Fernsehfernweh: Das hätte Goethe nicht gewollt
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Fernsehfernweh: Das hätte Goethe nicht gewollt

Auf der Suche nach dem nächsten Erfolg guckt sich das deutsche Fernsehen seine Sendungen regelmäßig im Ausland ab. Ein Blick in unsere Fernsehzukunft.

Profilbild von Peer Schader

„The Complainers“, Channel 4, Großbritannien

Channel 4 hat ausrechnen lassen, dass wir 43 Tage unseres Lebens in Warteschleifen verbringen. Von den Dauerbeschwerern, die der britische Sender besucht hat, um ihnen zuzusehen, wie sie beim Ins-Telefon-Schreien rot anlaufen, sind es wahrscheinlich ein paar mehr. „Nelson Mandela hat auch nicht aufgegeben, er ist eine Inspiration für mich“, sagt Chris, der seit Monaten einen vermeintlich kaputten Zähler beim Stromanbieter anmahnt. Mr. Lock hat ein Problem mit seinem Internetanschluss und keine Geduld mehr: „Was ist der Grund für Ihren Anruf?“ – „Ich möchte, dass Sie zur Hölle fahren!“ Louis zeichnet seine Radfahrten im Londoner Stadtverkehr mit 360-Grad-Helmkameras auf, zeigt regelmissachtenden Busfahrern brüllend die selbstgebastelte rote Karte und stellt Best-of-Videos davon ins Netz, um dem Kundenservice der Betreibergesellschaft Transport for London (TfL) Konsequenzen abzuringen: „Das ist wie Guerilla-Kriegsführung, Straße für Straße.“

Bei „The Complainers“ kommen aber nicht nur aufgeregte Kunden zu Wort. Sondern auch die, die sich beschimpfen lassen. Ein Mitarbeiter im Callcenter erklärt: „Manche Leute wollen gar nicht, dass man ihnen hilft. Sie wollen sich beschweren.“ Die meisten müssen erstmal wieder auf normale Betriebstemperatur abgekühlt werden. Mit Sarkasmusverbot, viel Geduld und dem richtigen Tonfall: „Leute, die sich beschweren, sind wie Kinder. Sie sind aufgeregt, werden laut. Und wir müssen um jeden Preis vermeiden, wie Eltern darauf zu antworten.“ Täglich laufen bei TfL 8.000 Beschwerdeanrufe und 1.500 Mails auf. Aber glücklicherweise bestehen nicht alle nur aus Hass. Einer hat geschrieben: „Ich wünsch euch allen den Tod. Frohe Weihnachten.“

https://www.youtube.com/watch?v=NWCd3OjOUkY


„50 Ways to Kill Your Mammy“, Sky1, Großbritannien

Kann sein, dass sich Joko und Klaas mit den Plätzen zwei und drei begnügen müssen, wenn es demnächst einen internationalen Wettstreit der Leute geben sollte, die sich fürs Fernsehen schwachsinnigen Mutproben mit Selbstverletzungsrisiko unterziehen. Platz eins belegt dann die 71-jährige Nancy Ashmawy aus Dublin. Ihr erwachsener Sohn Baz schüttelte den Kopf, als sie neulich Interesse am Fallschirmspringen äußerte: „Ein Sprung aus 15 Kilometern Höhe könnte sie umbringen! Und dann hab ich mich gefragt: Was könnte sie noch umbringen?“

Ein Rendezvous mit Haien? Eine Abseilaktion im Dschungel? Eine Stromschnellenfahrt im Schlauchboot? Alligatorenärgern in den Everglades? Die Beschwörung einer Königskobra? Rallye-Fahrten durch die marokkanische Wüste? Nee, das alles hat Nancy in der Reality-Reihe „50 Ways to Kill Your Mammy“ fürs britische Sky1 schließlich schon überstanden. Angenehmerweise sind die Selbstversuche weitaus weniger martialisch geworden, als der Titel vermuten lässt, und am Ende eher Zeugnis dafür, dass man mit Überschreitung des Rentenalters nicht automatisch abenteuerresistent wird. „Mammy“ absolviert die Herausforderungen nämlich mit rührendem Mut, berichtet zwischendurch ihrem daheimgebliebenen Kaffeekränzchen per Handy, und als der Sohn sie tatsächlich aus dem Flugzeug springen sieht, ist er derjenige mit den weichesten Knien, der sich nachher mit Tränen in den Augen eingestehen muss: „Ich hätte nie geglaubt, dass sie sich das traut.“ – „Jeder in meinem Alter sollte das tun“, sagt Nancy. Das allerdings wäre ein schwerer Schlag für die Bingo-Industrie (In Deutschland bei NatGeo TV ansehen).

https://www.youtube.com/watch?v=oMPRcTn-ZtM


„The Affair“, Showtime, USA

Diese Geschichte hat zwei Seiten. Noah ist Autor in New York und macht mit seiner Frau und den störrischen Teenagern Sommerurlaub auf Long Island, wo ihm der schrecklich reiche (und schrecklich schreckliche) Schwiegervater mit einem Klugscheißerspruch nach dem nächsten sein Leben kleinredet – bis ihn eine aufreizende Serviererin aus dem kleinen Örtchen nach einer Zufallsbegegnung in eine Affäre hineinzieht. Und weil diese Geschichte, wie gesagt, zwei Seiten hat, geht sie eigentlich ganz anders. Nämlich so: Alison arbeitet in einem Diner auf Long Island, anders als ihr Ehemann kommt sie einfach nicht über den Tod ihres kleinen Sohns hinweg, das ganze Leben ist ihr eine Last – bis ihr ein aufdringlicher Lehrer aus New York, der den Sommer über Urlaub in der Gegend macht, nachstellt und sie in eine Affäre hineinzieht.

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„The Affair“ erzählt beide Geschichten. Erst die eine Hälfte, und nach 30 Minuten noch mal aus der anderen Perspektive. Damit gehört die Showtime-Produktion zweifellos zu den interessantesten Serienexperimenten der vergangenen Monate, zumal die beiden Hauptprotagonisten sich in wesentlichen Punkten völlig anders an das erinnern, was zwischen ihnen gewesen ist. Wobei der Detective, dem sie getrennt voneinander berichten, das gewohnt sein muss: Dass nach einem Mord jemand nicht die Wahrheit sagt. Hat ja niemand behauptet, dass man dem Zuschauer verraten muss, wer von beiden.

https://www.youtube.com/watch?v=Til6Nt2ps9s


„Project P – Stop Het Pesten“, RTL5, Niederlande

Zwischenmenschliche Ungemütlichkeiten auf Pausenhöfen haben sich durch die technische Aufrüstung vieler Heranwachsender in den vergangenen Jahren eher verschärft. So ein Handyvideo ist schließlich schneller verschickt, als eine Aufsichtsperson „Whatsapp“ sagen kann. Der niederländische Fernsehsender RTL5 hat sich überlegt, zur Konfliktentschärfung beitragen zu wollen – kurioserweise durch technische Aufrüstung. Für „Project P – Stop Het Pesten“ kriegt ein Jugendlicher, der in der Schule gemobbt wird, eine versteckte Kamera in den Rucksack installiert, die sämtliche Schubser und Hänseleien aufzeichnet. Im Videotagebuch kommentieren die Kinder ihre Erlebnisse. Und die Eltern kriegen nachher einen Zusammenschnitt zu sehen, um – gemeinsam mit den Zuschauern – zu realisieren, welch drastische Ausmaße Schulhofmobbing annehmen kann, wenn keine Erwachsenen zuschauen.

Bis hierhin wäre „Project Bully“ (so der internationale Titel) klassisches Voyeurismus-TV, nimmt dann aber die letzte Ausfahrt Richtung Pädagogikprogramm: Am Ende kriegt die ganze Klasse das Mobbing-Video zu sehen, um bei den Schülern ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen und mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, die für die Taten verantwortlich sind (aber eher ungern hinsehen, wenn sie auf dem Bildschirm Schwächere prügeln). Das deutsche RTL arbeitet sicher schon an einer deutlich peinlicheren Version, vielleicht unter dem Titel „Mario Barth deckt auf“.

https://www.youtube.com/watch?v=nMWdWe7pBNk


„Soul Out“, noch ohne Sender, Spanien

Das hätte Goethe nicht gewollt. Aber es war am Ende bloß noch eine Frage der Zeit, bis das Fernsehen endlich „Faust – Die Show“ veranstalten würde. Bei dem in Spanien ausgedachten „Alma fuera“ („Soul out“) verkaufen Kandidaten ihre Seele per „Soulfunding“ (kein Scherz), und zwar an den wahrhaftigen Teufel: das Publikum. Jeder Teilnehmer sagt vorher, was er gerne dafür hätte: einen Ausgleich seiner Schulden, die Hochzeit seines Lebens, ein Treffen mit dem verschollenen Zwillingsbruder – also nichts, was Rudi Carrell, Linda de Mol und Peter Zwegat nicht schon vor Jahren hätten lösen können, ganz ohne lästige Zuschauerbeteiligung. Bei der geht’s nämlich vorrangig darum, die Kandidaten für die Erfüllung ihrer Wünsche ordentlich leiden zu lassen, indem man ihnen unzumutbare Aktionen zumutet.

Wer Woche für Woche die meisten Demütigungen erträgt, gewinnt vielleicht am Ende, was er begehrt. Und muss seine „Seele“ für immer ans Fernsehen abgeben. Vielleicht trifft sie da die Selbstachtung wieder, die vorher schon die Biege gemacht hat.

https://vimeo.com/108883792


Bislang erschienen:
Fernsehfernweh (1): Das hätte Goethe nicht gewollt (dieser Beitrag)
Fernsehfernweh (2): Im Rettungsboot zum Zeitvertreib

Aufmacherfoto: obs/National Geographic Channel