Anahitas Agent hatte ihr geraten, ihr Glück in den USA zu suchen – ihr „Typ“ komme dort gerade in Mode. Hinterher konnte Anahita sich nicht mehr daran erinnern, wie es überhaupt dazu kam, dass sie in den Jumbo-Jet stieg und nach Los Angeles flog. Sie muss wahnsinnig gewesen sein, dachte sie später.
Während des elfstündigen Fluges hatte Anahita dank dem großzügig ausgeschenkten Gin Tonic ihrer Fluggesellschaft tief geschlafen. Sie wachte erst auf, als das Flugzeug bereits über der riesigen Stadt kreiste. In Los Angeles angekommen, hat sie das kompromisslose Blaue des Himmels und die Armut in den Stadtteilen nahe dem Flughafen fasziniert: Obdachlose, gekleidet in mehrere Schichten von Fetzen, hausten unter Brücken, wo sie aus Plastiktüten, Einkaufswagen und Pappe ein Flüchtlingslager gebaut hatten. Manche trugen rote Mützen, die Weihnachtsmänner imitierten. Es war eine Parallelgesellschaft, die niemanden interessierte.
„Kein gutes Omen“, dachte Anahita und kurbelte das Fenster ihres Taxis hoch. Der Fahrer sprach Englisch mit einem Akzent, den Anahita weder zuordnen noch verstehen konnte. Dennoch redete er während der Fahrt pausenlos auf sie ein.
Ihr Taxi blieb vor einer neugebauten Wohnanlage stehen, der Fahrer stellte ihre beiden Koffer ungeduldig auf dem Bürgersteig ab und fuhr schnell davon. Die Sonne schien erbarmungslos auf Anahitas blasse Arme.
Der Concierge überreichte ihr die Schlüssel und führte sie im Eiltempo durch ihr neues Zuhause: Die einzelnen Apartments waren wie eine Wabe um einen Pool angeordnet, Anahitas Wohnung hatte zwei Zimmer – eins davon war ein an die zwanzig Quadratmeter großes Wohnzimmer, mit einem großzügigem Sofa in der rechten Hälfte des Zimmers, neben einem Plasmafernseher. Ein langer Esstisch, der von vier Plastikstühlen umgeben war, und eine offene Küchenecke befanden sich gegenüber. Das Schlafzimmer war klein und fensterlos, und die Wände waren so dünn, dass Anahita die Toilettenspülung ihrer Nachbarn hören konnte. Es war die richtige Wohnung, um eine Depression zu bekommen.
Die nächsten Wochen verbrachte Anahita damit, von einem Casting zum nächsten zu fahren. Es waren ganz unterschiedliche Rollen – eine Nebenrolle in einer Serie, Werbespots, die Hauptrolle für einen Science-Fiction-Film, ein High-School-Musical und sogar ein Film über den Spartakusaufstand standen auf ihrer Agenda. Doch all diese Rollen hatten eins gemeinsam – so sehr Anahita sich auch bemühte, sie bekam keine einzige.
Sie hatte es auch nicht geschafft, jemanden in dieser Stadt kennenzulernen. Ohne Zweifel waren die Amerikaner liebreizend, es war zwar nicht schwer, bei einem Vorsprechen mit jemandem ins Gespräch zu kommen, nur konnte sich aus einer Konkurrenz nur schwer eine Freundschaft entwickeln. Auch war sie nicht der Typ, jemanden im Café, Kino oder in einem Buchladen anzusprechen, natürlich wurde sie nicht selten selbst angesprochen – allerdings war sie nicht auf der Suche nach Sex. Manchmal ließ sie sich dennoch drauf ein, aus Mangel an sozialen Kontakten.
Anahita fing an, ziellos im Auto umherzufahren. Sie fuhr vorbei an niedrigen Häusern und blühenden Gärten, Supermärkten und Motels, mit riesigen Werbetafeln, Coffee-Shops und Drug-Stores. Die kalifornische Sonne bekam in der Weihnachtszeit einen gräulichen Einschlag. Anahita fing an, die Bewohner der ihr noch immer unbekannten Stadt zu beobachten: Die meisten wollten tatsächlich ins Show-Business, oder zumindest kam es Anahita so vor, während sie andere entlang der breiten Boulevards joggen und ihre Muskeln in den Fitness-Studios stählen sah. Sie fing an, sich mit ihnen zu vergleichen, vielleicht war ihr Körper der Grund dafür, dass sie nur Absagen bekam. Täglich, kurz nach sieben Uhr morgens, bevor die Sonne zu stark wurde, stand Anahita auf und lief zehn Kilometer, am Abend fuhr sie ins Fitnessstudio und trainierte an den Geräten. Immer wieder kam sie an den Obdachlosen vorbei, manchmal steckte sie einem einen Dollar zu, versuchte, nicht in das verwüstete Gesicht zu schauen, während ihre Augen sich doch voller Faszination festhielten. Unwillkürlich hielt sie sogar den Atem an – nicht, weil die Menschen anders rochen, es war vielmehr ein Reflex der Unmenschlichkeit.
Eines Tages fiel Anahita ein altes Schild auf, das für eine Zoohandlung warb. Anahita parkte und betrat den Laden, der groß und hell war. Die Regale waren mit Hunde- und Katzenfutter vollgestellt, in den Gängen waren die Dosen sogar zu Pyramiden aufgetürmt, weiter hinten standen die Käfige mit Kanarienvögeln, kleinen Welpen und Kätzchen.
Dann sah sie ihn. Dem kleinem Affen hatte man eine Windel umgewickelt und ein rotes Piratentuch um seinen Hals. Er hatte sehr kluge, kugelrunde Augen und kleine Hände, die er sofort durch die Gitter seines Käfigs nach Anahita ausstreckte. Er wendete seinen Blick nicht von ihr ab, und es schien ihr, als ob sie seit langem wieder von jemanden tatsächlich angeschaut werde. Er erinnerte sie an ihren Großonkel, Abbas, der einst versuchte, ihr Anstand beizubringen. Anahita benannte den Affen nach ihren Onkel und nahm ihn mit nach Hause.
Da sie die Bedürfnisse eines Äffchens nicht wirklich kannte, hielt sie bei einem Kinderladen an, kaufte ein Babybett mit extra hohen Gitterstäben, eine Familienpackung Windeln und ein wenig Spielzeug. Vorsichtshalber nahm sie auch einen Erziehungsratgeber mit, da sie vor Jahren den Bericht eines Forscherehepaares gelesen hatte, die einen Schimpansen zeitgleich mit ihrem Sohn aufzogen – im ersten Lebensjahr unterschieden die beiden Gattungen sich kaum voneinander. Das Paar an der Kasse vor ihr stritt wegen Weihnachtsgeschenken.
Die Schrifstellering Olga Grjasnowa wurde 1984 in Baku geboren.
Illustration: Veronika Neubauer