Das Jahr der Verteidigungsarmee
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Das Jahr der Verteidigungsarmee

Weniger Einsatz im Ausland macht die Bundeswehr nicht kleiner und billiger: Die neue Konzentration auf den Verteidigungsauftrag in der NATO wird die Truppe noch mehr fordern.

Profilbild von Thomas Wiegold

Die Zahl dürfte ein – inoffizieller – Rekord für die deutsche Luftwaffe sein: 33 Mal stiegen ihre Eurofighter-Kampfjets zwischen September und Jahresende 2014 von der estnischen Basis Ämari auf, um russische Kampfflugzeuge im internationalen Luftraum an den Grenzen der NATO zu identifizieren. Da die deutschen Besatzungen immer eine Einsatz- und eine Trainingswoche abwechselnd absolvierten, bedeutete das für die gerade beendete deutsche Mission bei der NATO-Luftraumüberwachung des Baltikums vier Alarmstarts in jeder Bereitschaftswoche.

Der deutsche Einsatz an der Nordflanke der Allianz ist ein Zeichen für das, was der Bundeswehr im neuen Jahr bevorsteht: Die Planung des westlichen Militärbündnisses, in seinen östlichen Mitgliedsländern an der Grenze zu Russland stärker als bisher Abschreckung zu demonstrieren, wird auch die deutschen Streitkräfte ganz anders fordern als in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Nach deutlicher Reduzierung der Bundeswehr – von knapp einer halben Million Soldaten noch Anfang der 1990er Jahre auf inzwischen weniger als 200.000 – und dem faktischen Umbau zu einer Armee für Interventionen in Auslandseinsätzen zeichnet sich eine Rückbesinnung auf eine Verteidigungsarmee ab – nicht in erster Linie zur Verteidigung deutschen Territoriums, sondern zur Verteidigung des Bündnisgebiets.

Das bedeutet nicht, dass die internationalen Krisen weniger werden – und auch bei Weitem nicht, dass die erwartbaren Ansprüche an eine deutsche, auch militärische Beteiligung zurückgehen. Ende Januar wird der Bundestag voraussichtlich die geplante Ausbildungsmission für Kurden im Nordirak billigen, die für den Kampf gegen die islamistischen ISIS-Milizen trainiert werden sollen. Auch andere Brennpunkte wie Libyen oder der Südsudan zeichnen sich ab. Doch als Folge der Ukraine-Krise und der geänderten Haltung der NATO zu Russland rückt die demonstrative Rückendeckung für die osteuropäischen Mitgliedsländer des Bündnisses wieder stärker in den Vordergrund.

Verteidigung bedeutet nicht Abrüstung

Das scheint politisch wie organisatorisch nur vordergründig kein Problem. Schließlich sieht das Grundgesetz als wichtigste Aufgabe der Bundeswehr die Verteidigung vor („Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“). Doch auch wenn von Gegnern der Auslandseinsätze, in der Opposition ebenso wie in Teilen der Regierungsparteien und erst recht in der Öffentlichkeit, immer wieder die Abkehr von Missionen außerhalb des NATO-Gebiets gefordert wurde: Die Konzentration auf eine Verteidigungsarmee bedeutet nicht - da liegt ein großes Missverständnis vor - eine großangelegte Abrüstungskampagne der Bundeswehr.

Denn selbst wenn die deutschen Soldaten sich komplett aus Auslandseinsätzen zurückzögen (was ohnehin nicht absehbar ist) und die Bundeswehr ausschließlich die Landes- und damit verbunden die Bündnisverteidigung innerhalb der NATO-Grenzen als ihre Aufgabe ansähe: Die Vorstellung, damit wäre eine kleinere, billigere und praktisch auf den Dienst in der Kaserne beschränkte Truppe absehbar, ist eine realitätsfremde Utopie.

Schon mit ihrem Schrumpfungsprozess seit 1990 haben die deutschen Streitkräfte nicht nur die Zahl der Soldaten, sondern auch den Umfang ihres Kriegsgeräts deutlich verringert: Weniger Flugzeuge, weniger Schiffe, weniger Panzer. Ganze 225 Kampfpanzer, so sieht es die – bislang noch gültige – sogenannte Großgeräte-Liste des früheren Verteidigungsministers Thomas de Maizière vor, sollen künftig in vier Bataillonen bereit stehen. Vor dem Ende des Kalten Krieges waren es mehr als zehn Mal so viel.

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Zwar plant niemand ernsthaft, die Truppe wieder auf den Stand des Kalten Krieges hochzurüsten. Doch die – fast könnte man sagen - Rückbesinnung auf eine auf Europa fokussierte Verteidigungsarmee wird in diesem Jahr deutlich machen, was die Bundeswehr ebenso wie andere europäische Verbündete in den vergangenen Jahrzehnten bewusst aufgegeben hat.

Zum Beispiel die Fähigkeit, eine bereitstehende Truppe schnell an jeden möglichen Einsatzort zu transportieren – nicht etwa irgendwo am Hindukusch oder in Afrika, sondern innerhalb der europäischen NATO-Grenzen. Nachdem die Staats- und Regierungschefs der Allianz Anfang September vergangenen Jahres auf ihrem Gipfel in Wales eine „sehr schnelle Eingreiftruppe“ beschlossen hatten, fingen die Kommandobehörden und Stäbe an zu rechnen. Dabei entdeckten sie sehr schnell, was ihren Streitkräften inzwischen fehlt.

Allein um eine schnelle Eingreiftruppe von rund 4.000 Soldatinnen und Soldaten quer durch Europa zu verschieben, wären 450 Flüge mit den großen Militärtransportern des Typs Boeing C-17 nötig. Doch von diesem Flugzeugtyp haben nur wenige europäische NATO-Länder einige Exemplare – ohne Hilfe der USA wäre die schnelle Verlegung gar nicht möglich. Noch kritischer sieht es beim Transport der schweren gepanzerten Fahrzeuge aus, auf die diese Eingreiftruppe angewiesen wäre: Die längst privatisierte Deutsche Bahn hält, wie auch die Bahnunternehmen anderer Länder, kaum noch die entsprechenden Unterflurwagen in ihrem Fuhrpark bereit. Und selbst die Autoreisezüge, die in früheren Zeiten als Transportmöglichkeit für kleinere Militärfahrzeuge mit eingerechnet war, haben ihren Dienst praktisch eingestellt.

Der schnelle Transport, im Militärjargon die „Verlegefähigkeit“, ist nicht das einzige Problem für Einheiten, die überall im NATO-Gebiet rasch einsetzbar sein sollen. Der Plan der NATO, eine „Speerspitze“ innerhalb weniger Tage aus den Heimatgarnisonen an jeden Ort innerhalb der Allianz zu schicken, setzt auch voraus, dass die dafür vorgesehenen Soldaten entsprechend innerhalb kurzer Zeit bereitstehen – und dass nicht durch Lehrgänge oder Urlaub ein Bataillon erst einmal Wochen braucht, um das nötige Personal zusammenzubringen.

Wie das alles funktionieren soll, will das Bündnis deshalb in diesem Jahr ausprobieren, mit massiver deutscher Beteiligung. Zusammen mit den Niederlanden und Norwegen bot Bundeswehr-Generalinspekteur Volker Wieker Anfang Dezember vergangenen Jahres der NATO an, den Testlauf für die schnelle Eingreiftruppe mit den Einheiten zu erproben, die ohnehin für die bereits bestehende Eingreiftruppe „NATO Response Force“ (NRF) vorgesehen sind. Für diese seit Jahren bestehende, aber nie eingesetzte Formation hatte die Bundeswehr schon in der langfristigen Planung rund 4.000 Soldaten für das Jahr 2015 zugesagt.

Eingreiftruppe mit massiver deutscher Beteiligung

Die Außenminister des Bündnisses nahmen das Angebot gerne an. Ab Anfang dieses Jahres, so beschlossen sie Anfang Dezember in Brüssel, solle die Zwischenlösung für die „sehr schnelle Eingreiftruppe“ unter anderem mit massiver deutscher Beteiligung ausprobiert werden. Genauere Planungen allerdings wollen erst die Verteidigungsminister der Allianz bei ihrem Treffen Anfang Februar vereinbaren.

Absehbar ist aber schon jetzt, dass demnächst das deutsche Panzergrenadierbataillon 371, die „Marienberger Jäger“ aus Sachsen, zusammen mit Niederländern und Norwegern testen wird, ob und wie die NATO schnell Truppen demonstrativ an die Grenzen ihres Gebiets bringen kann. Im Mai sollen sich die Soldaten mit ihren Schützenpanzern auf dem Truppenübungsplatz Munster in Niedersachsen einfinden, im Juni dann den Transport nach Polen proben. Ein weiteres, größeres Manöver des Deutschen Heeres ist für den Herbst ebenfalls in Polen geplant.

Der vergleichsweise bescheidene Umfang der vorgesehenen Übungen mit der künftigen NATO-„Speerspitze“ dürfte allerdings nur ein Teil dessen sein, worauf sich die Bundeswehr mit dem neuen Schwerpunkt Landes- und Bündnisverteidigung einstellen muss. Denn noch ist nicht sicher, wie sich die veränderte Perspektive auf die langfristige Planung der deutschen Streitkräfte auswirken wird. Schon im vergangenen Jahr tauchten, recht überraschend, in der Haushaltsplanung zusätzliche 131 Transportpanzer „Boxer“ fürs Heer auf.

Und im Bundestags-Verteidigungsausschuss sprachen sich die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen schon mal dafür aus, auch über die Zahl der Kampfpanzer nachzudenken: „Die weltweite sicherheitspolitische Lage hat sich deutlich verschärft. In diesem Zuge legt die NATO verstärktes Augenmerk auf die Kernaufgabe Bündnisverteidigung. Auch Deutschland ist hierbei besonders gefordert. Die Bundeswehr ist vor allem bei den landbasierten Kräften leistungsfähig, insbesondere bei den gepanzerten Kräften. Der bisher ausgeplante Kräfteansatz von 225 Kampfpanzern Leopard ist den neuen Entwicklungen nicht mehr angemessen.“

Die Rückkehr zur Verteidigung Deutschlands und seiner Verbündeten als künftige Schwerpunkt-Aufgabe der Bundeswehr: Das wird, soviel scheint sicher, nicht weniger Militärisches bedeuten. Auch wenn das denjenigen, die immer auf den hauptsächlichen Grundgesetz-Auftrag deutscher Streitkräfte verweisen, vermutlich so noch nicht klar ist.


Aufmacherfoto: Bundeswehr/Jörg Koch (Das Bild zeigt den Bundeswehr-Kampfpanzer Leopard 2 A6 im November 2014 auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr.)