigen und Schönen, kurz – Graeter macht, was er am besten kann: Dabei sein, drüber schreiben, keine Schwäche eingestehen und ein eher schlichtes Weltbild propagieren, was vielleicht berufsbedingt ist.
Angeblich hat Michael Graeter 1.600 Telefonnummern im Handy gespeichert, an seine eigene komme ich nicht so leicht. Die „Abendzeitung“ in München, für die er zuletzt geschrieben hat, ist nicht sonderlich daran interessiert, einen Kontakt herzustellen. Aber schließlich klappt es über seinen Verleger doch noch. Graeter ruft an. Er würde am liebsten gleich loslegen mit dem Interview, aber ich stehe (un)passenderweise in der Unterwäscheabteilung und habe keine Fragen vorbereitet. Wir vereinbaren, dass ich ihn irgendwann anrufen soll, gerne auch spät am Abend, das ist angenehm.
Die nächsten zwei Wochen verpassen wir uns erst mal konsequent. Wenn ich anrufe, ist er im Zug. Wenn er dann zurückruft, bin ich im Funkloch. Graeter scheint wild durchs Land zu fahren. „Ich komme gerade aus Hamburg“, „Bin jetzt in München“, „Muss nach Berlin, furchtbare Stadt“. An einem Freitagnachmittag klappt es dann doch, Graeter steht vor einem Lokal in München, im Hintergrund hört man den Lärm der Straße.
Bisher hat er in fast jedem seiner Interviews unwidersprochen die These aufgestellt, dass Sex und Geld die Säulen der Erde seien und diese These durch passende Klatschgeschichten zu belegen versucht. Aber weit mehr als die Frage, wer wann mit wem schlief, beschäftigt mich, ob er eine Brotzeitdose besitzt, warum die Leute überhaupt berühmt sein wollen und wieso schöne Putzfrauen eine Abnormität sind.
Herr Graeter, warum wollen die Leute überhaupt berühmt sein?
Das ist einfach das Bedürfnis des Menschen, dass er aus der grauen Suppe der Masse rauskrabeln kann, damit er ein angenehmeres Leben hat! Wenn einer diesen Trieb nicht hat, hat er sowieso einen leichten Webfehler.
Ach ja?
Ja, wer von eins bis drei zählen kann, hat doch dieses Streben, dass er mal was werden will in seinem Leben. Außer dem Sinn des Lebens, der Liebe, muss es ja auch noch weitere Ziele geben.
Moment, Sie haben in Interviews durchweg und kategorisch behauptet, der Sinn des Lebens seien Sex und Geld, nicht Liebe.
Der Sinn des Lebens ist die Liebe, das schon. Aber diese Welt besteht aus den zwei Säulen Sex und Geld, das habe ich auch gesagt. Sie können letztlich alles runterdividieren, und am Ende kommen wir immer an den schnöden Punkt, dass nur Sex und Geld bleiben. Mehr ist leider nicht drin.
Und wenn man kein Geld und keinen Sex hat?
Dann kann man sich schon mal auf den Friedhof legen.
Was ist mit all den Nonnen, den Asketen, den weltabgewandten Denkern?
Also, da muss ich sagen, das ist das Wartezimmer des Friedhofs.
Und die Liebe?
Die Liebe ist ein Glücksfall, wie ein Sechser im Lotto. Wenn ich in meinem Leben jemanden finde, den ich riechen kann, dann ist das eine Sensation. Das hatte ich, und ich kann die Frau bis zur Stunde riechen, das sagt alles, da braucht man gar nichts anderes dazu erklären. Aber ich glaube, die meisten Menschen werden die wirkliche Liebe nie erfahren. Man redet ständig davon, rennt ihr hinterher, aber die meisten finden sie nicht.
Religion könnte auch eine Säule sein, wenn Geld, Sex und Liebe ausbleiben.
Ich glaube an Gott, aber nicht an seine selbsternannten Seelen-Manager. Das fängt ja schon damit an, dass der Klingelbeutel während der heiligen Messe rumgereicht wird, da wird es wieder deutlich: Es geht um Geld.
Im Mittelalter wären Sie sicher ein abtrünniger Mönch gewesen.
Na, na, na, na! Da müsste ich ja schwul sein und den ganzen Tag verlogen sein.
Die Promis, über die Sie berichten, sind auch verlogen.
Aber nicht so permanent.
Mussten Sie in Ihrem Job mal weinen?
Weinen?
Ja.
Nein, ich habe nur geweint, als meine Mama starb und mein Vater, da habe ich festgestellt, dass auch ich weinen kann, als die Totenglocke anfing zu schlagen. Aber in meinem Berufsleben nicht.
Was müsste passieren, dass Sie sagen: Jetzt bin ich wirklich am Arsch?
(überlegt) Gar nichts, ich habe die Art der Welt und des Lebens schon früh durchschaut, und ich muss ehrlich sagen, wenn mich keine bösartige Krankheit überfällt, bin ich ein gut bestrahltes Unkraut.
Was ist denn die Art der Welt?
Schauen Sie sich doch die Menschen an, das sieht man jetzt beim Jahreswechsel sehr schön. Da wünscht man einander heuchelnd ein gutes neues Jahr, aber wenn man nicht mehr auf der Dorfstraße steht, dann ist man vergessen, und die ersten verbalen vorgeprägten Nachrufe kommen den Leuten über die Lippen. Das muss man halt sehen, und wenn man dann wieder da ist, dann beeilt man sich, das alles zu reparieren, weil man ja nicht mehr wichtig war. So operiert die Menschheit, das muss man erkennen. Mich kann da nichts mehr erschüttern.
Sie halten von Menschen an sich nicht sonderlich viel, richtig?
Tja, also, es gibt schon solche, wo ich ein bisschen meine Ressentiments habe.
Bei welchen Menschen?
Ach, so ganz widerliche, oberflächliche Menschen, diese Mehrscheiner, die durch die Stadt stauben, dagegen habe ich schon was, das tut schon sehr weh.
Was für Menschen denn?
Ich erspare Ihnen Namen und damit juristischen Ärger. Wenn in abendlichen Stunden so ein Sonntagsgesicht durch die Partys getragen wird, wenn die Weltmeisterschaft der Schaumschläger ausgetragen wird, da gefallen mir herzhafte Personen viel besser.
Herzhafte Personen?
Eine urige Marktfrau, einen hinlangenden Bauern, besondere Menschen, die was leisten, vor denen hab ich Achtung, aber nicht vor denen, die nur was vorgaukeln, wäh!
Sie könnten in Ihrem Testament einen besonderen Brief beilegen, in dem Sie den furchtbaren Menschen ihren Ekel entgegen schreien, da kann Sie dann keiner mehr juristisch belangen.
So weit bin ich noch nicht, so eine Mühe mache ich mir doch nicht, da habe ich gar keine Zeit, ich ignoriere die nicht mal.
Sie hätten halt auch nichts mehr davon.
Auch das, ich lieg dann einfach tief in der Grube.
Fragen Sie sich manchmal, ob Ihr Weltbild der Realität gerecht wird?
Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.
Wie würden Sie Ihre Putzfrau beschreiben?
Meine Putzfrau?
Sie meinten einmal, dass Ihre Putzfrau mehr Charisma hat als viele heutige Moderatoren.
Ich habe seit zwanzig Jahren keine Putzfrau mehr, ich bin Single und allein.
Hatte Ihre Putzfrau wirklich Charisma?
Ja, die war so eine ganz herzensgute und zupackende Frau.
Ein eher robuster Typ?
Sie war nicht schön, sonst wäre sie in einen anderen Berufszweig gegangen.
Das ist eben die Ungerechtigkeit.
Wieso?
Sie sagen ja selbst, dass eine schöne Putzfrau eine Abnormität wäre.
Naja, sie würde, wenn sie schön wäre, eben ein anderes Gewerbe ausüben.
Sprechen Sie es doch aus, Sie meinen eine schöne Frau würde eher in die Prostitution gehen als zu putzen.
Wo fängt Prostitution an? (lacht)
Sie lachen, dabei ist es brutal.
Ja, Sie spielen auf eine Art Gerechtigkeit an. Alle sollen gleich reich und schön und klug sein. Aber es gibt keine Gerechtigkeit. Es muss immer eine Ungerechtigkeit geben, sonst funktioniert die Menschheit nicht. Die Natur macht es ja so. Es gibt schöne Tiere und hässliche Tiere, schöne Menschen und hässliche Menschen, reiche und arme Menschen. Es gibt die wenigen, die alles haben, und die vielen, die wenig haben. Die einen haben halt Glück gehabt und die anderen Pech, von Gerechtigkeit brauchen wir nicht zu sprechen. Aber beim Sterben sind wir dann alle gleich,bei der Geburt und beim Tod sind wir alle gleich.
Das nutzt uns zwischendrin aber auch nichts.
Zwischendrin muss man halt schauen, dass man das Leben eben so gestaltet, dass man die Endorphine gut zum Laufen bringt.
Frauen jagen, meinen Sie.
Das ist gesund!
Vielleicht.
Das ist gesund, da sind alle Glieder mit im Spiel.
Stimmt es, dass Sie völlig verarmt sind?
Ich bin nicht verarmt, ich bin ein normaler Rentner. Wer schreibt denn so was?
In einem „Stern“-Interview mit Ihnen stand das. Man hätte fast meinen können, der Journalist mag Sie nicht.
Ach, das ist doch eine ganz alte Nummer, das ist doch zehn Jahre her! Ich bin nicht reich, aber verarmt noch lange nicht.
Es wäre ja keine Schande, viele Kreative sind arm. „Baby Schimmerlos“ auf dem Arbeitsamt.
Das würde ich nie machen! Da würde ich eher unterm Stachus (U-Bahn-Station in München) putzen oder Taxi fahren. Das wird nie passieren, das überlasse ich anderen Menschen. Ich würde halt was arbeiten, dann habe ich doch wieder Pulver, da bin ich doch ein ganz geschmeidiger Taxifahrer, der den Frauen den Koffer bis unters Dach trägt, da habe ich doch wieder Kohle! Ich bin mal in ein Taxi gestiegen, und der Fahrer war der ehemalige Chefredakteur der „Bunten“, der wurde rausgeworfen, und dann fuhr er halt Taxi. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis, weil ich gesehen habe, dass man nicht an einer Brücke sitzen und den Hut vor sich hinlegen muss.
Was hätten Sie beruflich gemacht, wenn Sie kein Journalist geworden wären?
Dann wäre ich Strafverteidiger geworden, das hätte meine Mutter gern gesehen, das hätte mir Spaß gemacht.
Das ist doch sehr trocken, die ganzen Akten und Gesetze. Sie denken sicher nur an die publikumswirksamen Plädoyers vor Gericht.
Nein, nein, ich war mal in Paris in einer Kanzlei bei einem Staranwalt. Der sprang auch auf den Tisch und hat dem Richter was vorgeweint, dass sein Mandant unschuldig ist. Das muss also gar nicht so trocken sein, das kann schon ganz witzig sein. Da war meine Mutter enttäuscht, dass ich das nicht gemacht habe.
War Ihre Mutter am Ende trotzdem stolz auf Sie, als erfolgreicher Journalist?
Sie hat nie was von mir gelesen. Meine Frau und meine Mutter haben nie eine meiner Geschichten gelesen.
Wollten Sie kein Lob?
Nein, wir haben über andere Dinge gesprochen.
Statt Anwalt zu werden, saßen Sie mal im Gefängnis.
Ja, da war ich auch. Da kommt man hin, wenn man eine Firma besitzt und der Geschäftsführer die Sozialversicherungsbeiträge für die Angestellten nicht abführt. Dann wird man auf Bewährung verurteilt, und wenn man dann einmal zu schnell fährt, muss man in Bayern ins Gefängnis einrücken.
In Hitlers Zelle, in Landsberg am Lech.
Das haben die mir zumindest gesagt. Der hatte ja zwei Zellen, dann konnte er mit der Hilfe von Rudolf Hess an seinem Buch schreiben.
Haben Sie in der Zelle auch ein Buch geschrieben?
Ja, meine Memoiren.
Und das ganze ohne Hilfe.
Ich habe ja nichts anderes gelernt als Schreiben.
Wie sieht ein Tag im Gefängnis aus?
Sollen wir das jetzt wirklich nochmal aufwärmen?
Ja.
Frühstück 6 Uhr, Mittag 10 Uhr, Abendessen 14 Uhr. Abendessen Fisch oder Fleisch, in der Dose, Apfel und Brot. Nichts Spannendes. Schwarze Momente für einen bayerischen Gaumen. Ich wünsch es meinem ärgsten Feind nicht. Es war ein gestohlenes Jahr. Ich bin froh, wenn ich nicht mehr dran denken muss. Man hat mich ja jetzt mehrfach zum Fall Hoeneß interviewen wollen und ich habe es abgelehnt. Aber wissen Sie, das ist eine grässliche Geschichte. Wenn am Abend die Tür hinter dir zufällt, das ist so was Jämmerliches, so was Würdeloses, daran will ich nicht mehr erinnert werden. Es ist das Hässlichste in meinem Leben gewesen. Ich will darüber eigentlich auch gar nicht mehr sprechen, ich bin froh, dass ich das weggesteckt habe.
Hatten Sie schon mal eine Brotzeitdose?
Eine Brotzeitdose?
Ja.
Was ist denn das?
Wie der Name schon sagt, eine Dose, in die man seine Brotzeit legt.
(lacht) Nein, nein, nein, nein, nein! Wo findet denn so was statt?
Es gibt respektable Personen, die so was besitzen und auch benutzen.
Ja?
Peter Sloterdijk zum Beispiel.
Hör ich heute zum ersten Mal. Meine Mutter hat mir vielleicht mal ein Wurstbrot mitgegeben, aber doch nicht in einer Dose. Eingewickelt vielleicht, ja, in so einem Silberpapier, oder im Schulranzen, aber dass ich da eine Brotzeitdose gehabt hätte, nein!
Was unterscheidet Machos von Mimosen?
Was heißt denn da Macho! Das sind doch Worte von unterbelichteten Frauen, die wahrscheinlich gar nicht in dem Club sind bei dem reizvollen Spiel zwischen Mann und Frau. Die müssen dann verächtlich Machos sagen!
War Franz Josef Strauß ein Frauenversteher?
Eher ein Frauenverarbeiter. Es ist wirklich schade, dass der nicht mehr da ist, der ist eine Kanone gewesen.
Sie sehnen sich nach den 80ern zurück, die Münchner Bussi-Bussi Gesellschaft, die behäbigen, aber zugleich dekadenten Jahre der Kohl-Ära.
Nein, nein, ich schau nach vorne.
Das sagen Sie doch nur so.
Nein, nein.
Sie sitzen sicher manchmal auf dem Sofa, schauen Kir Royal an und kriegen feuchte Augen.
Nein, nein, nein, es ist doch alles das gleiche geblieben! Heute turnen Fußball-Stars rum, die Filmproduzenten verlieben sich in Escort-Mädchen, alles das gleiche, nur mit neuer Besetzung.
Welche Ehe haben Sie in Ihrer Funktion als Klatschreporter gerne zerstört.
Ich war kein Zerstörer, ich habe nur wiedergegeben, was sich abgespielt hat.
Ein Bettberichterstatter.
Sozusagen, das ist mein Job. Sonst muss ich Schlafwagenschaffner werden. In meinem Job kommt das Grobe vor, da kommt die Romantik vor, da kommt notgedrungen auch der Tod vor.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein, aber der Tod ist eine merkwürdige Sache, dass man da am Ende so weggeworfen wird, wie ein gebrauchtes Kleenex-Tuch.
Was ist Ihnen eigentlich peinlich?
Peinlich? Hm, peinlich! (überlegt) Da müsste mir was Peinliches passieren, mir fällt jetzt kein Beispiel ein.
Sie psychologisieren nicht sehr gern, oder?
Das ist köstlich, was Sie mich da fragen.
Haben Sie schon mal an Selbstmord gedacht?
Nein.
Warum nicht?
Ich will meiner Familie so was nicht antun. Ich könnte mir nur einen Selbstmord vorstellen, bei dem ich zu den Eisbären gehe und am Ende nicht mehr da bin. Dann hinterlasse ich keine so erbärmlichen Situationen, wie wenn einer vom Dach springt oder am Baum still baumelt oder im Blutbad aufgefunden wird, das ist doch grässlich.
Das wäre eine schöne Attraktion für den Zoo. Dieser Eisbär hat Michael Graeter gegessen.
Ich mag Zoos nicht. Das sind Gefängnisse für Tiere. Ich würde zu den Eisbären nach Alaska gehen.
Sind Sie gerne Michael Graeter?
Ich bin froh, ich danke dem Herrgott, dass er statt mir keinen Schlimmeren in die Welt gestellt hat.
Kommentar zu den Bildern: Interessant an den Bildern die Graeter zeigen, ist sein Blick. Er wirkt immer aufgeregt, sprungbereit, als würde er dem Betrachter und den Menschen auf dem Bild sagen: Das ist total spannend hier gerade, pass auf, gleich kommt der Kamerablitz! Möglicherweise hat er das so ähnlich auch öfter gesagt.
Aufmacherbild aus dem Jahr 2008 von Mike Schmalz