„Wir sind immer die Übeltäter“ - Muslime in Frankreich
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„Wir sind immer die Übeltäter“ - Muslime in Frankreich

Frankreich diskutiert über den Islam. Die Debatte, die seit Tagen die Medien beherrscht, zeigt nicht zuletzt, dass es eine tiefe Kluft in der Gesellschaft gibt. Eine Kluft, die vor allem die Araber und Muslime selbst spüren.

Profilbild von Victoria Schneider

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Man könnte fast denken, es wäre nie etwas passiert in Paris. Hier am Fuße von Montmartre. An der Ecke neben dem U-Bahnaufgang verkauft ein Senegalese Maniok und Süßkartoffeln, gegenüber ein Kameruner unreife Mangos und Bananen. Daneben Geschäfte für Haarverlängerungen und Hautpflegeprodukte aus der Elfenbeinküste, Handyshops.

„Je suis Charlie“, den Slogan, der seit dem Attenat auf „Charlie Hebdo“ im Zentrum der Stadt überall an Litfasssäulen und Schaufenstern zu lesen ist, sieht man hier nirgends. In Château Rouge, dem Viertel im Pariser Norden, das wegen seines hohen Ausländeranteils von manchen als „Little Africa“ bezeichnet wird, gehen die Menschen ihrem normalen Leben nach.

Zwischen all dem Gewusel sieht man vor allem: Polizei. An einer engen Kreuzung im Herzen des Viertels durchsuchen sechs Polizisten und eine Polizistin einen älteren dunkelhäutigen Mann. Auf dem Boden kniend, enthüllt er langsam den Inhalt seiner beiden Rollkoffer. Kleidungsstücke.

„He du, alles gut?“ Ich stehe vor einer Metzgerei, über der auf einem roten Banner جزار بلادي حلال steht, Metzgerei Biladi. Hinter der Theke, über der sich Kuhfüße und Schafsmägen stapeln, guckt mich Yassin, der Metzger, an. „Polizei ist ganz normal hier. Die filzen jeden Tag, meistens die Prostituierten, die sich hier rumtreiben.“ Yassin kommt aus Tunesien. Er will wissen, was ich in diesem „unlebenswerten Viertel“, wie er es nennt, verloren habe. „Die ganze Welt redet von den Muslimen. Alle Reportagen handeln davon“, sagt er, als er hört, dass ich Journalistin bin. „Hier passiert ein Diebstahl – es waren die Muslime, oder die Araber. Dort passiert ein Mord – die Araber waren es. Wir sind immer die Übeltäter.“

Wir sehen zu, wie die Polizisten den älteren Herrn gehenlassen und sich einer Gruppe Frauen nähern. Der Mann packt seine Koffer und rollt wenig später an uns vorbei. „Das war nicht korrekt, was die von ‘Charlie Hebdo’ gemacht haben“, sagt Yassin. „Sie haben unseren Propheten beleidigt, das macht man nicht.“ Mohammed habe eine Bedeutung für Muslime, die über die Liebe zu Vater oder Mutter hinausgehe. Karikaturen des Propheten seien schändlich. Deshalb ist Yassin auch nicht zum großen Marsch der Pariser am Wochenende gegangen. Er fühlte sich nicht angesprochen. Das habe aber nichts mit den Ereignissen der vergangenen Woche zu tun, mit den Attentaten. „Das ist ohne Frage scheußlich“, sagt er. „Ein Akt von Fanatikern.“

Doch die Diskussionen über den wahren Islam, die dadurch losgetreten wurden, sorgen den Tunesier. „Sie sind es, die einen Religionskrieg ausrufen. Mit solchen Aktionen kreieren sie die Stimmung, dass ein Kampf gegen den Islam geführt werden muss“, sagt er. Mit „sie“ ist der Westen gemeint, die Medien, die französische Regierung - die Anderen. Zwei Kunden betreten den Laden. Yassin entschuldigt sich, muss zurück zur Arbeit. Zeit für ein ausführlicheres Gespräch habe er erst am Sonntag, sagt er. Vorher arbeite er jeden Tag von 7 bis 20 Uhr. Doch er gibt mir die Telefonnummer seines Freundes Walid.

"Wir alle sind Charlie"

“Wir alle sind Charlie” Foto: Katharina Schneider


Die erste Ausgabe von „Charlie Hebdo“ nach dem Attentat, in Millionenauflage produziert, zeigt auf dem Titel erneut eine Mohammed-Karikatur. Ein klares Statement der Redaktion, dass sie nach dem schrecklichen Anschlag dort weitermacht, wo sie aufgehört hat. Doch es gibt auch einen anderen Blick darauf.

Walid steht in seinem Handyladen auf der Avenue du Clichy, nur wenige Gehminuten vom Moulin Rouge entfernt. Weder er noch sein tunesischer Bruder, der aus dem Nachbargeschäft zu Besuch ist, können verstehen, warum die Zeitung das macht. „Ja, für die Europäer ist es vielleicht lustig, Jesus zu zeichnen und sich über ihn lustig zu machen“, sagt Walid. „Aber für Muslime geht das nicht.“

Er müsse das hinnehmen, meint er. „On n’ est pas chez nous“ - er sei schließlich nicht bei sich zu Hause. Walid ist zwar Franzose. Doch seine Eltern kommen aus Tunesien.

Statistisch ist das alles einfach zu erklären. Frankreich hat eine lange und komplizierte Einwanderungsgeschichte, schon immer war das Land ein Anlaufpunkt für Migranten. Lange Zeit waren das Italiener, Portugiesen, Spanier - Europäer eben. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die geographische Herkunft der Einwanderer jedoch radikal verändert. Stellten bis in die 60er Jahre Italiener mit knapp einem Drittel die größte Gruppe unter den Einwanderern, kamen nach dem Zweiten Weltkrieg vermehrt Menschen aus Algerien, seit Mitte der 70er dann auch aus Marokko nach Europa. Migration aus den Protektoraten und Kolonien war mit wenig Aufwand oder Visa-Schwierigkeiten verbunden.

Inzwischen machen alle Nordafrikaner zusammen fast die Hälfte der im Ausland geborenen Einwanderer aus, rund 2,3 von 5,3 Millionen, die im Laufe ihres Lebens Franzosen wurden.

Dazu gehören auch Walids Eltern. Sie sind in der Statistik unter den 235.000 Tunesiern erfasst, die in Tunesien geboren sind, dann nach Frankreich auswanderten und dort die Staatsbürgerschaft annahmen. Für Menschen wie Walid gibt es jedoch keine spezifischere Kategorie, als einer von 10 Millionen Franzosen zu sein, die mindestens einen ausländischen Elternteil haben.

Er ist in Frankreich geboren, hat mit Geburt die französische Staatsbürgerschaft. Rein statistisch ist er Franzose.

Doch Zahlen kennen keine Emotionen.

„Als Muslim respektiere ich alle anderen Religionen. Wenn die sich über den Propheten lustigmachen, dann finde ich das nicht schön, aber ich akzeptiere es. On n’ est pas chez nous.“ Walid sagt, sich aufregen würde ihm nichts bringen, sein Leben nur schwieriger machen. „Aber es gibt andere, die sich auf sowas konzentrieren, die sich wahnsinnig provoziert fühlen.“

Das fange jedoch in der Schule an. Er sehe es in St. Denis, die berüchtigte Banlieue, in der er wohnt. „In Tunesien lernen wir den Islam in der Schule, im Lehrplan lernen wir die Werte und den Respekt für die Religion. Das findet hier nicht statt, hier suchen die Jugendlichen auf der Straße nach dem Islam.“ Das laizistische Schulsystem Frankreichs birgt Gefahren, sagt Walid. Denn gerade Jugendliche auf der Suche nach ihrer Identität könnten außerhalb der Schule für radikale Ideen instrumentalisiert werden. Gerade in den Banlieues, also in den Randzonen der Städte, in denen die Sozialstruktur schwierig sei.

„Die Täter waren Franzosen“, sagt er dann. Das Problem beginne hier. Die Brüder Kouachi seien in dieser multikulturellen Gesellschaft zur Schule gegangen. Doch die habe es versäumt, die jungen Männer zu integrieren.

"Die Täter waren Franzosen"

“Die Täter waren Franzosen” Foto: Victoria Schneider


Integration. Habib, ein Buchhändler, kann über dieses Wort nur noch müde lächeln. Viermal sei er auf dem Weg von der U-Bahn zum Café kontrolliert worden. Und das in Tagen, in denen die Grande Nation Einigkeit proklamiert. Er habe sich nach dem Attentat vergangene Woche den Bart rasiert, sagt er scherzend. Vorsichtshalber. „Das warst aber nicht du, oder?“, haben seine Kunden in den Tagen nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ gefragt. „Sie sagten das so, als wäre es ein Witz. Aber da schwingt etwas anderes mit.“

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Habib legt seine blaue Mütze auf dem gefliesten Holztisch ab, bettet seine randlose Brille darauf. Das, was sich derzeit im Land abspielt, ist in seinen Augen besorgniserregend. „Das war eine Massenmobilisierung“, sagt er über den Marsch vom vergangenen Sonntag. „Als würden sie das Volk auf etwas vorbereiten.“ Ein Volk, dem er sich nicht zugehörig fühlt. Ein Immigrantenkind, dessen Eltern in den 70er Jahren aus Marokko nach Frankreich kamen, nach Nanterre, einem Vorort im Pariser Westen. Habib hat einen französischen Pass, sein Französisch ist makellos.

Er erzählt. Von seiner Kindheit, in der er mehr vom Christentum wusste, als vom Koran, weil seine Eltern ihm Religion nicht beigebracht haben. Von seiner Schulzeit in der Cité, die trotz der besten Noten in Biologie und Mathematik nicht in einem Platz im Wissenschaftszweig des Lycées mündete. Dass er Lehrer werden musste, da das System ihm den Traum verwehrt habe, Wissenschaftler zu werden. Und davon, wie sein Name schon immer alles schwieriger gemacht hat. Das wird mit den Ereignissen der vergangenen Woche nicht besser.

Das Problem der Diskriminierung besteht in Frankreich nicht erst seit der vergangenen Woche. Mehr als ein Viertel der Einwanderer Frankreichs, die in der Region Ile de France wohnen, gaben 2012 in einer Studie des französischen Amts für Statistik an, mindestens einmal in den vorhergehenden fünf Jahren Opfer von Diskriminierung geworden zu sein. „Das Gefühl, nicht gleich berechtigt zu sein, herrscht nicht nur unter den im Ausland geborenen Einwanderern, sondern auch unter den in Frankreich geborenen Nachkommen von Einwanderern“, heißt es in dem Bericht.

2010 schrieb die “Haute Autorité de Lutte contre les Discriminations et pour l’Egalité” (die franözsische hohe Autorität zur Bekämpfung von Diskriminierungen und für die Gleichheit), dass in Umfragen die Herkunft der meistgenannte Grund für Diskriminierung in Frankreich sei. Menschen aus Subsahara-Afrika fühlen sich dabei am häufigsten ungleich behandelt (39 Prozent), gefolgt von Algeriern, Marokkanern und Tunesiern, von denen jeweils jeder Dritte angab, aufgrund von Herkunft, Nationalität oder Hautfarbe diskriminiert worden zu sein.

Hört man Habib so zu, scheint sich daran wenig geändert zu haben. Der 41-Jährige verkauft Bücher. Als Araber oder Muslim, oder vielleicht auch wegen beidem, stehe er stets unter Generalverdacht, werde immer doppelt kontrolliert, sei es von Ämtern, von der Polizei, von seinen Lieferanten, sagt er. „Es macht schon Angst, wenn man sich überlegt, wie es jetzt weitergeht.“ Die Rechten um Marine le Pen gewinnen schon seit Längerem an Zulauf. Habib ist davon überzeugt, dass die Bewegung bei den Wahlen 2017 das Rennen macht.

Bei Reisen nach Nordafrika könne er nicht verbergen, dass er maghrebinische Wurzeln habe. „Sie halten mich für den reichen Mitteleuropäer und wissen nicht, dass ich ein Jahr arbeiten muss, um mir einen Urlaub in Marokko zu leisten.“ Er fühle sich, als hänge er zwischen den Stühlen. „Dabei wünschten wir uns früher nichts mehr, als Teil dieses Frankreichs zu sein“, sagt Habib. „Wir träumten davon, Gwendolyne zu heiraten oder Christine.“ Doch nach 41 Jahren hat er diesen Traum aufgegeben. Er hat sich entschieden, die Wut, die auch er einst fühlte, in Fleiß umzuwandeln.

Nicht, wie andere, in Gewalt.


Aufmacherbild von Victoria Schneider

Text gesprochen von Alexander Hertel von detektor.fm