Der Clown lässt unsere Masken fallen
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Der Clown lässt unsere Masken fallen

Holger Jung ist Clown. Und einer der berühmtesten Artisten der DDR war er auch. Aber was heißt das schon, wenn für den Zirkus und sein Sammelsurium an Außenseitern kaum noch Platz ist in dieser immer perfekteren Gesellschaft?

Profilbild von Alexander Krützfeldt
Reporter

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„Wir sind gleich da“, sagt Holger, der Clown, der heute einen kleinen Zirkus-Verein leitet, während er die speckigen Stufen seines Treppenhauses hinaufstapft, als wolle er weglaufen. Auf jedem Stockwerk eine beklebte Eisentür, ein Putzeimer und mehrere Holzlatten, und im Fenster des Treppenhauses erscheint langsam die Straße – das „Eros Center“, die „Sex World“ und das „Pandora“. Schwere Polizei-Busse, die zu beiden Seiten des Viertels eine Schleuse bilden. Beamte in Schwarz. Sehen klein aus von oben, wie Soldaten-Ameisen auf Patrouille. Die Hells Angels haben hier ihren Club-Raum, hatten sie uns erklärt, als man uns stoppte, und heute ist Wandertag.

Holger Jung bleibt an einer Tür stehen. Sein Blick sagt: Wir sind da. Stolz hatte er uns die DVDs gezeigt: „Die Nacht der Prominenten“, 1987, Samstagabend, DDR1. Prime-Time. Holger, hoch oben im Zelt, in Glitzermontur. Sein Körper, ein einziger Muskel. Auch heute noch, das muss man sagen. Und wer in so einer Show mitgemacht hat, in einem Land wie der DDR, in dem der Zirkus mitsamt seiner Darsteller gefeiert wurde, wo ein Zirkus reisen durfte, nach Ungarn und Russland, wer da auftritt, der hat es wirklich geschafft. Und Holger hatte es geschafft: Ein Zirkuskind ganz oben, das Lächeln eines Gewinners auf eine silberne Scheibe gepresst, die einige Gigabyte fasst.

Seine gekrampften und krummen Finger, mit denen der 51-Jährige seinen Schlüssel aus der Tasche kramt, erzählen aber auch noch eine andere Geschichte: Und die ist nicht ganz so romantisch, sie erzählen von Leistungssport und unbarmherzigem Drill. Vom Zirkuszelt, vom berühmten Holger Jung, der 1984 mit den „Fliegenden Glorias“ die Eröffnungsshow im Friedrichstadt-Palast in Ostberlin spielte. Der als einer der wenigen weltweit den dreifachen Überschlag am fliegenden Trapez beherrschte, besser bekannt als „Salto mortale“.

„Eine besondere Gemeinschaft, so ein Zirkus“, schwärmt Holger und vergräbt seine rechte Hand tief in der Hosentasche. Wo ist eigentlich dieser verdammte Schlüssel? Seine Bewegungen wirken dabei immer ein wenig einstudiert. Grazil zwar, aber man wartet eigentlich nur darauf, dass Holger gleich wie Chaplin mit dem Kopf gegen eine dieser Holzlatten hier prallt, für einen Moment liegenbleibt und sich dann beschämt den Kopf hält. „Und unter Schaustellern mobbst du dich nicht“, fügt er an, bevor er die Tür öffnet. „Wenn jemand Ärger macht, dann fliegt er. Du leidest miteinander, du lebst miteinander. Da gibt es kein Ich. Nur ein Wir. Und das wir bedeutet: Wir, hier, alle zusammen.“

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Manchmal, wenn Holger abends nach der Vorstellung das Zirkuszelt verlassen hat, um sich etwas die Beine zu vertreten, fühlte er sich bereits draußen vor den Zeltwänden fast ein bisschen allein: „Dort heißt es immer: Ich, ich, ich. Leiste was, sonst bist du nichts“, sagt er und legt die Stirn in Falten. „Ich habe gebraucht, um darauf klar zu kommen, dass das heute Gesellschaftskonsens sein soll. Der Zirkus war ja immer auch ein Sammelbecken für Gescheiterte, Unangepasste und Außenseiter.“ Er dreht den Schlüssel im Schloss. Holger ist ein bisschen DDR-Nostalgiker, aber er hat ja recht, wenn er sagt: „Und ich habe hier immer das Gefühl, dass für ein Wir kaum noch Platz ist. Es geht immer nur noch um Geld, Geld, Geld.“ Und das war einmal anders, soll das heißen. Denn Holgers Geschichte ist auch die Geschichte der DDR-Bürger, vom Übergang des Sozialismus in den Kapitalismus. Vom Fall der Mauern im Kopf - und vom Zurückbleiben vieler Fragezeichen hinter der Stirn.

Die Mauer im Kopf fällt, die Fragezeichen bleiben

Die Mauer im Kopf fällt, die Fragezeichen bleiben Foto: Jörg Singer

Der Anfang, das hatte Holger uns erklärt, beginnt immer mit dem Schminkzeug. Wenn es auf dem Tisch liegt, dann startet ein Prozess, der aus Holger Jung aus Leipzig einen Clown macht. Dieser Ablöseprozess scheint dabei ähnlich zu sein wie der Moment, wenn man vom neuen Handy die Schutzfolie abzieht. Holger legt sich frei, Stück für Stück und Schicht für Schicht. „Schon mit dem Schminken werde ich zu einem anderen Menschen. Zu der Person, die auch bei mir wohnt und die ich den ganzen Tag mit mir rumtrage. Das ist übrigens manchmal ziemlich anstrengend.“ Kurzes verlegenes Lächeln. Nein, Holger. Keiner denkt, dass du schizophren bist. Er öffnet die Wohnungstür einen Spalt breit, ganz so, als fürchte er, wir könnten doch noch davonlaufen.

“Es gab da mal so ein tolles Lied, von Hildegard Knef. Da hat sie das gut veranschaulicht, denke ich. Aber ich weiß natürlich den Namen nicht mehr…“

Holger summt eine Melodie, bewegt die Hand, um die Oktaven zu wechseln. „Und es gibt da diese Geschichte, vom berühmten russischen Clown, weißt du. Oleg Popow“, sagt er dann. „Dem wurde direkt vor der Show gesagt, dass seine Mutter gerade verstorben ist. Er hatte aber schon sein Kostüm an! Und dann ist er natürlich raus auf die Bühne gegangen, hat zwei Stunden sein Programm durchgezogen, und als er zurückkam, da meinte er nur: Hättet ihr mir das nicht nach der Show sagen können?“ Pause. „Vielleicht nur eine Geschichte“, sagt Holger dann und macht eine Waage mit der Hand. „Aber sie trifft es wirklich ganz gut.“ Dann schiebt er die Haustür auf.

Wir hatten schon einen Dompteur, der von seinem Eisbären in der Mitte aufgeschnitten wurde, einen Trapez-Springer mit offenem Bruch in weißer Klamotte, mitten in der Manege! Vor vollem Haus. Das musst du erstmal verkraften, und glaub mir: Ende ist, wenn der Vorhang fällt. Den Springer ließ man damals einfach mit seinem ganzen Trapez rausgetragen, und der hat wirklich geschrien wie am Spieß. Aber die Leute, sie zahlen dafür, und da kannst du nicht sagen: Hey, wir brechen jetzt einfach ab. Nein. Die Show muss immer weitergehen.

„Fühlt euch bitte wie zu Hause“, sagt Holger, legt den Schlüssel ab, die Jacke auf den Stuhl. „So gut es geht.“

Schmutziges Licht fällt in langen Streifen über die Ledersofas, die Küche mit Holzvertäfelung, einen Fernseher und Masken, die aus Holz geschnitzt sind und ihre merkwürdigen Blicke bis in alle Ewigkeit nicht wechseln dürfen. Staub tanzt durch den Raum und dreht einsam seine Pirouetten vor den alten Zirkusplakaten. Holgers fetter Kater Miki, den er von einer Tabledancerin bekommen hat, und der aussieht, wie der alte, graue Bruder von Garfield, streift meine Beine und blickt auf.

Kater Miki alias Garfield der Graue

Kater Miki alias Garfield der Graue Foto: Jörg Singer

„Mal sehen“, sagt Holger, gießt sich einen Kaffee auf und betrachtet kurz seinen Kater, der auf dem Fußboden hin und her patrouilliert. „Es gibt natürlich viele verschiedene Clowns. Da gibt es den klassischen, den dummen Clown, den August, wie er heißt. Oder den Weißclown natürlich! Der ist eher so pantomimisch und spricht nicht. Mehr Mimik und Gestik. Die beiden haben natürlich auch eine besondere Wechselwirkung. Der August kriegt immer die Backpfeife.“ Für einen Moment erscheint Stan Laurel auf dem Sofa gegenüber, grinst sein dümmliches Grinsen. Oliver Hardy verschränkt die Arme vor der Brust, betrachtet seinen Freund wie einen Geisteskranken. „Ein guter Trainer ist auf jeden Fall das Wichtigste“, sagt Holger dann und reicht den Kaffee über den Tisch. „Denn es gibt ja kein Handbuch für Clowns, so wie es das für Artisten gibt. Als Clown musst du deine Rolle selbst finden, das ist ein durchaus einsamer Prozess. Kann Jahre dauern. Und manche Rollen liegen dir auch überhaupt nicht, die kriegst du nicht mit Leben gefüllt.“ Er zuckt mit den Schultern, als sei das egal. „Zirkus und Prostitution; die ältesten Gewerbe der Welt.“

„Ist es eigentlich schwieriger geworden, heute Clown zu sein?“, frage ich. Holger überlegt. „Ja, ich denke schon. Das Problem ist das, was den Clown auch ausmacht: Eine Maske schützt dich eben. Wenn ich geschminkt bin, dann sehe ich zwar durch meine Augen, aber die Maske hält mich als Holger Jung verborgen. Und ich bin dann eben Holly oder ein verirrter Butler. Du würdest das merken: Beispiel, wir spielen jetzt einen Dialog. Du würdest anders reden, auch gelöster irgendwie, wenn ich dir eine Maske gebe.“ Aber heute, und das merke er schon bei den Kindern, die er für seine Zirkus-Kurse betreut, trägt jeder seine Maske – und zwar im Alltag. „Jeder will sich dauernd schützen. Wir sind Manager in eigener Sache geworden. Es will auch keiner mehr was sagen – also eine Meinung haben oder mal auf den Tisch hauen – denn dann ist man ja angreifbar! Alle sind so übervorsichtig und kontrolliert. Für einen Clown ist das sehr schwer“, meint Holger. „Denn meine Aufgabe ist es ja, den Leuten ihre Maske zu zeigen. Und im besten Fall schaffe ich es, dass sie durch meine ihre eigene Maske vergessen.“

Ich hatte mal einen Zwei-Stunden-Auftritt als Clown bei einer Sparkassen-Eröffnung. Da kam der Vorstand, trank Champagner, und nach der Vorstellung, kurz bevor die in ihrer Limo davonbrausten, klopft mir einer der hohen Herren da auf die Schulter und sagte: Ja, ja. Wir sind doch alle irgendwie Clowns, nicht wahr? Wir tragen nur unterschiedliche Masken! Dann hat er gelacht: Wähääähähääähää!

„Und das meine ich“, sagt Holger. „Denn es ist ja durchaus richtig, was der Sparkassen-Mann gesagt hat. Wir tragen alle unsere Maske. Weil ich für sie als Clown eine Kunstfigur bin, sind Menschen in meiner Gegenwart ehrlicher. Kinder nicht, die sind eh ehrlich: Die gucken dich ein paar Minuten an und sagen dann: Mama, der Clown ist aber scheiße.“ Holger zieht eine Zigarette aus der Packung, grinst vergnügt. „Die Clowns-Maske macht auch, dass Menschen sich trauen, Gefühle zu zeigen, was sie sich sonst nicht trauen.“ Aber Comedy und Fernsehen drohen, diese feine Abmachung zwischen Unterhalter und Unterhaltenem, die wie eine Balance ist, zu zerstören.

„Die Kinder kommen heute schon mit schicken Klamotten und Streicheltelefon in die Manege. Und die sind in der Schule der Boss, zu Hause alles im Griff. Aber das ist ja alles Image“, erklärt Holger und stößt einen Rauchschwall aus. „Die Eltern haben ja auch kaum Zeit für ihre Kinder, weil sie im Beruf funktionieren müssen und als Eltern eben auch. Die Kinder schicken sie dann auch nicht in Artistik-Kurse, die sollen lieber eine Fremdsprache oder ein Instrument lernen. Das bereite sie effektiver auf ihr Leben vor, heißt es dann. Überall wird dieses Diktat verbreitet, dass man funktionieren und etwas leisten soll. Je mehr, desto besser. Aber ist dies wirklich das Einzige, was einen Menschen glücklich macht? Erfolgreich zu sein? Geld zu haben? Ich glaube nicht. Ich bin auch mit einem Bauwagen am Stadtrand sehr glücklich. Was brauchen wir Menschen schon zum Leben? Einen gesunden Geist, Bewegung, Gesundheit, Liebe. Wir reden uns nur immer ein, dass es doch mehr sein müsste.“

Holger schüttelt den Kopf, fasst sich an die Stirn. Alles leicht theatralisch natürlich.

„Die Kinder stehen so unter Erfolgsdruck heutzutage. Sie müssen dauernd noch die Rolle des Starken, des Unverwundbaren und Coolen spielen. Klar werden die dann auch irgendwann zunehmend aggressiv. Die merken halt, dass das unendlich viel Arbeit macht, diese Fassade aufrecht zu erhalten. Und es frustriert sie auch, wenn es nicht gelingt. Zum Beispiel, wenn Erfolgserlebnisse oder Anerkennung ausbleiben.“

"Behinderte tragen keine Maske"

“Behinderte tragen keine Maske” Foto: Jörg Singer

Holger führt den Finger kurz an die Lippe, denkt. „Ich arbeite ja auch viel mit Behinderten. Und die haben das nicht, die tragen keine Maske. Denn es lohnt sich für sie nicht, und vielleicht haben sie es auch nie gelernt. Das sind fröhliche, lebensfrohe Menschen. Die schließen einen plötzlich in den Arm, murren, wenn ihnen etwas nicht passt. Und das finden wir anderen Menschen schon so auffällig, dass wir, wenn man den Kontakt mit diesen Menschen nicht gewöhnt ist, instinktiv vor diesen aufbrausenden und unkontrollierten Emotionen zurückweichen. Wenn den Eltern die Zeit für ihre Kinder fehlt - das ist nur meine Meinung - und wenn Kinder sich dann ihre Werte über das Fernsehen holen, weil sie damit sonst vielleicht nicht in Kontakt kommen, dann haben diese Werte meist nur etwas mit Geld zu tun. Und damit, makellos und erfolgreich zu sein. Da werden kleine Menschen völlig über das Materielle erzogen, über Werbung und Serien und so. Aber um ein guter Mensch zu werden, dafür brauchst du kein Telefon und auch keine guten Klamotten…“ Das Materielle, meint Holger, mache uns erst unterschiedlich.

Ich betrachte die Plakate, die über seinen Sofas hängen. Sie berichten von fernen Städten, aus einer Zeit, als Städte noch fern sein konnten und Raubtiere exotisch. Damals, als das Großraumkino noch nicht um die Ecke lag und ein Flugticket teurer war als 50 Euro. „Wenn es den Leuten schlecht geht, nach Kriegen oder Rezessionen, dann sprießen überall die Varietés aus dem Boden“, sagt Holger, raucht eine Weile, während ich die Programme betrachte. „Kommen Sie näher“, rufen sie. „Lassen Sie sich verzaubern vom Einäugigen Riesen! Heeeerrrreeeeiiiinspaziert!“

Es wirkt, das muss man sagen, wirklich nicht so, als könnte das alles einfach wiederkommen. Die Diskussion über Tierhaltung, der Zirkus als Relikt der analogen Vergangenheit, als Überbleibsel aus einer Zeit, als „Wetten dass …?“ noch samstagabends zum festen Programm der Bundesrepublik gehörte. Die Welt von heute scheint im krassen Kontrast zu dem französischen Programm zu stehen, von Belle Époque und Art déco. Alles zusammen begraben im Schutt der Geschichte.

… immer in solchen Phasen hatte Humor ja praktisch immer Hochkonjunktur. Wenn alles in Trümmern liegt, sehnen sich die Leute nach ein bisschen Unterhaltung. So gesehen ist das schon ein sehr krisensicherer Job, Clown zu sein!

Holger reißt mich aus meinen Gedanken: „Es gibt auch Clowns, die schreien, übrigens. Weil du eben nach den verschiedenen Clowns gefragt hast. Mein Stil ist das aber nicht, ich bin eher so der sensible, der introvertierte und feine Clown. Dieses Geschrei gibt es ja im Fernsehen genug. Gags unter der Gürtellinie. Und das Ganze. Das versaut doch die Leute. Irgendwann ist man so überreizt, dann verliert man das Gespür für die schöne Kunst und den feinen Humor. Und wir verlieren da auch ein bisschen uns selbst als Menschen. Als Charakter. Gags auf Kosten anderer, das ist das Schlimmste, was du als Clown machen kannst“, sagt Holger und Miki, der Kater, zwinkert mir zu.

Miki: Ich komme mir manchmal auch wie ein Fossil vor.
Ich**:** Warum kommst du dir wie ein Fossil vor, Miki?
Miki**:** Weil die Zeit vergeht, und man sich immer fragt, wo alles geblieben ist. Manchmal wäre ich gern wieder eine kleine, unbedarfte Katze mit großen Augen.
Ich**:** Ach, Miki. Du bist doch in jedem Fall eine außergewöhnliche Katze!
Miki**:** With A Little Help From My Friends.

Holger blickt mich an. Schaut, ob ich aufgepasst habe. Redet dann aber einfach weiter.

… das heißt aber auch, dass du jeden Gag und jede Komik immer wieder auf dich zurückbeziehen musst. Man darf es nicht abladen bei anderen Leuten, das ist unfair, das ist nicht kunstvoll. Und die Leute fühlen sich schlecht dabei. Das Fernsehen und diese ganzen witzigen Shows. Was auch immer. Das ist nur aggressiver Spaß. Mit Kunst hat das nichts zu tun.

Nach der Wende bricht Holgers Zirkusgemeinschaft auseinander, Athleten werden erstmal nicht mehr gebraucht. Er und seine Kollegen verstreuen sich in alle Himmelsrichtungen. Holger, der zu dieser Zeit mit der berühmtesten Ballerina des Ostens, „der schönsten Frau weit und breit“, zusammen ist, wie er sagt, geht nach Berlin, um „mal richtiges Geld mit richtiger Arbeit zu verdienen“.

Er ist Kellner. Leitet einen Copyshop. Schleppt Kohlensäcke am Prenzlauer Berg, bis nach kurzer Zeit sein Chef zu ihm sagt: „Die Säcke sind doch fast doppelt so schwer sind wie du selbst. Das kann ich mir nicht angucken!“ Dann entlässt er Holger, dessen Beziehung geht zu Bruch, seine Ballerina verlässt ihn und er gerät an zwielichtige Gestalten und deren Geschäfte. Aber das Geschäft läuft nicht, und seinen 40. feiert Holger daraufhin in Moabit. In der Zelle, die er sich mit einem Bankräuber teilt.

„Danach wusste ich eins“, sagt Holger triumphierend und zündet sich eine weitere Zigarette an. „Mit Zahlen kann ich nicht!“ Um das Jahr 1999 beginnt er als Artistenbetreuer am Friedrichstadt-Palast und kehrt zurück in die Manege.

Man sage übrigens zu recht: Wenn der Clown abgeschminkt ist, ist er meistens traurig und alleine. „Da gibt es ja auch viele Lieder dazu“, meint Holger. „Und das ist wirklich so: Man fällt tatsächlich erstmal in ein Loch, wenn man wieder abgeschminkt ist. Einerseits ist Freude- und Spaßbringen sehr anstrengend, vor allem, wenn dir vielleicht gerade selbst gar nicht nach Lachen ist. Vielleicht denkst du: Leute, guckt euch doch mal um! Was soll denn hier zum Lachen sein, bitteschön?“ Und das sei es, das große Dilemma, der große Zwiespalt der Clowns, einer Figur, die Tragik und Komik stets vereint. Denn nur wer die Abgründe kennt, kann sie auch darstellen, sagt Holger. „Wenn dich zum Beispiel jemand bei einer Behörde, bei der du dich für das Finanzielle melden musst, fragt: Was, Herr Jung, und mit sowas kann man wirklich Geld verdienen?“ Holger wirkt deprimiert, während er sich an dieses Beispiel erinnert. Das „sowas“ in dem Satz, es hatte ihm wirklich wehgetan.

Eigentlich, denke ich, ist der Clown lustig, weil er ein Außenseiter ist, bei dem es immer noch bergab geht, wenn er schon ganz unten ist. Der Clown baut uns auf in seinem Dilemma – und lässt uns besser dastehen. Und sei es nur, weil ihm seine Klamotten nicht passen, keiner etwas mit ihm zu tun haben will und er sich dauernd wehtut. Und allein ist er natürlich auch und meist ohne Geld.

"Mit dem Schminken werde ich zu einem anderen Menschen"

“Mit dem Schminken werde ich zu einem anderen Menschen” Foto: Jörg Singer

„In manchen großen Zirkussen kommt der Clown ganz am Ende nochmal in die Manege“, sagt Holger und blickt zum Fenster, dann auf Miki, während seine Stimme langsam ins Sentimentale abgleitet. „Er setzt sich dann alleine nach vorne, auf einen Hocker und schminkt sich ab. Das Licht geht an, die Musik hört auf, aber die Zuschauer gehen nicht. Denn jemand entkleidet sich seiner Maske“, sagt Holger Jung, der Clown. „Und das ist etwas Magisches, es ist das Ende. Es ist der Abschluss einer Verwandlung. Wie der Gag, der wieder zu sich zurückkommt, ist die Show jetzt wieder bei sich.“ Und erst dann verlassen die Zuschauer die Manege, einen Ort, denn sie auf der Suche nach ein bisschen Magie im Alltag aufgesucht und gefunden haben. Der Ansager zieht das Glitzerjacket aus, die Raubtiere wandern zurück in ihre Käfige, und die Show, sie träumt auf ihrer dunklen Fahrt gen Süden von morgen. Von einer neuen Stadt, und, wer weiß… auch neuen Menschen vielleicht.


Aufmacher-Foto: Jörg Singer

Der Text wurde gesprochen von Alexander Hertel von detektor.fm