Wir werden nicht über Raketen reden, die in den Weltraum fliegen, sondern Fremdenlegionäre suchen, die im afrikanischen Hinterland Dienst taten. Wir werden nicht die Entscheidungen der Europäischen Weltraumorganisation ESA analysieren, sondern jene der hessischen Finanzbehörden. Wir werden wenig über die Physik von Raketen reden und viel über die Grabenkämpfe des Kalten Krieges.
Das wurde mir bewusst, als ich mich tiefer in die Geschichte des deutschen Raketenwissenschaftlers Lutz Thilo Kayser einarbeitete. Er hatte in den 1970er Jahren versucht, im Alleingang weltraumfähige Raketen zu entwickeln, sie im damaligen Zaire und in Gaddafis Libyen getestet. Sein technisches Konzept war besonders, es versprach eine im Vergleich mit den staatlichen Projekten der USA, der Sowjetunion und der Europäer unschlagbar billige Herstellung. Kayser lebt heute auf den Marshall-Inseln im Pazifik und erklärte sich bereit, den Krautreporter-Mitgliedern ein Interview zu geben. Die ESA sollte nach einem ereignisreichen Raumfahrtjahr am 2. Dezember 2014 über die Zukunft der europäischen Trägerrakete Ariane entscheiden, und dazu wollten wir ihn befragen.
Ich nannte die KR-Gruppe der Raumfahrt-Interessierten „Raketen-AG“ und wir begannen, Fragen zusammenzutragen. Die Raketen-AG findet ihr über die Links auf der rechten Seite. Zunächst ging es wild durcheinander: Technik, Geschäft, Person.
- „Wo sind die Schwachstellen seiner Entwicklung (die ja noch keiner umgesetzt hat)?” – Simon Müller
- „… inwieweit die Bündelung von Triebwerken die Vorteile der traditionellen Raketentechnik aufwiegt. Mich interessiert die Auswirkung des höheren Luftwiderstandes (die Fläche gegen den Wind wächst mit dem Quadrat des Durchmessers der Rakete) auf die aufzuwendende Energie” – Ole Bahlmann
- „… weshalb von Seiten der ESA immer noch in diese Wegwerfraketen investiert wird” – Patrick Reinke
- „Mich würde interessieren, wie der Mann mit kritischen Fragen umgeht” – Patrick Reinke
Zwischenzeitlich wollte gar Kayser selbst Mitglied der Gruppe werden, was ich abgelehnt habe. Mehr dazu steht in der Autoren-Anmerkung.
Um die ESA-Politik ging es jedenfalls ziemlich schnell nur noch am Rande. Je tiefer wir in die Materie einstiegen, desto eher passten unsere Fragen auf den Klappentext eines John-le-Carré-Krimis als in unsere kleine harmlose Facebook-Gruppe von Raumfahrt-Interessierten.
Wir fragen uns
- Hat die Bundesregierung in den 1970er Jahren Lutz Thilo Kaysers Raketenforschung zuerst gefördert und dann in einer erstaunlichen Kehrtwende aktiv hintertrieben?
- Und dafür auch Frankreich eingespannt?
- Wieso fallen im Mai 1978 kommunistische Rebellen im Kongo ein, die von Offizieren der Nationalen Volksarmee der DDR und aus Kuba beraten wurden? In genau jener Provinz, in der Kayser seine Raketentests durchführt?
- Sagte Bundeskanzler Helmut Schmidt über Kayser wirklich, dass er diesem „Kerl den Hals umdrehen könnte”?
- Wie konnte Kayser nur sehenden Auges in so einen Schlamassel geraten?
- Und danach Anfang der 1980er Jahre nach Libyen gehen, zum Paria der internationalen Politik Gaddafi?
Was wir bisher wissen
Elf Jahre nachdem die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die Überreste des NS-Raketenprogramms unter sich aufgeteilt haben, gründet Lutz Thilo Kayser als Zwölftklässler gemeinsam mit Studenten die „Arbeitsgemeinschaft für Raketentechnik und Raumfahrt an der Universität Stuttgart“. Er richtet auf dem Fabrikhof der Südzucker AG, in der sein Vater Generaldirektor ist, den nach eigenen Angaben „ersten Flüssigkeitsraketenprüfstand nach dem Kriege“ ein. Zehn Jahre lang feilt Kayser an den Triebwerken. In einem Flug kann er sie nicht erproben. Die Bestimmungen der Pariser Verträge verbieten es der Bundesrepublik, fortgeschrittene Raketentechnik zu entwickeln.
Über die Jahre, die nun folgen, haben wir noch nicht ausführlich gesprochen. Sicher ist, dass der junge Wissenschaftler Kayser an der Universität Stuttgart studiert und dort auch Vorlesungen bei Eugen Sänger hört, der für die Junkers-Werke einen Raumtransporter entwirft, der als Vorläufer des amerikanische Space Shuttle gilt. Dennoch wendet sich Kayser gegen dieses Konzept, als ihn das Bundesministerium für Forschung und Technologie 1971/1972 bittet, die Technik einzuschätzen. Sie sei „technologisch interessant“, aber „kommerzieller Unfug“. Viel zu teuer, befindet Kayser. „Es ist letztlich dasselbe Problem wie bei Coca-Cola-Flaschen. Einsammeln, Rücktransport, Waschen, Prüfen kosten weit mehr als die Massenfertigung der Einmalbüchse“, schreibt er uns in einer E-Mail.
Kayser wendet sich gegen vieles, was damals gängig ist in der Raumfahrtindustrie. Er entwickelt eine Rakete, die nach dem Lego-Prinzip funktionieren soll: Viele baugleiche Raketenantriebsmodule werden gebündelt. Die verschiedenen Antriebsstufen einer Rakete liegen nicht mehr übereinander, sondern nebeneinander. Weil die Module alle baugleich sind, ist die Fertigung sehr billig. „Es ist, als transportiere man seine Kartoffeln nun endlich mit einem Lastwagen anstatt mit einem Ferrari-Sportwagen“, schreibt Kayser.
Kaysers Kollegen aus der Raumfahrtszene kritisieren seine Idee deutlich. Der Berliner Professor Heinz-Hermann Koelle sagt: „Im Prinzip kann man eigentlich alles zum Fliegen bringen, auch Scheunentore.“ Kaysers Rakete sei wirtschaftlicher Unsinn. Auch ein Forscher aus Gießen bleibt skeptisch: „Ich wette ein Glas abgestandenes Bier gegen eine Brauerei, dass diese Rakete nicht fliegen wird – allein aus wirtschaftlichen und politischen Gründen.“
Bei diesen Statements kann Neid eine Rolle spielen, schließlich erhält Kayser mehrere Millionen D-Mark der Bundesregierung, um seine Technik zu entwickeln. Bemerkenswert ist aber, was der Gießener Professor anmerkt: „Aus politischen Gründen“ werde die Rakete nicht fliegen. Da scheint einer schon eine Ahnung zu haben, was auf Kayser zukommt.
Denn 1975 gerät das Finanzierungsmodell, das Kayser für seine Firma gewählt hat, in den Fokus der Kritik, siehe den verlinkten „Spiegel“-Artikel im Absatz oben. Hessische Finanzbehörden sollen mit darin stecken. Und ein Jahr später stoppte die Bundesregierung die Förderung seiner Technologie, schreibt Kayser, weil sich die Europäer darauf geeinigt haben, künftig mit Ariane-Raketen ins All zu fliegen.
Kayser hatte nun also eine Raketen-Technik, an die er glaubt, aber keinen politischen Kredit mehr, um sie auch testen zu können, jedenfalls nicht in Europa. Mit den Millionen, die er von privaten Finanziers eingesammelt hat, begibt er sich auf die Suche nach einem Startplatz, auf dem er seine Technik endlich auch im Flug erproben kann. Es ist physikalisch günstig, Raketen in Äquatornähe starten zu lassen, weil dann die Fliehkräfte der sich drehenden Erdkugel ausgenutzt werden können. Nicht umsonst befindet sich die amerikanische Cape Canaveral Air Force Station im südlichen Florida und der Weltraumbahnhof in Französisch-Guayana in Südamerika.
Wir wissen noch nicht genau, wie Kayser letztlich nach Zaire gelangt. Aber ein Medienbericht spricht davon, dass ein Geschäftspartner des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß den Kontakt zum damaligen Präsidenten von Zaire vermittelte. Lutz Thilo Kayser skizziert Mobutu ein „afrikanisches Cape Canaveral“ in Zaire, und es soll nur eine halbe Stunde gedauert haben, bis der Diktator einschlug. Die Otrag bezog ein unwirtliches Felsplateau in der rohstoffreichen Region Shaba. Der Deal sah vor, dass Kayser und seine Leute ein Gebiet so groß wie die DDR bis mindestens 2000 für ihre Raketentests nutzen durften; im Gegenzug sollte Mobutu Pachtzinsen von der Otrag für jeden Start erhalten. Der Vertrag war unkündbar.
Aber nur wenige Jahre später, 1979, kündigte der afrikanische Diktator den Vertrag. Was in der Zwischenzeit passiert ist, hat das Bild von Kayser und dessen Idee für die restlichen Jahrzehnte geprägt und den Pfad des Raketenpioniers bestimmt.
Das Problem ist: Wir wissen nicht genau, was in der Zwischenzeit passiert ist. Ein mögliches Szenario nach Studium der im freien Internet zugänglichen Quellen könnte so gehen:
Die Otrag beginnt, ihr Testgelände in Zaire auszubauen, schickt im Mai 1977 und im Mai 1978 erfolgreich zwei Raketen in den afrikanischen Himmel. Währenddessen hat sie die ganze Zeit indirekte Hilfe von Teilen der deutschen Bundesregierung erhalten. Dafür spricht, dass Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei einem Start in Zaire dabei gewesen sein soll und Otrag aus dem Entwicklungshilfetopf Geld bekam, um Brücken auf ihrem Gelände zu bauen.
Als aber die USA und die Sowjetunion auf die Raketenversuche aufmerksam werden und sich die Nachbarn Zaires bei der Bundesregierung darüber beschweren, distanziert diese sich zügig und mit Nachdruck. Mobutu wirft die Otrag aus seinem Land – vielleicht, weil er später von der BRD Entwicklungshilfe bekommt, vielleicht, weil belgische und französische Fremdenlegionäre eine Invasion in der Shaba-Provinz zurückschlagen und der Otrag-Rauswurf der Preis ist, den Mobutu dafür zahlen musste. Vielleicht, weil die in Afrika mächtigen Länder USA, Sowjetunion und Frankreich genug Mittel hätten, um Mobutu das Leben schwer zu machen.
In jedem Fall muss sich Kayser nun wieder nach einem neuen Startplatz für seine Raketenversuche umsehen. Wieder landet er in Afrika, wieder bei einem, der diese typische Mischung aus Polit-Genie und Schulhofschläger repräsentiert, die sehr verbreitet zu sein scheint unter afrikanischen Staatsführern. Libyens Gaddafi gewährt ihm Startplätze in der Wüste. Kayser führt mehrere Starts durch, dann wird er nach eigener Aussage 1982 enteignet, seine Technik und sein Personal werden von Gaddafi genutzt. Über seine Zeit in Libyen wissen wir in der Raketen-AG aber noch kaum etwas Konkretes. Deswegen will ich hier zunächst das Szenario beenden.
Kayser selbst sieht sich als Opfer. Er sagt, dass da seine gute Idee von den großen Mächten boykottiert wurde. Das klingt plausibel, doch Kayser ist der Geschädigte und er könnte nach so vielen Jahren auch einfach verbittert sein.
Könnte.
Wir wissen es nicht. Die Glaubwürdigkeit von Kayser hängt von den Ereignissen im afrikanischen Dschungel ab. Was danach passiert, ist wichtig, um sich ein ganzes Bild von Kayser zu machen, aber seinen Ruf in der globalen Raketen-Community zerstört die Zeit in Zaire.
Aus dem Interview mit dem interessanten Herrn Kayser ist, ihr habt es sicherlich schon gemerkt, inzwischen längst ein etwas komplexeres Projekt geworden. Wir in der Raketen AG haben uns darauf geeinigt, weiter zum Leben Kaysers zu recherchieren – und sobald wir etwas Neues erfahren, fasse ich das hier für alle zusammen. Am Ende aber würde ich gerne ein wahrscheinlich langes Porträt von Kayser schreiben, in das alle unsere Erkenntnisse einfließen. Bis dahin gibt es aber noch viel zu tun.
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Wir müssen jetzt damit beginnen, mit den Menschen zu sprechen, die Kayser auf den unterschiedlichen Stationen begleitet haben, außerdem versuchen wir nun, Dokumente wie Geschäftsunterlagen, Akten der Bundesregierung etc. zu erhalten. Wir würden uns freuen, wenn ihr mitmacht.
So könnt ihr uns helfen
Tretet der Raketen-AG bei und analysiert mit uns die Quellen und Sachverhalte. Diskutiert über neue Entwicklungen in der Raumfahrt. Naja, seid halt einfach dabei … :) Zur AG gelangt ihr über den Link in den Anmerkungen.
Überlegt, ob ihr jemanden kennt, der.
- mit der Otrag zu tun hatte, etwa als Mitarbeiter des Raketen-Prüfstandes in Lampoldshausen, des deutschen Forschungsministeriums oder anderer Behörden
- in den 1970er Jahren in der belgischen oder französischen Fremdenlegion gedient hat
- im Stab von Helmut Schmidt oder Hans-Dietrich Genscher tätig war
- sich mit der Sicherheits- und Außenpolitik von USA, SU und Frankreich in Mittelafrika auskennt
- besondere Zugänge im Kongo zu lokalen Behörden oder Persönlichkeiten hat; vielleicht zu ehemaligen Gefolgsleuten von Mobutu
Falls ihr Tipps und Hinweise habt, freue ich mich über eine Mail, gerne auch verschlüsselt. Hier findest du meinen PGP-Key mit der ID FEFB9A1C.
Aufmacher-Foto aus dem Anlegerprospekt von Kaysers Firma Otrag.