Zu Gunther von Hagen und seinen plastinierten Leichen hat wahrscheinlich jeder eine Meinung. Kerstin Decker sicher auch, in ihrer Reportage „Das Flüstern der Ewigkeit“ (Tagesspiegel 2014) versucht sie aber (dennoch), sich dem Thema so neugierig, so unbefangen wie möglich zu nähern.
Das klingt angesichts der Form „Reportage“ wie eine Binse - es scheint aber doch oft schwerer zu sein als gedacht.
Ich rechne ihr hoch an, dass sie auf Ironie verzichtet, obwohl das Sujet diese nahelegt. Jeder Leser liebt ironische Texte - sie gut zu schreiben, ist schon schwer, auf sie zu verzichten, noch schwerer.
P.S.: Die Überschrift finde ich doof. Hat die ein Redakteur auf die Schnelle gemacht?
Hier staunt man zunächst: Wie, das gibt’s?!
(Man ist ja immer dankbar, wenn man Gelegenheit zum Staunen bekommt. Zu selten.) Zumal wenn der Autor Björn Stephan es schafft, seinen Text „Der Stumpf“ (SZ-Magazin 2014) mit so viel Empathie wie Anti-Sentiment gleichermaßen aufzuladen wie hier. Man ahnt, wie ein schwächerer Journalist mit dem Phänomen BIID und diesem speziellen Fall umgegangen wäre: voyeuristisch und deutlich weniger lakonisch als Stephan.
Toll auch, dass die Frage „Finden Sie sich egoistisch?“, die man sich als Leser beantwortet wünscht,ganz am Schluss tatsächlich kommt. Und an dieser Stelle keinerlei moralischen Unterton mehr hat, sondern nur Interesse an diesem einen Menschen ausdrückt - wie der ganze Text.
Ein Highlight.
Schon dem ersten Satz merkt man die Energie an, die den Text bis zum Schluss vorantreiben wird.
Stefan Willeke scheint in seiner Reportage „Der Mann, den sie Ronny nannten“ (Zeit Magazin 2014) einfach nur aufzuschreiben, was er - glänzend - recherchiert hat: „Ich wähle die Telefonnummern und mache Termine aus“. Einerseits .
Dann wird er aber ganz plötzlich überraschend persönlich, ja emotional: „Ich frage mich: Für wie blöd hält Pofalla Journalisten?“
Aus dieser Gespanntheit bezieht der gesamte Text eine enorme Kraft, ja Härte.
Ulrich Matthes, geboren 1959 in Berlin, ist einer der renommiertesten Schauspieler Deutschlands. Er gehört zum Ensemble des Deutschen Theaters in Berlin und wurde mehrfach als „Schauspieler des Jahres“ ausgezeichnet. Matthes, dessen Vater Chefredakteur des „Tagesspiegels“ war, ist als ebenso begeisterter wie besessener Zeitungsleser bekannt.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration: Veronika Neubauer