Mein Bruder,
mein Bruder, wenn Du wüsstest, wie schlecht ich mich heute fühle für Dich, Dich und Deine schöne Religion, die so beschmutzt, gedemütigt, beschuldigt wurde. Vergessen sind Deine Kraft, Deine Energie, Deine Menschlichkeit, Deine Brüderlichkeit. Das ist ungerecht, und gemeinsam werden wir sie beseitigen, diese Ungerechtigkeit. Millionen lieben Dich, und wir alle werden Dir helfen. Fangen wir am Anfang an. Wie sieht die Gesellschaft aus, die wir Dir anbieten?
Sie basiert auf Geld, Profit, Trennung, Rassismus. In einigen Banlieues erreicht die Arbeitslosigkeit der Unter-25-Jährigen 50 Prozent. Man hält dich aufgrund Deiner Hautfarbe oder deines Vornamens auf Abstand. Man kontrolliert Dich zehnmal am Tag, man pfercht Dich in überfüllte Hochhäuser und niemand setzt sich für Dich ein. Wer kann in solchen Umständen leben und sich entfalten? Ein Tier oder ein Kind, das man monatelang ohne Zuneigung lässt, tötet am Ende doch jeden X-beliebigen.
Profit geht in dieser Gesellschaft über alles. Man fällt den Apfelbaum und verkauft sein Holz, wundert sich aber hinterher, dass man kein Obst mehr hat. Hier liegt das wahre Problem, und wir alle müssen es gemeinsam lösen.
Ich richte meinen Appell an alle Mächtigen, Unternehmenschefs, Direktoren. Helft dieser gedemütigten und verkümmerten Jugend, die doch nur an der Gesellschaft teilhaben will. Die Wirtschaft dient dem Menschen und nicht umgekehrt. Und Gutes tun ist der schönste Profit von allen. Liebe Mächtige, habt ihr Kinder? Liebt ihr sie? Was wollt ihr ihnen hinterlassen? Kohle? Warum nicht eine gerechtere Welt? Das würde eure Kinder stolzer auf euch machen.
Man kann sein Glück nicht auf dem Unglück der anderen aufbauen. Das ist weder christlich, noch jüdisch, noch muslimisch. Das ist einfach nur egoistisch und fährt unsere Gesellschaft und unseren Planeten direkt vor die Wand. Diese Arbeit steht uns also heute bevor, um unsere Toten zu ehren.
Und Du, mein Bruder, hast auch noch Arbeit vor Dir. Wie soll sich diese Gesellschaft, die man Dir anbietet, ändern? Indem Du arbeitest, studierst, indem Du lieber zum Stift als zur Kalaschnikow greifst. Das ist nämlich das Gute an der Demokratie, dass sie Dir elegante Werkzeuge anbietet, um Dich zu verteidigen. Nimm Dein Schicksal in die Hand, ergreife die Macht.
Es kostet dich 250 Euro, eine Kalaschnikow zu kaufen, ein Kugelschreiber aber nicht mal drei Euro, und dabei hat deine Antwort so tausendmal mehr Einfluss.
Ergreife die Macht und spiele mit den Regeln. Ergreife die Macht auf demokratische Weise, hilf all Deinen Brüdern. Der Terrorismus wird nie gewinnen. Das wird die Geschichte beweisen. Und das schöne Bild des Märtyrers funktioniert in beide Richtungen. Schon heute kommen tausend Cabus und tausend Wolinskis zur Welt. Ergreife die Macht und lass niemanden die Macht über Dich ergreifen. Du solltest wissen, dass die beiden blutrünstigen Brüder heute nicht Deine waren, und das wissen wir alle.
Sie waren höchstens zwei geistig Schwache, aufgegeben von der Gesellschaft, dann missbraucht von einem Prediger, der ihnen die Unsterblichkeit verkaufte … Die radikalen Prediger, die ihr Geschäft machen und euer Unglück ausnutzen, haben nichts Gutes im Sinn. Sie bedienen sich Deiner Religion für ihre eigenen Vorteile. Es ist ihr Geschäft, ihre kleines Unternehmen. Morgen, mein Bruder, werden wir stärker sein, verbundener, solidarischer. Ich verspreche es Dir.
Aber heute, mein Bruder, weine ich mit Dir.
Luc Besson
Hier ein Link zum Originaltext bei Facebook. Vielen Dank für die Übersetzung Victoria Weidemann. Danke auch an Walter Popp und Florence für den Hinweis.