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Manche Erkenntnisse sind so einfach wie Schlangestehen an der Kasse: Wenn wir die Wahl haben, kaufen wir lieber in hellen, modern eingerichteten Supermärkten ein als in renovierungsbedürftigen Tropfsteinhöhlen. Im vergangenen Jahr hat die zum deutschen Handelsunternehmen Metro gehörende Supermarktkette Real deshalb eine große Höhlenschließungsaktion bekannt gegeben. Ein Dutzend der 280 SB-Warenhäuser, den Mehrzwecksupermärkten auf der grünen Wiese, sollen dichtgemacht werden. Der Betrieb rentiert sich nicht mehr.
Um die Gründe für den Kundenexodus zu verstehen, braucht man bloß selbst zum Grottenforscher zu werden – und zum Beispiel im alten Markt bei Darmstadt einkaufen, wo Real sich in der Nähe einer Autobahnausfahrt an eine Bundesstraße gezwängt hat. Früher gehörte das Haus hier zur Handelskette Spar, dann zu Walmart, bis vor achteinhalb Jahren Real übernahm. Nicht nur den Laden, sondern auch die Probleme.
Real hat zwar immer noch die größte Auswahl im Umkreis. Im Regal stehen alle bekannten Marken, es gibt günstige Produkte auf dem Preisniveau der Discounter, und wer will, kann beim Milchholen noch eben einen Flatscreen-Fernseher oder einen Satz Winterreifen mitnehmen (vorausgesetzt, er traut sich ins Kellergeschoss ganz nach hinten, wo noch nie ein Sonnenstrahl hingefallen ist). Doch der Markt selbst ist nur notdürftig den Standards des aktuellen Jahrhunderts angepasst worden. Auf einem Schild an der Kühltheke steht: „Hier kriegen Sie einen Korb!“ Und drunter in kleinerer Schrift: „Für Ihren kleinen Einkauf.“ Hätte aber auch gestimmt, wenn man das weglassen würde. Noch in diesem Jahr soll der Markt geschlossen werden.
Zuletzt haben Edeka und Rewe in der Nähe eröffnet. Größer sind die Läden der Konkurrenz nicht. Aber moderner, heller, freundlicher. Dazu gekommen sind ein Baumarkt, ein Gartencenter, eine Kette für Tierfutter, eine für Billigklamotten, eine Drogerie. Wer braucht da noch ein heruntergekommenes Lebensmittelkaufhaus?
Alles unter einem Dach
Vor einem halben Jahrhundert war das noch anders. Im Sommer 1963 eröffnete die französische Supermarktkette Carrefour in der damaligen 18.000-Einwohner-Gemeinde Sainte-Geneviève-des-Bois, rund 30 Kilometer südlich von Paris, ihr erstes SB-Warenhaus, einen Einkaufstempel bis dahin noch nie gesehenen Ausmaßes mit 2.500 Quadratmetern. Für damalige Verhältnisse war der Laden gigantisch, dreimal so groß wie üblich.
Der erste „Hypermarché“ faszinierte mit breiten Gängen, in denen sich 5.000 verschiedene Produkte bis über die Köpfe der Kundschaft stapelten. An der meterlangen Bedientheke wogen Mitarbeiter frisches Obst aus Übersee ab. Von der Decke tauchten schier endlose Neonröhren den Markt in taghelles Licht. Und wer vorne, am ersten Tresen mit der riesigen Registrierkasse seine Einkäufe aus dem Wagen hievte und sich beim Bezahlen kurz umschaute, der sah hinter sich noch zwanzig andere Menschen an zwanzig anderen Tresen mit riesigen Registrierkassen dasselbe tun.
Zugleich war Carrefours SB-Warenhaus Haushaltswarenladen, Baumarkt und Textilgeschäft in einem. „Alles unter einem Dach“, lautete das Werbeversprechen. Vor dem Markt war Platz für 450 Autos, die dort kostenlos parken und nachher an einer Zapfsäule günstig vollgetankt werden konnten. Das Unternehmen hatte den Alleskönner-Supermarkt auf der grünen Wiese erfunden – und den Wocheneinkauf mit motorisiertem Untersatz gleich mit.
Es war der Anbruch einer neuen Zeit. Und, ehrlich gesagt, ein Alptraum.
Perfektioniert worden ist das System erst ein Vierteljahrhundert später: von der bis heute für Konsum-Alpträume zuständigen amerikanischen Supermarktkette Walmart, einem der größten Unternehmen der Welt. Den ersten Laden eröffnete Walmart zwar schon 1962. Aber erst 1988 versuchte sich der Konzern im US-Bundesstaat Washington an einem „Supercenter“, in dem es neben Lebensmitteln auch Gegenstände des täglichen Bedarfs zu kaufen gab. Bis zum Ende des Jahres 1990 hatte Walmart bereits sieben solcher Supercenter gebaut, schreibt Autor Charles Fishman in „The Wal-Mart Effect“. Zehn Jahre später, zur Jahrtausendwende, waren es 888. Bis heute hat Walmart die Expansion nicht gestoppt.
Dass Walmart in so kurzer Zeit so schnell wachsen konnte, lag zum einen an der Strategie, Produkte konsequent zu Niedrigpreisen anzubieten, oftmals auf Kosten von Herstellern und Lieferanten. Den Erfolg der Monstermärkte begünstigten aber vor allem die Grundstückspreise an den Stadträndern, die vielfach billiger waren als in der Stadt. Der zusätzliche Aufwand, mit dem Auto einzukaufen, war aus Sicht der Kunden verschmerzbar, nicht zuletzt wegen der günstigen Spritpreise.
Es ist eine erstaunliche Erfolgsgeschichte, aus der sich die Firmenchronik speist, mit der Walmart sich vor drei Jahren selbst beschenkt hat, um den 50. Jahrestag der Gründung durch Sam Walton zu feiern. Und natürlich ist darin mit keinem einzigen Wort eine der größten Pleiten in der Geschichte der US-Kette erwähnt. Die Pleite heißt: Deutschland.
Keine zehn Jahre dauerte der Versuch der Amerikaner, den hiesigen Lebensmittelhandel zu erobern. 1997 stieg der US-Konzern in den Markt ein, indem er 95 SB-Warenhäuser von Wertkauf und Spar übernahm. Doch die Läden lagen zu weit auseinander, die Distributionskosten waren zu hoch und die seltsamen Methoden der Amerikaner – vom Kundengrüßmitarbeiter am Eingang bis zur Aufforderung an die Angestellten, morgens gemeinsam den Walmart-Schlachtruf zu schmettern – waren den Deutschen verdächtig. Sie gingen lieber weiter zu Aldi und Lidl, die ja schon niedrige Preise hatten. Mitte 2006 gab der Konzern auf und verkaufte die Läden an Metro.
An den Häusern hing fortan das Logo der SB-Warenhauskette Real, und am Unternehmenssitz in Düsseldorf war vom „Anspruch auf die Marktführerschaft“ die Rede. Wie sich im Nachhinein herausstellte, war das Walmart-Erbe für Real aber vor allem eine Last. Viele der SB-Warenhäuser, die noch vor zehn, fünfzehn Jahren gar nicht riesig genug sein konnten, sind für heutige Bedürfnisse schlicht und einfach – zu groß.
Näher dran ist besser
Im Laufe der Zeit hat sich bei vielen Konsumenten die Einsicht durchgesetzt, dass es Schöneres gibt, als samstags in Industriegebieten übergroße Einkaufswagen durch grell beleuchtete Supermarkthallen zu schieben, sich beim Weg durch die Kühlabteilung einen Schnupfen zu holen und nachher das Familienauto auf dem Betonparkplatz wiederfinden zu müssen. Ähnlich wie die klassischen Warenhäuser leiden die Supermarkt-Ableger darunter, dass Kunden Elektrogeräte und Gartenmöbel inzwischen lieber im Netz bestellen und sich nach Hause liefern lassen.
Anders gesagt: Ein halbes Jahrhundert nach der Eröffnung des ersten SB-Warenhauses hat es sich herumgesprochen, dass „Alles unter einem Dach“ zwar praktisch sein mag – aber weder zeitsparend noch angenehm.
Die Ansprüche an einen guten Supermarkt haben sich verändert, und die SB-Warenhäuser werden diesen Ansprüchen immer seltener gerecht. Online-Lieferdienste versuchen sich als Alternative zu etablieren. Die Kunden essen unterwegs und am Arbeitsplatz, wollen in der Mittagspause frische Salate oder Sandwiches einkaufen und dafür nicht kilometerweit fahren. Seit geraumer Zeit baut der Handel seine Läden deshalb nicht mehr nur an Orte, wo die Pacht am günstigsten ist – sondern dort, wo die Menschen wohnen und ihr Geld verdienen.
„Die Supermärkte waren da schon immer, die Discounter sind in den letzten Jahren hinzugekommen“, urteilt die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). „Die Verbraucher nehmen dieses Angebot gerne an. Sie fahren seltener zum Einkaufen in die großen Zentren auf der grünen Wiese. Immer häufiger besuchen sie stattdessen Einkaufsstätten in der Nähe ihres Wohnorts.“ Fast die Hälfte aller Umsätze (47,6 Prozent) erzielte der deutsche Lebensmittelhandel 2012 mit Kunden, die ihren Markt in höchstens fünf Minuten Fahrzeit erreichen konnten. Mit jeder weiteren Minute Fahrzeit nimmt die Attraktivität der Einkaufsstätten ab.
Dazu kommt, dass mehr als die Hälfte der deutschen Verbraucher der GfK zufolge inzwischen zu den „Vorratsreduzierern“ gehört, gut ein Viertel mehr als im Jahr 2010. Die Supermärkte verkaufen weniger. Dank steigender Durchschnittspreise und der Bereitschaft vieler Kunden, sich höherwertige Lebensmittel zu leisten, bleiben die Umsätze aber gleich oder steigen sogar. Nur die ganz Großen haben seltener was davon. Real wirbt trotzdem weiter mit dem Spruch „Einmal hin. Alles drin“, im Grunde einer Variante von Carrefours „Alles unter einem Dach“. Und es gibt ja auch Kunden, die den Wocheneinkauf weiterhin schätzen, weil ihnen keine Zeit bliebe, um jeden Tag die nötigen Besorgungen zu erledigen.
Diese Zielgruppe reicht bloß nicht mehr, um die vielen Märkte wirtschaftlich zu betreiben. Erst recht, wenn die Mehrzahl der verbliebenen Kunden auch noch immer dieselben Produkte kauft.
Zu viel Auswahl macht blind
Genau das ist dem britischen Supermarktforscher Siemon Scamell-Katz zufolge der Fall. Wenn sie die Vorteile der Märkte auf der grünen Wiese erklären sollen, nennen Kunden stets die große Auswahl. Bis zu 80.000 verschiedene Produkte werden in den Läden angeboten. Die Zahl, die im Jahr von einem durchschnittlichen Haushalt eingekauft wird, ist jedoch sehr viel niedriger. Sie liegt bei etwa 300, hat Scamell-Katz in seinen Studien herausgefunden. Lediglich die Hälfte dieser Produkte wird regelmäßig wieder gekauft und benutzt. Unter anderem, weil unser Gehirn beim Einkauf in den Vereinfachungsmodus schaltet.
Hirnforscher gehen davon aus, dass wir bei einer zu großen Auswahl unterbewusst Teilmengen bilden, also bestimmte Produkte oder Produktgruppen im Hintergrund aussortieren, um uns selbst die Entscheidung zu erleichtern. In seinem Buch „The Art of Shopping“ erklärt Scamell-Katz: „Wir treffen [beim Einkaufen] eigentlich keine Entscheidungen, sondern wählen in der Regel aus einer reduzierten Menge an Produkten, die uns schon bekannt sind.“ Supermärkte, die eine zu große Auswahl böten, gingen das Risiko ein, dass ganze Sortimente für die Kunden „unsichtbar“ würden.
Es kommt also weniger auf die absolute Zahl der Produkte an, sondern darauf, dass die Zahl für Kunden auch bewältigbar ist. Oder, im Idealfall, dass Einkaufen gar nicht mehr als unterbewusst gesteuerte Pflicht funktioniert, sondern als bewusst die Sinne ansprechendes Vergnügen. Die niederländische Supermarktkette Jumbo ist auf dem besten Weg dahin.
Einkaufen als Freizeitvergnügen?
Ein Dienstag im Dezember. Zur Mittagszeit ist der Parkplatz in Amsterdam-Noord schon zu zwei Dritteln gefüllt. Vier gut gelaunte Frauen mittleren Alters steigen aus einem Kleinwagen und schäkern mit dem Parkplatzanweiser, Arbeitskollegen haben sich zum Mittagessen verabredet, Familien sind an ihrem freien Tag hergekommen. In ein Industriegebiet direkt am IJ, das den Norden Amsterdams von der Innenstadt trennt. Seit die Schiffsindustrie an Bedeutung verloren hat, sind Künstler und Start-ups in die Lagerhallen zwischen Autowerkstätten und Tankstellen gezogen. Ende November ist ein riesiger neuer Supermarkt hinzugekommen. Oder jedenfalls das, was die niederländische Handelskette Jumbo davon übrig gelassen hat, als sie ihren „Foodmarkt“ konzipierte.
In der ganzen Stadt hängt Werbung für die Neueröffnung, und wer hin will, fährt entweder mit dem Auto oder nimmt eine der Fähren hinterm Hauptbahnhof und läuft über Schleusentore durch das Neubauviertel Vogelbuurt zu der Backsteinhalle mit den großen Glasfenstern, die eigentlich gar keinen Lebensmittelmarkt beherbergt. Sondern ein Ausflugsziel. Jedenfalls wenn es nach dem Eigentümer geht.
Wer hier herkommt, soll nicht noch hastig die Vorräte fürs Wochenende aufstocken. Sondern im Laden bummeln, sich mit Freunden zum Essen treffen, Lust aufs Selberkochen kriegen. Und nebenbei halt auch einkaufen. Deshalb ist der Foodmarkt in zwei Teile gegliedert: Vergnügen und Pflicht.
Das Vergnügen sieht aus, als sei ein Street-Food-Markt mit einem Supermarkt zusammengestoßen. Anstatt in schnurgerade Regalreihen werden Kunden am Eingang in ein wildes Durcheinander bunter Stände und Theken gelotst, das niemand entdecken darf, ohne vorher von den Tabletts der Mitarbeiter Obst, Käse oder Kuchen probiert zu haben. Neben Frischetheken für Fleisch und Käse gibt es eine Station für Steinofenpizza, einen Fischstand mit Sushi-Insel, eine Theke mit veganen Speisen, den „Asia Wok“ und einen Grill. Brote sind in Körben aufgetürmt, der Ofen, in dem gebacken wird, steht direkt dahinter. An vielen Stationen lassen sich nicht nur Zutaten einkaufen, um selbst zu kochen. Kunden können auch direkt eine Mahlzeit ordern, die nebenan im Café verzehrt werden kann.
Das Bistro ist der Markt, der Markt ist das Bistro. Jumbo hat die alte Aufteilung in Einkaufen und Aufessen abgeschafft. Der ganze Laden ist darauf ausgelegt, dass Kunden die Lebensmittel nicht eingeschweißt wegtragen – sondern sich an Ort und Stelle davon überzeugen, ob und wie sie schmecken (und dann hoffentlich nicht mehr so sehr aufs Geldausgeben achten). Damit soll nicht nur ein zahlungskräftiges Feinkost-Publikum angesprochen werden – sondern die Masse.
Zugleich haben die Entwickler darauf geachtet, dass der Laden auch als klassischer Supermarkt funktioniert. Im zweiten, schlichter gestalteten Ladenteil lagern Produkte, die keine inszenatorische Sonderbehandlung brauchen: Nudeln, Spülmaschinentabs, Zahnpasta. Von der Decke fällt Tageslicht durchs Fabrikhallendach, die Flure sind frei, nirgends stehen störende Paletten herum. Wer sich vorne wohlgefühlt hat, soll hinten vorm Bezahlen bloß nicht mehr geärgert werden. Gerade einmal ein Drittel der Fläche nimmt der klassische Supermarktteil ein, obwohl dort ein Großteil der Waren einsortiert ist. Es ist ein erster Schritt, um herauszufinden, ob die Märkte auf der grünen Wiese künftig grundlegend anders funktionieren müssen. Mit viel Platz fürs Entdecken und Schmecken – und gerade so viel für den Wocheneinkauf, dass niemand gestresst nach Hause gehen muss.
Als Prototyp für die Innenstädte eignet sich das Experiment wohl kaum, weil dort der Platz zu wertvoll ist. Der Foodmarkt könnte aber eine Lösung für das Problem sein, dass immer weniger Leute an die Stadtränder kommen, um dort ihre Besorgungen zu erledigen.
Weil sie’s ja vielleicht doch wieder tun, wenn sie dort eine völlig andere Einkaufsatmosphäre geboten kriegen. Und die Höhlenforschung endlich den Profis überlassen können, die wirklich was davon verstehen.
Aufmacherfoto: Carrefour (Hypermarché in Sainte-Geneviève-des-Bois)
Text gesprochen von Alexander Hertel von detektor.fm