Ich habe lange überlegt, was eine Reportage haben muss, damit sie mir richtig gut gefällt. Zuerst fand ich, dass sie traurig sein muss, tragisch und relevant. Dann dachte ich, nein, die Kunst besteht darin, leicht zu sein und locker, vielleicht sogar lustig. Schließlich fiel mir mitten in der Nacht ein, dass ich etwas ganz anderes wirklich wichtig finde: Sie darf nicht langweilig sein, auch nicht in Zeile 532.
Es ist egal, worum es geht, so lange ich beim Lesen gar nicht dazu komme, mich zu fragen, wie viel Text ich noch vor mir habe oder immerzu denke „Oh Gott, nimmt das kein Ende“. Wenn sie toll ist, geht es mir mit einer Reportage wie mit einem Buch. Ich wünsche mir ungefähr ab der Hälfte, dass nicht so schnell Schluss ist, und ab dem letzten Viertel lese ich absichtlich langsamer. Wenn sie dann doch zu Ende ist, bin ich immer ein bisschen traurig.
Arno Frank: „So, und jetzt kommst du“ (Dummy 2014). Geschichte einer völlig verkorksten Kindheit mit irren Eltern und schrecklichen Erlebnissen – und trotzdem keine Opfergeschichte, sondern ein Abenteuer, um das ich Arno Frank, der das alles wirklich erlebt hat, am Ende fast ein bisschen beneidete – und das liegt ganz sicher nicht an den Erlebnissen, sondern daran, wie er sie beschrieben hat.
Benjamin von Stuckrad-Barre: „Wa“ (Tempo 2006). Seit fast 20 Jahren lebe ich in Berlin, und es war mir immer ein bisschen peinlich. Dreckig, arm, verfilzt - deswegen. Vor kurzem las ich diesen uralten Text. Ich habe eine halbe Stunde lang vor mich hin gelacht - und am Ende war es so, dass ich Wowereit, Berlin und sogar Benjamin von Stuckrad-Barre total toll fand, obwohl ich den gar nicht kenne.
Britta Stuff. Sie ist die Beste. Ihre Texte sind immer anders, immer überraschend, entweder in der Form oder im Inhalt, meist aber in beidem. Ich habe lange nachgedacht, welche ihrer Reportagen meine liebste ist, konnte mich aber nicht entscheiden. Am Ende habe ich gelost und diese hier gezogen: „Herr Schröder will es allen zeigen“ (“Welt am Sonntag”, 2011).
Kathrin Spoerr, geboren 1965 in Kühlungsborn, ist Reporterin bei der „Welt“ und Autorin mehrerer Bücher. Im April erscheint ihr erster Roman „Nach Feierabend“, den sie mit zusammen mit Britta Stuff schrieb.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit Reportagen.fm
Illustration: Veronika Neubauer