„Charlie?“– „Ich hätte gerne einmal den neuen ‘Charlie Hebdo’, bitte.“ – „‘Charlie Hebdo’? Gibt’s nicht mehr!“
Der Mann hinter dem Zeitungsstand schüttelt ohne Unterlass den Kopf an diesem Mittwochmorgen. Gut eingepackt in einer beigen Winterjacke, mit Mütze und Handschuhen steht er in seinem Kiosk auf dem Boulevard de la Chapelle. Er kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus.
„Kann ich im Voraus zahlen und später wiederkommen?“
„Seit 6 Uhr morgens bin ich auf der Suche!“
„Lohnt es sich, zu warten?“
Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, da ist Paris schon in Bewegung. Mit gesenkten Blicken hetzen die Menschen zu Bus oder zur U-Bahn, in schnellen Schritten rennen sie, gucken links und rechts, dann bei Rot über die Zebrastreifen, die Treppen zur U-Bahn runter. Es ist viel los, und doch ist es bis auf die Geräusche des Verkehrs ganz still. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt.
Nur vor den Zeitungsständen ist Leben. Wenn sich die Menschen dem Zeitungskiosk nähern, heben sie die Köpfe, scannen die Auslage nach dem grünen Titelblatt – und finden es nicht. Sie alle suchen das Gleiche: „Charlie Hebdo“. Die Ausgabe nach dem Attentat; das Heft der Überlebenden, wie die Redakteure sagten.
In den Schlangen vor den kleinen Straßenzeitungsläden finden plötzlich Unterhaltungen statt. Es wird gelacht und miteinander gerätselt, woher man nun die begehrte Ausgabe bekommt. Noch heute. Doch genau so schnell, wie die Gruppen beim Ansturm auf den Kiosk zusammenkommen, lösen sie sich auch wieder auf. Jeder hetzt in eine andere Richtung. Mit gesenktem Kopf und mit den Gedanken irgendwo anders.
„Gar nicht bekommen“
Eine Frau nähert sich dem Schild, sie setzt ihre Brille auf und studiert, was darauf steht. Sie blickt auf: „Ausverkauft? Oder gar nicht bekommen?“
„Gar nicht bekommen“, grummelt der Verkäufer aus seinem Kabuff hervor. Die Frau geht ein paar Schritte rückwärts, da gibt er ihr ein Zeichen. Er guckt sich kurz um, geht sicher, dass die Luft rein ist, und holt verschwörerisch unter dem Tresen eine zusammengerollte Zeitung hervor. Einen Moment lang ist das Grün des Titelblatts zu sehen, doch ganz schnell schiebt er die Zeitung wie ein Schmugglergut der Frau hin. Sie gibt ihm hastig ein Zwei-Euro-Stück und stopft die Papierrolle in ihre Handtasche.
Die Dame grinst triumphierend. Sie weiß selbst nicht, wie sie zu dieser Ehre kam: „Vielleicht weil ich blond bin?“ Sie kaufte die Ausgabe von heute aus Prinzip. „Auch, weil es mich interessiert, aber vornehmlich um ein Zeichen zu setzen“, sagt sie.
Isabelle Servolin ist Lehrerin an einem Lycée in der Nähe. „Es ist nicht einfach, auch meine muslimischen Schüler sagen, dass sich das nicht gehöre. Man dürfe den Propheten Mohammed nicht abbilden. Doch wir versuchen, diesen laizistischen Geist und unsere republikanischen Werte zu verteidigen.“
Die Schulen in Frankreich seien frei von Religion und republikanisch. Solche Dinge wie Karikaturen, über die man lachen könne, würden zum Nachdenken einladen. Auch die muslimischen Schüler? „Dennoch stellen wir auch während unserer Analysen mit ihnen immer wieder fest, dass sie noch nicht einmal versucht haben, die Karikaturen zu interpretieren. Sie haben nur das Bild gesehen und zu schnell darauf reagiert, ohne überhaupt darüber nachzudenken.“
Dass im Islam schon die Abbildung des Propheten als unkorrekt gilt, spiele für sie keine Rolle, sagt die Lehrerin.
Das Zentrum von Paris sei bürgerlich, erklärt sie und kommt ins Drucksen. „Es gibt nicht so viele Migranten dort, wo ich unterrichte.“ Muslime. Und doch habe sie die Diskussion immer wieder geführt. Sie deutet auf einen kleinen Anstecker, den sie am Pullover trägt. Weiß auf Schwarz: Je suis Charlie. „Ich habe mich sehr solidarisch gezeigt, und die Reaktionen waren unterschiedlich hier. Die meisten waren sehr erschüttert über das, was geschehen ist, aber es gibt auch ein paar, die nicht so nette Dinge gesagt haben.“
Der Ansturm wird nicht weniger. In einer gefühlt 30 Sekunden langen Pause, als gerade kurz kein „Charlie-Hebdo“-Suchender in den Laden kommt, erzählt der Verkäufer, er habe 50 Exemplare bekommen. Doch nur die 40 Kunden, die im Voraus bezahlt haben, bekommen die Zeitschrift von ihm. Für den Rest gilt das, was der alte Herr mit rotem Edding auf ein Blatt Papier geschrieben hat. „Charlie um 10 Uhr.“
Er ist Muslim. Es mache ihm aber nichts aus, das Heft zu verkaufen. “Ich bin seit 40 Jahren in Paris, was soll man machen?”, sagt er nur.
Dann kommt Pascale, eine regelmäßige „Charlie- Hebdo“-Leserin. Sie verlässt den Kiosk enttäuscht wieder. „Ich habe die Zeitung schon immer gelesen, und jetzt erst recht.“
„Aber das ist doch ihr Geist“
Über die Diskussion um die Abbildung Mohammeds, über die Karrikaturisten, lacht sie. „Aber das ist doch ihr Geist, so ticken die. Das macht sie ja gerade aus. Das ist doch nicht neu – das haben sie vorher gemacht. Sie werden weiter schocken und sich über den Papst, die Juden und die Muslime lustig machen. Die Weißen, die Schwarzen, alle.“
Sie glaube nicht, dass sich die Ausrichtung der Zeitung ändern werde, sagt Pascale. Das wolle sie auch nicht. „Natürlich sind die Muslime geschockt, oh ja, sie werden geschockt sein. Aber wo steht es, dass man das nicht machen darf?“ Und wenn sich der Konflikt dadurch noch weiter zuspitzt, dann sei das so. „Die sollen sich auf der Straße kloppen, wenn sie wollen. Also wirklich, wenn man sich über ein paar Stifte und Papier die Köpfe einschlagen will, dann sollen sie das machen. Aber der Konflikt ist schon super stark. Ich hoffe mal, dass die Leute das verstehen werden.“
Im Sekundentakt kommen und gehen die Menschen, die meisten, ohne etwas zu kaufen. Manche pirschen sich vorsichtig an den Stand an und luken in die Auslage. Manche kommen auf dem Fahrrad, stellen es ab, rennen rein, fragen nach, lesen das Schild und ziehen enttäuscht wieder ab. Ein Mann im Auto bleibt auf der Hauptstraße stehen und schickt seine Tochter zum Kiosk. Rentner, Schüler, Jogger, Arbeitslose kommen.
Und Leute wie Lukas. Der 25-Jährige hat gerade sein Studium der Politikwissenschaften beendet. Er hat noch nie „Charlie Hebdo“ gekauft. Heute wollte er gleich mehrere Exemplare kaufen – für sich und seine Freunde.
„Ich bin neugierig und finde es wichtig, ‘Charlie Hebdo’ zu unterstützen. Ich habe die Zeitung noch nie vorher gelesen, aber es interessiert mich doch, was neben dem Cover, das ja eh jeder schon kennt, jetzt drinsteht. Wie sie die Ereignisse von letzter Woche verarbeitet haben.“
Er habe sich jedoch viele Fragen gestellt, sagt Lukas. Gerade weil in den vergangenen Tagen die Debatte darüber wieder hochgekocht ist, ob man Mohammed-Karikaturen zeigen darf oder nicht.
„Es ist kompliziert“
„Es ist kompliziert“, sagt Lukas. „Es gibt ja Stimmen, die ‘Charlie Hebdo’ vorwerfen, islamophob zu sein, und sagen, dass es einfach ist, Muslime zu attackieren, weil sie ein schwacher Teil der Gesellschaft sind, Muslime, die man einfach diskriminieren kann, weil sie in den Banlieues leben und so. Andererseits bin ich dann zu dem Schluss gekommen, dass es kein Angriff auf die Religion ist, sondern auf die Bevölkerung - und diese Unterscheidung ist in Frankreich sehr wichtig.“
„Es ist für uns schwer zu verstehen. Wir fragen uns schon, warum ist das denen so wichtig? Wir können das vielleicht auch nicht verstehen.“ Er hält kurz inne und denkt nach. Ja, es sei keine einfache Diskussion, die im Land entflammt ist. Lukas erinnert sich an die Ausgabe von „Charlie Hebdo“, die 2009 zum Rauswurf des Karikaturisten Siné - Maurice Sinet - geführt hatte, weil er sich weigerte, sich für einen Witz über das Judentum zu entschuldigen. „Das macht die Diskussion komplizierter.“
Doch am Ende beharrt der 25-Jährige auf der Meinungsfreiheit: „Der Unterschied mag vielleicht ganz klein und fein sein, aber ich glaube, dass sowas korrekt ist, wenn man damit nicht die Religion attackiert oder zur Gewalt aufruft.“
„Ich glaube, es wird auch viele Muslime geben, die auf unserer Seite sind. Ich bin nicht muslimisch, aber ich glaube auch nicht, dass es verwerflich ist. Das ist doch nicht Islam. Es gibt auch Zeitungsverkäufer, die die Ausgabe heute gar nicht erst verkaufen. Das ist eine Katastrophe, die ganze Angelegenheit ist wirklich kompliziert.“
„Mich verletzt das nicht“
Mohammed ist Muslim und kommt ebenfalls zum Kiosk, um eine Ausgabe von „Charlie Hebdo“ zu kaufen. Die Karikatur des Propheten? „Das macht mir nichts aus, ich will wissen, was neu ist. Ich habe die Karikatur schon im Internet gesehen. Mich verletzt das nicht. Ich hoffe, dass die anderen Menschen intelligent genug sind, das entspannt zu sehen.“
Ein paar hundert Meter weiter hat ein Verkäufer viel Spaß, die Menschen auf den Arm zu nehmen.
„‘Charlie?’“– „Für Sie nicht, bei der Frisur!“
„Hätten Sie vielleicht ‘Charlie Hebdo?’“ – „Nein, Prinzessin, leider hatte ich nur neun Exemplare - und du bist zu spät.“
Sein Humor klingt jedoch eher nach Zynismus. Ob er Muslim ist, will er nicht sagen.
„Allez! On continue!“ Weiter geht’ s. Für jeden, der im Sekundentakt an seinen Stand kommt, hat er eine kecke Antwort parat. „Wer will nochmal fragen, wer hat noch nicht gefragt!“ Eine Frau mit Hund kommt in den Kiosk. „Für Sie leider nicht“, sagt der Verkäufer. – „Wieso sagen Sie, für mich nicht?“– „Weil Sie zu schön sind.“
Sie sei an jedem Kiosk des Viertels gewesen, klagt die Frau. Ohne Erfolg. Jetzt reicht es ihr. Sie greift zur neuen „Elle“, einer Frauenzeitschrift. „Ich nehme die, ist sowieso viel hübscher“, sagt sie lachend. Das Cover ist hellblau, darauf eine Friedenstaube, mit Stift im Mund.