Wie das Attentat die Franzosen spaltet
Unsere Frankreich-Experten sind sich einig, dass die Anschläge auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt in Paris weitreichende Folgen haben werden. Aber welche?
Die französische Gesellschaft teile sich gerade in zwei Lager_,_ schreibt Francoise Lhote, und diese neuen Konfliktlinien ließen sich schon wenige Stunden nach den Morden konkret beobachten: „Freunde streichen sich gegenseitig von ihren Freundeslisten. Der Dialog mit unseren moslemischen Freunden wird schwierig bis unmöglich“, beobachtet sie. „Die Lager heißen Ich bin Charlie und Ich bin nicht Charlie. […] Das eine Lager sagt: Es war ein abscheuliches Verbrechen, das nichts entschuldigen kann. Dann gibt es […] einige, die sagen: ‘Sie haben den Prophet beleidigt und das ist die Strafe, morden sollte man jedoch nicht.’ Dann gibt es noch bei den restlichen Muslimen ein kleines Lager, das sagt: ‘Man hat zu viele getötet. Sie hätten nur die zwei Zeichner töten sollen’. Und ein noch kleineres Lager sagt: ‘Das war die gerechte Strafe, und töten war noch zu wenig, man hätte sie vorher noch foltern müssen.’“
Gerade die oft drastischen Karikaturen von „Charlie Hebdo“ machten es der „Ich bin nicht Charlie“-Seite aber schwer, sich solidarisch zu zeigen. Francoise Lhote verlinkt Beispiele – wir wollen sie hier nicht zeigen –, die etwa den Propheten nackt und beim Pornodreh zeigen oder einen von Kugeln durchlöcherten Koran. Darunter steht: „Wegen so etwas kann ich nicht Charlie sein.“
https://twitter.com/BIDUDessinateur/status/553540248077336578
Ein häufig verlinkter Cartoon des Zeichners BIDU: „Noch eine hässliche Zeichnung, die sich über uns lustig macht!“ – „Es ist ein Spiegel Blödmann!“
Ralf-Martin Tauer widerspricht der Zwei-Lager-These: „Es gibt eindeutig mehr als nur diese zwei Lager.[…] Interessant ist zu beleuchten, wie nun ‘normale’ muslimische Franzosen im Alltag mit Bemerkungen von Franzosen umgehen müssen. Ich habe einen guten Freund aus Marokko. Ich muss sagen, dass es durchaus sein könnte, dass es bei den vielen ‘witzig’ gemeinten Anspielungen im Alltag früher oder später beim ein oder anderen zu Überreaktionen kommen kann.“ Er fürchtet auch die langfristigen Folgen des Angriffs und der Reaktionen darauf: „Ich kann mir gut vorstellen, dass durch die aktuellen Vorgänge sich über die Franzosen ohne Migrationshintergrund eine omnipräsente Xenophobie legt und diese wiederum zu einer neuen Generation ‘falsch Verstandener’ und noch nicht mal radikalisierten, aber frustrierten jungen Menschen führt, die sich dem muslimischen Glauben zuwenden, um sich abzuschotten.“ Nicolas Zenz weist auf die virtuelle „Gegenbewegung“ #jesuisAhmed hin: „Meiner Meinung nach ist die kleine Solidaritätskundgabe mit diesem # irgendwie am unverfänglichsten und zeigt am schönsten die Absurdität solcher Gräueltaten.“ Ahmed ist der muslimische Polizist, der von den Terroristen unmittelbar nach deren Anschlag auf „Charlie Hebdo“ erschossen worden war.
Einen Eindruck der erhitzten Gemüter vermittelt dieses Video:
https://www.youtube.com/watch?v=Nzc4jO-LpIM
Francoise Lhote übersetzt: „Dieser Mann, der mit einem starken Akzent der Pariser Vororte spricht, erklärt, dass man Meinungsfreiheit nicht mit Diffamierung verwechseln soll. Er erklärt, dass für 1,5 Milliarden Moslems der Prophet Mohammed heiliger ist als die Mütter aller Moslems zusammen. Kein Moslem […] kann dulden, dass [der Prophet] diffamiert wird. Sie werden sich das nicht gefallen lassen. […] Alles was die Moslems wollen, ist die Nicht-Moslems von dem Höllenfeuer retten und dass die Nicht-Moslems konvertieren. Wenn die Nicht-Moslems nicht wollen, sollen sie gehen, wohin sie wollen.“ (Keine vollständige Übersetzung)
Unsere Reporterin Victoria Schneider gibt zu bedenken: „Man kann das, was der Mann in dem Video sagt, aber auch so verstehen, wie das Olivier Roy gestern in ‘Le Monde’ beschreibt. Er spricht (er simplifiziert bewusst) von zwei Diskursen: dem anti-rassistischen, der sich ‘not in my name’ labelt: Terror ist nicht ‘mein’ Islam, denn der Islam, den ich kenne, ist friedlich und tolerant. Und den zweiten, auf den der Mann in dem Video vielleicht reagiert, dem laut Roy die Mehrheit der Franzosen folgen: dass Terrorismus den ‘wahren Islam’ widerspiegele, dass in jedem Muslim durch den Koran Radikalität verankert sei und alle anderen Ausnahmen sind.“
https://www.youtube.com/watch?v=-bjbUg9d64g
Mehrere Mitglieder empfehlen einen Song des Sängers JB Bullet. Florence schreibt: „Ich bin Französin, aber in Marokko aufgewachsen. Mein französische Freunde haben gerne das Lied ‘Je suis Charlie’ geteilt, meine marrokanische Freunde teilen gerne das Brief von Luc Besson: ‘Lettre émouvante de Luc Besson à ses frères musulmans’.“
Die Sicherheitslage und das Versagen der Behörden
Wie konnte es dazu kommen? Das fragen viele Mitglieder und meinen auch das Versagen der Sicherheitsbehörden: „Wie konnte zu einer so professionell durchgeführten Aktion bei Charlie Hebdo kommen, ohne dass die Behörden davon im Vorfeld Wind davon bekommen haben?“, „Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Polizistenselbstmord und den Attentaten? Warum lässt ein maskierter Täter, der offensichtlich nicht erkannt werden möchte und die Tat wohl im Voraus plante, seinen Personalausweis im Fluchtauto zurück? Wie konnten die anderen vermeintlichen Täter identifiziert werden?“
Murat Kazokoglu erinnert an eine Episode aus dem September 2014. „Drei Terrorverdächtige waren damals in der Türkei verhaftet und nach Frankreich ausgeliefert worden, doch die französische Polizei wartete am falschen Flughafen, und die Verdächtigen mussten sich selbst stellen“, schreibt Murat (hier ein Link zu den Details). „Damals lachten wir hier in Paris noch darüber, gestern dachte ich wieder daran, und zum Lachen war mir nicht zumute.“
Murat weist auch auf den Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm hin, der im Jahr 2005 im französischen Sender France3 lief und Chérif Kouachi zeigt, einen der beiden Attentäter. Er schlägt vor, dass wir uns auf die Suche nach dem darin auch zu Wort kommenden Sozialarbeiter Ian Bourice machen und mit ihm zu sprechen versuchen.
https://www.youtube.com/watch?v=OoRjFCP5spE
Weitere Themen
Dieser Überblick ist nicht vollständig. Einige der häufigsten Fragen war die nach der Situation der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich. Auch die Rolle des Front National ist ein wichtiges Thema. Und schließlich gibt es einige kritische Fragen zum Rechercheansatz von Krautreporter:
„Irgendwie zweifelhaft, Themenfindung und Recherche in die Crowd auszulagern“,findet Henning Schmidt. Antwort der Redaktion: „Wir haben durchaus Ideen und Kontakte, aber wahrscheinlich wissen alle unsere Mitglieder zusammengenommen sehr viel mehr als wir. Dieses Wissen wollen wir zu Journalismus machen – das ist ja die Kernidee von Krautreporter.“
„Warum erst jetzt?“, fragte „Olly Wood“. Antwort der Redaktion: „Nicht unberechtigt, diese Frage. Aber bedenkt bitte: Erst gestern Abend sind die Täter getötet worden. Uns geht es nicht um die News, sondern die Hintergründe. Vor Mitte der Woche werden wir keinen Text veröffentlichen - wahrscheinlich, hoffentlich versteht man die Situation dann aber besser.“
Mat Rym fragt: „Wieso ist eure Reporterin nicht in Syrien, im Irak, in Afghanistan oder in Nigeria? Was ist Rudeljournalismus? Wo liegt die Verantwortung des Reportes bei Gewichtung des Weltgeschehens?“ Die Antwort der Redaktion: „Victoria kommt gerade aus Gaza zurück, wo sie Monate nach dem Krieg eine der wenigen verbliebenen Journalistinnen war. Normalerweise berichtet sie aus Johannesburg über Subsahara-Afrika. Dieses Thema ist aber sehr wichtig und wird uns noch lange beschäftigen. Trotzdem hast Du recht: Wie wollen nicht die gleichen Geschichten recherchieren, wie alle anderen. Deswegen hoffen wir auf ungewöhnliche Ideen und Kontakte von unseren Mitgliedern.“ Weitere Diskussionen auch auf der Krautreporter-Facebook-Seite.
Viele Fragen, und einige davon können wir hoffentlich beantworten. Morgen schickt Krautreporterin Victoria Schneider ihren ersten Bericht. Solange freuen wir uns weiter über Hinweise, Idee und Kontakte in den Anmerkungen und Kommentaren.
Foto: Olivier Ortelpa (CC BY 2.0)